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New Orleans

Diese Zeit am Tag, wenn die Türen verrammelt und verriegelt waren, die Besucher gegangen und jeder kleine Gegenstand an seinem Platz war, mochte Desmond Tipton am liebsten. Es war die ruhige Phase von 17 bis 20 Uhr, bevor die Touristen, die nur aufs Trinken aus waren, ins French Quarter einfielen wie die mongolischen Horden des Dschingis Khan, die Bars und Jazzclubs heimsuchten und bis zum Abwinken Sazeracs in sich hineinschütteten. Er konnte sie jeden Abend draußen hören, denn ihre feuchtfröhlichen Stimmen und Rufe und ihr infantiles Gegröle wurde nur teilweise von den uralten Wänden des Audubon Cottage gedämpft.

Für heute Abend hatte sich Tipton vorgenommen, die Wachsfigur von John James Audubon abzustauben, das Herzstück und zentrale Motiv des Museums. In dem lebensgroßen Diorama saß der bedeutende Naturforscher in seinem Arbeitszimmer neben dem Kamin, Zeichenblock und Stift in der Hand, und fertigte eine Zeichnung von einem toten, auf einem Tisch liegenden Vogel – einer Scharlachtangare – an. Tipton nahm den kleinen Akkusauger und den Staubwedel und stieg über die Absperrung aus Plexiglas. Zuerst säuberte er Audubons Kleidung, indem er mit dem kleinen Staubsauger darüberfuhr, anschließend hielt er ihn an Bart und Kopfhaar der Figur und wischte mit dem Staubwedel kleine Schmutzpartikel vom hübschen Wachsfigurengesicht.

Plötzlich hörte er etwas. Er hielt inne und schaltete den Akkusauger aus. Wieder das Geräusch: Jemand klopfte an die Eingangstür.

Verärgert schaltete Tipton den Staubsauger wieder ein und machte weiter, doch dann wurde das Klopfen noch lauter. So was erlebte er fast jeden Abend. Betrunkene Schwachköpfe, die die historische Plakette neben der Tür gelesen hatten und deshalb aus irgendeinem Grund anklopften. So ging das nun schon seit Jahren. Immer weniger Besucher am Tag, immer mehr Geklopfe und Gegröle am Abend. Die einzige Erholung waren die Monate nach dem Hurrikan gewesen.

Wieder hartnäckiges Klopfen, bedächtig und laut.

Tipton legte den Handstaubsauger ab, stieg aus dem Diorama und marschierte auf seinen gichtigen O-Beinen zur Tür. »Wir haben geschlossen!«, rief er durch die Eichentür. »Verschwinden Sie, sonst ruf ich die Polizei!«

»Ach, sind Sie das, Mr. Tipton?«, ließ sich die gedämpfte Stimme vernehmen.

Tiptons weiße Augenbrauen ruckten nach oben. Wer konnte das sein? Die Besucher, die tagsüber ins Museum kamen, beachteten ihn gar nicht, und auch er vermied es beharrlich, mit ihnen ein Gespräch zu beginnen, sondern saß, das Gesicht tief über seine Forschungsunterlagen gebeugt, missmutig an seinem Tisch.

»Wer ist da?«, fragte Tipton, nachdem er sich von der Überraschung erholt hatte.

»Könnten wir das Gespräch drinnen fortführen, Mr. Tipton? Es ist ziemlich kalt hier draußen.«

Tipton zögerte, dann entriegelte er die Tür und sah vor sich einen schlanken Herrn in dunklem Anzug, der bleich wie ein Gespenst war und dessen silbrige Augen im Halbdunkel der Straße glänzten. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor; Tipton erschrak.

»Mr. … Pendergast?«, traute er sich beinahe flüsternd zu fragen.

»Höchstselbst.« Pendergast trat ein, ergriff Tiptons Hand und schüttelte sie kurz. Tipton starrte ihn ungläubig an.

Pendergast deutete auf den Besucherstuhl vor Tiptons Schreibtisch. »Darf ich?«

Tipton nickte. Pendergast nahm Platz und schlug die Beine übereinander. Schweigend nahm Tipton auf seinem Stuhl Platz.

»Sie sehen ja aus, als hätten Sie gerade ein Gespenst erblickt.«

»Nun ja, Mr. Pendergast …« Tipton war völlig durcheinander. »Ich dachte … Ihre Familie wäre ausgestorben … Ich hatte ja keine Ahnung …«, stammelte er in die Stille hinein.

»Die Gerüchte über meinen Tod sind stark übertrieben.«

Tipton tastete in der Westentasche seines etwas schmuddeligen dreiteiligen Anzugs, zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn. »Freut mich, Sie zu sehen, freut mich ungeheuer …« Wieder tupfte er sich die Stirn.

»Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit.«

»Was führt Sie hierher zurück, wenn ich fragen darf?« Tipton bemühte sich, seine Fassung wiederzugewinnen. Seit fast fünfzig Jahren war er nun schon als Kurator des Audubon Cottage tätig und wusste daher sehr viel über die Familie Pendergast. Das Letzte, womit er gerechnet hatte, war, einen von denen wiederzusehen. Er erinnerte sich noch gut an die schreckliche Nacht des Brandes, so als wäre es gestern gewesen: der Pöbel auf der Straße, die Schreie aus den oberen Stockwerken, die Flammen, die in den Nachthimmel schlugen … Er war erleichtert gewesen, als die überlebenden Angehörigen aus der Gegend fortzogen, denn die Pendergasts hatten ihm schon immer Angst eingejagt, vor allem dieser merkwürdige Bruder, Diogenes. Ihm war zu Ohren gekommen, dass Diogenes in Italien ums Leben gekommen sei. Außerdem hatte er gehört, dass Aloysius verschwunden sei. Das glaubte er nur zu gerne. Die Pendergasts waren eine Familie, die offenbar zum Aussterben verurteilt war.

»Ich wollte unserer kleinen Immobilie auf der anderen Straßenseite einen kleinen Besuch abstatten. Und weil ich in der Nähe war, dachte ich mir, ich schaue einmal kurz vorbei und mache einem alten Freund meine Aufwartung. Wie läuft’s denn in letzter Zeit mit dem Museum?«

»Immobilie? Sie meinen …?«

»Ganz genau. Der Parkplatz, auf dem früher einmal Rochenoire stand. Ich habe es nicht über mich gebracht, das Grundstück zu verkaufen, aus … aus sentimentalen Gründen.« Pendergast lächelte.

Tipton nickte. »Natürlich, natürlich. Was das Museum betrifft, so sehen Sie ja selbst, Mr. Pendergast, dass der Stadtteil sich sehr zum Schlechten verändert hat. Wir haben in jüngster Zeit kaum noch Besucher.«

»Das Viertel hat sich in der Tat verändert. Da ist es doch höchst angenehm, dass das Audubon Cottage immer noch genauso aussieht.«

»Wir bemühen uns, alles beim Alten zu belassen.«

Pendergast erhob sich und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Sie gestatten? Wie ich sehe, haben Sie im Moment geschlossen, ich würde mich aber trotzdem gern ein wenig umschauen. Um der alten Zeiten willen.«

Tipton erhob sich hastig. »Natürlich. Bitte entschuldigen Sie den Zustand des Audubon-Dioramas … ich war gerade dabei, es abzustauben.« Er war ihm ungeheuer peinlich, dass er den kleinen Akkusauger Audubon auf den Schoß gelegt und den Staubwedel gegen dessen einen Arm gestützt hatte, so als hätte irgendein Witzbold den bedeutenden Mann in eine Putzfrau verwandeln wollen.

»Erinnern Sie sich noch«, sagte Pendergast, »an die Sonderausstellung vor fünfzehn Jahren, die Sie kuratiert und für die wir Ihnen unser Doppelelefantenfolio ausgeliehen haben?«

»Selbstverständlich.«

»Es war eine sehr festliche Vernissage.«

»Das kann man wohl sagen, ja.« Tipton erinnerte sich nur zu gut an seinen Stress und sein Entsetzen, Menschentrauben dabei zuzusehen, wie sie mit randvollen Weingläsern zwischen den Exponaten umherspazierten. Es war ein wunderschöner Sommerabend gewesen, der Vollmond hatte geschienen, aber er war so kaputt gewesen, dass er kaum etwas mitbekommen hatte. Deshalb war es die erste und letzte Sonderausstellung, die er kuratiert hatte.

Pendergast begann, durch die Räume zu schlendern, und schaute dabei in die Glasvitrinen mit ihren Stichen und Zeichnungen und Vögeln, den Audubon-Andenken, den Briefen und Skizzen. Tipton folgte ihm auf dem Fuße.

»Wussten Sie eigentlich, dass meine Frau und ich uns hier kennengelernt haben? Damals, auf dieser Vernissage?«

»Nein, Mr. Pendergast, das war mir nicht bekannt.« Tipton war unbehaglich zumute. Pendergast wirkte merkwürdig aufgekratzt.

»Meine Frau – Helen – ich glaube, sie hat sich sehr für Audubon interessiert.«

»Ja, ganz gewiss.«

»Hat sie nach der Ausstellungseröffnung … das Museum noch einmal besucht?«

»O ja. Vorher und nachher.«

»Vorher?«

Der scharfe Ton, in dem die Frage gestellt wurde, ließ Tipton aufhorchen. »Ja, warum? Sie ist ab und zu hierhergekommen, um ihren Forschungen nachzugehen.«

»Ihren Forschungen«, wiederholte Pendergast. »Und das war wie lange, bevor meine Frau und ich uns kennengelernt haben?«

»Mindestens ein halbes Jahr vor jener Ausstellungseröffnung. Vielleicht länger. Sie war eine reizende Frau. Ich war so entsetzt, als ich erfuhr, dass sie –«

»Schon gut.« Jetzt war Pendergast offenbar milder gestimmt, zumindest schien er sich wieder im Griff zu haben. Dieser Pendergast ist schon ein komischer Kauz, dachte Tipton, genauso wie die anderen aus der Familie. Sich exzentrisch aufzuführen, das war ja schön und gut in New Orleans, dafür war die Stadt schließlich berühmt, aber dieses Benehmen ging nun doch zu weit.

»Ich habe nie viel über Audubon gewusst«, fuhr Pendergast fort. »Und ich habe auch nie verstanden, was es mit diesen Forschungen auf sich hat. Können Sie sich noch gut an die Besuche meiner Frau erinnern?«

»Ein wenig«, sagte Tipton. »Sie hat sich für die Zeit interessiert, die Audubon im Jahr achtzehnhunderteinundzwanzig hier verbracht hat, gemeinsam mit Lucy.«

Pendergast blieb vor einer abgedunkelten Glasvitrine stehen. »Hat sich meine Frau für etwas Besonderes interessiert? Hatte sie vielleicht vor, einen Artikel oder ein Buch über Audubon zu schreiben?«

»Das müssten Sie besser wissen als ich, aber ich erinnere mich tatsächlich, dass sie mich mehr als einmal nach dem Schwarzgerahmten gefragt hat.«

»Dem Schwarzgerahmten?«

»Dem berühmten ›verlorenen Gemälde‹. Dasjenige, das Audubon während seines Aufenthalts im Sanatorium gemalt hat.«

»Verzeihen Sie bitte, dass mein Wissen über Audubon so begrenzt ist. Was hat es mit diesem ›verlorenen Gemälde‹ auf sich?«

»Als junger Mann erkrankte Audubon schwer. Während seiner Rekonvaleszenz hat er ein Bild gemalt. Offenbar ein außergewöhnliches Gemälde – sein erstes wirklich bedeutendes Werk. Später ist es verschwunden. Das Merkwürdige daran ist, dass niemand, der es gesehen hat, erwähnt hat, was es darstellt. Nur dass es auf brillante Weise lebensecht war und sich in einem ungewöhnlichen, schwarz angemalten Rahmen befand. Was Audubon tatsächlich gemalt hat, scheint nicht überliefert zu sein.« Tipton, der sich nun auf vertrautem Terrain befand, merkte, dass seine Nervosität ein wenig nachließ.

»Und Helen hat sich für dieses Bild interessiert?«

»Jeder Audubon-Forscher interessiert sich für das Bild. Es markierte den Anfang jener Schaffensphase, die mit Die Vögel Amerikas ihren Höhepunkt erreichte, und ist bei weitem das bedeutendste Werk der Natur-Malerei, das je veröffentlicht wurde. Das Schwarzgerahmte sei – so behaupteten Leute, die das Bild zu Gesicht bekamen – das erste Werk, das Audubons wahres Genie zeige.«

»Verstehe.« Pendergasts Miene wurde nachdenklich. Dann sah er plötzlich auf die Uhr. »Nun denn! Es war schön, Sie wiederzusehen, Mr. Tipton.« Er umfasste Tiptons Hand, worauf dieser beunruhigt feststellte, dass Pendergasts Hand noch kälter war als beim Eintreten – wie bei einer Leiche im Tiefkühlfach.

Er folgte seinem Besucher bis an die Tür. Während er die Tür aufzog, nahm Tipton seinen ganzen Mut zusammen und stellte die Frage, die ihm auf dem Herzen lag. »Mr. Pendergast, haben Sie zufällig noch das Doppelelefantenfolio Ihrer Familie in Besitz?«

Pendergast drehte sich um. »Ja.«

»Ah! Wenn ich so kühn sein darf, Ihnen etwas vorzuschlagen, und ich hoffe, Sie werden mir meine Direktheit verzeihen, wenn Sie also aus irgendeinem Grund ein schönes Zuhause für den Band finden möchten, eines, wo er sehr gut gepflegt werden und von der Öffentlichkeit gewürdigt würde, wären wir natürlich sehr geehrt …« Er senkte die Stimme hoffnungsvoll.

»Ich werde es mir überlegen. Und nun einen schönen Abend, Mr. Tipton.«

Erleichtert stellte Tipton fest, dass Pendergast ihm nicht noch einmal die Hand entgegenstreckte.

Die Tür fiel ins Schloss; Tipton schloss ab und schob den Riegel vor, dann blieb er lange stehen und überlegte. Die Ehefrau von einem Löwen gefressen, die Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen, den der Pöbel gelegt hatte … was für eine merkwürdige Familie. Und die Jahre hatten diesen Angehörigen ganz offensichtlich auch nicht normaler gemacht.