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Plötzlich meldete sich Pendergast zu Wort. »Das ist doch keine Art, eine Lady zu behandeln.«

Tiny drehte sich blitzartig zu ihm um. »Keine Art, eine Lady zu behandeln? Ich finde, das ist eine tolle Art, scheiße noch mal!«

Ein Chor der Zustimmung erklang. Hayward blickte in das Meer der roten, schwitzenden, gierigen Gesichter.

»Interessiert es Sie überhaupt, was ich glaube?«, sagte Pendergast. »Ich glaube, Sie sind ein Schwein mit dickem Embonpoint.«

Tiny blinzelte. »Ein was?«

»Eine fette Sau«, sagte Pendergast.

Tiny holte mit seiner fleischigen Faust aus und versetzte Pendergast einen Fausthieb in den Solarplexus. Der Agent keuchte auf und beugte den Oberkörper. Tiny schlug ihm noch mal auf die gleiche Stelle, Pendergast sank auf die Knie und bekam kaum noch Luft.

Tiny blickte verächtlich auf Pendergast hinunter und bespuckte ihn. »Das dauert mir viel zu lange«, sagte er. Dann packte er Haywards Bluse und riss mit einem kräftigen Ruck die restlichen Knöpfe ab.

Aus den umgebenden Booten erhob sich ein Sturm der Zustimmung. Tiny zog ein riesiges Abhäutemesser aus einer Tasche seines Overalls, klappte es auf und schob dann Haywards ruiniertes Hemd mit der Klinge so zur Seite, dass ihr Büstenhalter zu sehen war.

»Heiliger Bimbam!«, sagte irgendwer.

Tiny starrte gierig auf Haywards volle Brüste. Sie machte eine Bewegung, um sich mit der knopflosen Bluse zu bedecken, aber Tiny schüttelte den Kopf, schob ihre Hände weg und zog mit der Klinge seines Messers an der Oberkante ihres BHs entlang. Dann – ganz langsam – schob er die Klingenspitze unter den Stoff zwischen den Körbchen. Mit einem Ruck zog er das Messer zu sich heran, worauf der BH entzweiriss. Haywards Brüste schwangen frei, was einen irrsinnig lauten Aufschrei der Anerkennung auslöste.

Hayward sah, wie Pendergast sich erhob und strauchelte. Tiny war derart beschäftigt, dass er es nicht bemerkte.

Pendergast fand sein Gleichgewicht wieder und neigte sich stark zu einer Seite. Dann verlagerte er mit einer plötzlichen, kaum merklichen Bewegung sein Gewicht zur anderen Seite. Das Boot schaukelte, worauf Tiny und Larry das Gleichgewicht verloren.

»Hey, immer mit der Ruhe –«

Hayward sah ein Aufblitzen von Stahl; stöhnend krümmte sich Larry und feuerte die Waffe blindlings nach unten ab. Plötzlich spritzte Blut auf den Boden des Propellerboots.

Tiny wirbelte herum, um sich zu schützen, schwenkte die TEC-9 durch die Luft und gab eine lange Salve ab, aber Pendergast bewegte sich so schnell, dass ihn der Kugelhagel verfehlte. Ein sehniger Arm schlang sich um Tinys dicken Hals und riss seinen Kopf zurück, dann lag ein Stilett an seiner Kehle; gleichzeitig zertrümmerte Hayward dem Fettkloß den Unterarm und entriss ihm die TEC-9.

»Keine Bewegung«, sagte Pendergast und stach mit dem Messer Tiny in den Hals. Mit der anderen Hand zog er gekonnt seine Les Baer unter Tinys Gürtel hervor.

Tiny brüllte, er wand sich und fuchtelte wild mit den Armen, wollte Pendergast einen Schwinger verpassen. Das Messer sank tiefer ein, wurde gedreht, blitzte auf; ein wenig Blut spritzte, dann war ringsum alles wieder ganz still.

»Eine Bewegung, und du bist tot«, sagte Pendergast.

Hayward blickte entsetzt hin und vergaß einen Augenblick ihre Blöße. Pendergast war es irgendwie gelungen, dem Mann das Stilett so in den Hals zu bohren, dass die Halsschlagader zu sehen war; die Messerklinge war bereits daruntergeglitten und zog sie ein wenig aus der Wunde.

»Erschießt mich, und die Ader ist durch«, sagte Pendergast. »Ich stürze, und sie ist durch. Er bewegt sich, und sie ist durch. Die Frau wird nochmals angefasst, und die Ader ist auch durch.«

»Was zum Teufel?«, kreischte Tiny vor Todesangst und verdrehte die Augen. »Was hat er gemacht? Verblute ich?«

Totenstille. Alle Waffen waren auf sie gerichtet.

»Knallt ihn ab!«, schrie Tiny. »Erschießt die Frau! Worauf wartet ihr?«

Keiner rührte sich. Wie gelähmt vor Schreck starrte Hayward auf die vortretende, pulsierende, glitschige Ader, die auf der blutverschmierten Klinge lag.

Mit einem Nicken zeigte Pendergast auf einen der großen, am Dollbord des Propellerboots angebrachten Seitenspiegel. »Captain, holen Sie mir einmal bitte den Spiegel dort.«

Hayward zwang sich, sich zu bewegen, bedeckte, so gut es ging, ihre Blöße und zog den Spiegel aus der Halterung.

»Halten Sie ihn so, dass Tiny sich ansehen kann.«

Sie tat, wie ihr geheißen. Tiny blickte in den Spiegel, betrachtete sich darin – und dann weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. »Was machst du denn da … O mein Gott, bitte, nicht …« Seine Stimme wurde zu einem Zittern, seine blutunterlaufenen Augen weiteten sich, sein riesiger Leib erstarrte vor Todesangst.

»Alle Waffen in Mr. Tinys Boot dort«, sagte Pendergast ruhig und nickte in Richtung des leeren Sportfischerboots, das neben ihrem lag. »Alle. Sofort.«

Keiner rührte sich.

Pendergast zog mit der Rückseite des Messers die Ader etwas weiter aus der blutenden Wunde. »Macht, was ich sage, sonst schneide ich sie durch.«

»Ihr habt gehört, was er sagt!«, rief Tiny in einem verängstigten, quiekenden Flüsterton. »Waffen ins Boot! Macht, was er sagt!«

Hayward hielt weiter den Spiegel hoch. Murmelnd begannen die Männer, ihre Waffen nach vorn durchzureichen, und warfen sie ins Boot. Schon bald war der flache Boden mit einem wahren Arsenal von Waffen bedeckt.

»Messer, Sprühgas, alles.«

Weitere Gegenstände wurden ins Boot geworfen.

Pendergast wandte sich zu dem hageren Mann, Larry, um, der auf dem Boden des Boots lag. Er blutete aus einer Messerwunde im Arm und einer Wunde, die er sich mit dem Schuss in den Fuß selbst zugefügt hatte. »Ziehen Sie bitte Ihr Hemd aus.«

Nach kurzem Zögern befolgte der Mann die Anweisung.

»Reichen Sie es Captain Hayward hinüber.«

Hayward nahm das feuchte, stinkende Kleidungsstück entgegen. Dann drehte sie sich von den umgebenden Booten möglichst weit weg, zog die zerrissene Bluse und den ruinierten Büstenhalter aus und streifte sich das blutige Hemd über.

Pendergast wandte sich zu ihr um. »Captain, würden Sie sich bitte bewaffnen?«

»Die TEC-9 hier sieht ganz geeignet aus«, sagte Hayward und hob die Maschinenpistole aus dem Waffenstapel. Sie warf einen Blick darauf, entfernte das Magazin, inspizierte es, schob es wieder hinein. »Auf vollautomatisch eingestellt. Außerdem mit einem Fünfzig-Schuss-Magazin aufgerüstet. Ist also reichlich Munition übrig, um alle hier und jetzt umzulegen.«

»Eine zweckmäßige, wenn auch wenig elegante Wahl«, sagte Pendergast.

Stille. Das einzige Geräusch war Tinys ersticktes Schluchzen. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, doch er blieb reglos stehen wie eine Statue.

»Ich fürchte«, sagte Pendergast, »ihr habt einen schweren Fehler begangen. Die Dame hier ist nämlich tatsächlich Captain des Morddezernats der New Yorker Polizei, und ich bin wirklich Spezialagent beim Federal Bureau of Investigation. Wir ermitteln hier in einem Mordfall, der nichts mit euch oder eurer Stadt zu tun hat. Wer immer euch erzählt hat, wir seien Umweltschützer, hat euch angelogen. Also: Ich werde euch gleich eine Frage stellen, nur einmal, und wenn ich eine Antwort bekomme, die mich nicht zufriedenstellt, durchtrenne ich Tinys Halsschlagader, und meine Kollegin Captain Hayward knallt euch ab wie Hunde. In Notwehr natürlich. Weil wir nämlich Polizisten sind – wer würde uns da widersprechen?«

Schweigen.

»Die Frage lautet folgendermaßen: Mr. Tiny, wer hat Sie angerufen und Ihnen gesagt, dass wir hierherkommen?«

Tiny konnte die Antwort gar nicht schnell genug über die Lippen bekommen. »Ventura, Mike Ventura, Mike Ventura …« Dabei stieß er die Wörter zwischen erstickten Seufzern aus, kaum mehr als ein Plappern.

»Und wer ist dieser Mike Ventura?«

»Ein Typ, der drüben in Itta Bena wohnt, aber er kommt oft hier runter, großer Sportsmann, stinkreich, verbringt viel Zeit im Sumpf. Er ist zu mir gekommen und hat uns allen erzählt, ihr wärt Umweltschützer, wolltet den Rest des Black Brake in ein Naturschutzgebiet umwandeln, uns Leuten, die am Sumpf leben, alle Arbeitsplätze wegnehmen –«

»Vielen Dank«, sagte Pendergast, »das genügt. Und jetzt sage ich euch, was gleich passiert. Meine Kollegin und ich werden unseren Weg in Mr. Tinys ausgezeichnet ausgestattetem und vollbeladenem Sportfischerboot fortsetzen. Mit sämtlichen Waffen. Und ihr fahrt alle nach Hause. Habt ihr verstanden?«

Nichts.

Er hob das Messer unter der Ader an. »Darf ich bitte eine Antwort haben?«

Murmeln, Nicken.

»Ausgezeichnet. Ihr seht ja, dass wir jetzt schwer bewaffnet sind. Und ich kann euch versichern, dass wir beide wissen, wie man mit diesen Waffen umgeht. Captain, würden Sie das bitte einmal demonstrieren?«

Hayward deutete mit der TEC-9 auf eine Gruppe junger Bäume in der Nähe und eröffnete das Feuer. Drei kurze Salven. Die Bäume stürzten langsam ins Wasser.

Pendergast zog das Messer unter der Ader hervor. »Sie werden ein paar Stiche brauchen, Mr. Tiny.«

Der Dicke blubberte bloß.

»Ich würde euch allen raten, die ganze Sache unter euch zu besprechen und eine nette, glaubwürdige Geschichte zu erfinden, wie sich Mr. Tiny in den Hals geschnitten und wie der alte Larry dort sich in den Fuß geschossen hat. Weil der Captain und ich Wichtigeres zu tun haben und wir keine weiteren Unterbrechungen dulden werden. Angenommen, ihr ärgert uns nicht weiter – und angenommen, ihr lasst mein ziemlich teures Auto in Ruhe –, sehen wir keinerlei Notwendigkeit, irgendjemanden anzuklagen oder festzunehmen. Nicht wahr, Captain?«

Sie schüttelte den Kopf. Komisch, aber Pendergasts Art, etwas zu regeln, ergab Sinn – jedenfalls hier draußen, am Ende der Welt, ohne Unterstützung, vor einer Menschenmenge, die nichts sehnlicher wünschte, als sie erst reihum zu vergewaltigen und dann sie beide zu ermorden und ihre Leichen im Sumpf zu versenken.

Pendergast bestieg das Sportfischerboot. Hayward folgte, wobei sie sich zwischen den diversen Waffen behutsam den Weg bahnte. Pendergast startete den Außenbordmotor und steuerte das Boot vorwärts; die Boote ringsum machten widerstrebend eine Gasse frei. »Wir werden uns alle wiedersehen«, rief er. »Ich bedauere zu sagen, dass es weitere Unannehmlichkeiten geben könnte.«

Dann gab er Vollgas, steuerte das Fischerboot in den breitesten Zufluss am Ende des Bayou und fuhr im schwindenden Abendlicht Richtung Süden, hinein in die dichte, direkt vor ihnen liegende Mauer aus Pflanzen und Bäumen.