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Pendergast beugte sich über Hayward und sah sie sich genau an. Sie hatte einen Schock erlitten. Weil das Bein stark von Schlamm überzogen war, ließ sich schwer erkennen, wie viel Blut sie verloren hatte. Das Mondlicht fiel schräg auf ihr Gesicht, das dort, wo es nicht mit Schlamm verschmiert war, gespenstisch weiß wirkte. Sanft zog er sie in eine sitzende Position, setzte sie mit dem Rücken gegen einen Baumstamm und tarnte sie notdürftig mit einigen Farnblättern. Nachdem er einen Lappen in dem brackigen Wasser ausgespült hatte, versuchte er, ein wenig von dem Schlamm aus der Wunde zu waschen, wobei er gleichzeitig zahlreiche Egel abzog.

»Wie geht’s Ihnen, Captain?«

Hayward schluckte, sie bewegte den Mund. Sie blinzelte, konnte die Augen aber nicht koordinieren. Er fühlte ihren Puls: flach und schnell. Dann beugte er sich über sie und flüsterte ihr zu: »Ich muss Sie jetzt allein lassen. Nur eine Weile.«

Einen Augenblick weiteten sich ihre Augen angstvoll. Dann nickte sie und antwortete mit rauher Stimme: »Verstehe.«

»Wer immer auf Spanish Island lebt, weiß, dass wir hier sind; die Bewohner haben die Schüsse sicherlich gehört. Es kann sogar sein, dass der verbleibende Schütze von Spanish Island gekommen ist und uns dort erwartet – darum die Stille. Ich muss mit großer Umsicht vorgehen. Zeigen Sie mir Ihre Waffe.«

Er nahm die Faustfeuerwaffe, eine 32er, und prüfte das Magazin, dann schob er es wieder hinein und drückte Hayward die Waffe in die Hände. »Sie haben noch vier Patronen übrig. Wenn ich nicht zurückkomme … müssen Sie sie möglicherweise einsetzen.« Er legte ihr seine Taschenlampe auf die Oberschenkel. »Benutzen Sie sie nur im Notfall. Halten Sie nach dem Schimmern von Augen im Mondlicht Ausschau. Achten Sie auf die Entfernung zwischen den Augen. Bei mehr als fünf Zentimetern ist es entweder ein Alligator oder unser Schütze. Verstehen Sie?«

Wieder nickte sie und hielt dabei die Waffe umklammert.

»Das hier ist eine gute Deckung. Man wird Sie erst sehen, wenn Sie gesehen werden wollen. Aber hören Sie mir jetzt genau zu: Sie müssen wach bleiben. Wenn Sie die Besinnung verlieren, sterben Sie.«

»Sie sollten jetzt besser losgehen«, murmelte sie.

Pendergast spähte in die Dunkelheit. Zwischen den Reihen der Baumstämme war so gerade eben ein schwacher gelblicher Lichtschein zu sehen. Er zückte ein Messer, hob die Hand und ritzte in beide Seiten des dicksten Baumstamms ein großes X. Nachdem er Hayward zurückgelassen hatte, machte er sich in Richtung Süden auf den Weg, wobei er sich den fernen Lichtern auf einer enger werdenden, spiralähnlichen Route näherte.

Damit er möglichst wenig Geräusche machte, bewegte er sich langsam und zog die Schuhe vorsichtig aus dem Schlamm. Er nahm keinerlei Anzeichen für Aktivitäten wahr und hörte auch keine Laute aus der Richtung des fernen Lichts, das zwischen den dunklen Baumstämmen aufflackerte und wieder verschwand. Während er seine Kreise enger zog, wurden die Bäume lichter, so dass ein mattes gelbes Rechteck in Sicht kam: ein Fenster mit einem Vorhang, hell in der Schwärze, inmitten einer Gruppe von vage erkennbaren Gebäuden mit Giebeldächern.

Nach weiteren zehn Minuten war er so nahe an das alte Jagdcamp auf Spanish Island vorgerückt, dass sich ihm ein unverstellter Blick bot.

Es war eine große, weitläufige Anlage, errichtet kurz oberhalb der Wasserlinie auf mit Kreosot imprägnierten Pfählen. Mindestens ein Dutzend große, mit Schindeln gedeckte Gebäude, eingezwängt zwischen einer großen Gruppe uralter kahler Sumpfzypressen, die dicht mit Spanischem Moos behängt waren. Das Camp lag unmittelbar am Rand eines kleinen Stillwasser-Bayou. Es war auf marginal höherem Gelände erbaut und umgeben von einem Schutzschirm aus Farnen, Sträuchern und hohem Gras. Der dichte Vorhang aus Pflanzen, in Verbindung mit den nahezu undurchdringlichen Strähnen des hängenden Mooses, verlieh ihm eine Atmosphäre des Verstecktseins, des Kokonartigen.

Pendergast näherte sich dem Camp von der Seite, hielt dabei Ausschau nach Wachen und versuchte, die räumliche Anordnung zu begreifen. Am einen Ende führte eine große Plattform aus Holz zu einem Steg mit einem Schwimmdock, das in den Bayou hineinragte. Daran festgemacht war ein ungewöhnliches Boot, das Pendergast als kleines, wendiges Allzweckboot der Navy aus der Zeit des Vietnamkriegs identifizierte. Es hatte einen Tiefgang von lediglich acht Zentimetern und einen leisen Unterwasser-Jet-Antrieb – ideal, um unbemerkt im Sumpf umherzufahren. Zwar waren einige der Nebengebäude verfallen, die Dächer eingefallen, doch das eigentliche Camp war in gutem Zustand und eindeutig bewohnt. Ein großes Nebengebäude war ebenfalls in tadellosem Zustand. Schwere Vorhänge hingen vor den Fenstern und ließen einen nur schwachen gelblichen Lichtschein durch.

Nachdem er seine Umkreisung beendet hatte, war Pendergast überrascht: Niemand schien Wache zu halten. Im Camp war es grabesstill. Sollte der Schütze hier sein, dann hielt er sich außergewöhnlich gut versteckt. Er wartete, horchte. Und dann hörte er etwas, einen fernen, verzweifelten Schrei, dünn und vogelähnlich, gerade oberhalb der Schwelle zur Hörbarkeit, wie von jemandem, der alle Hoffnung verloren hatte, im Sterben lag. Als auch dieser Laut erstarb, senkte sich tiefe Stille über das Camp.

Pendergast zückte seine Les Baer und näherte sich dem Camp von der Rückseite, wobei er sich durch das Farndickicht am Rand der Stützpfähle zwängte. Wieder lauschte er, hörte jedoch keine weiteren Geräusche, keine Schritte auf den Holzplanken über sich, kein aufblitzendes Licht, keine Stimmen.

Befestigt an einem der Pfähle war eine krude Holzleiter mit glitschigen, verrotteten Sprossen. Nach einigen weiteren Minuten bewegte er sich, halb kriechend, halb schwimmend, darauf zu, packte die unterste Sprosse und zog sich hinauf, wobei er jede Sprosse auf ihre Stabilität prüfte. Kurz darauf hatte er mit dem Kopf die Höhe der Plattform erreicht. Als er darüber hinwegspähte, konnte er trotz des Mondlichts nicht erkennen, ob jemand Wache hielt.

Nachdem er sich auf die Plattform gezogen hatte, wälzte er sich über die roh behauenen Holzplanken und blieb dann liegen, die Waffe im Anschlag. Dann lauschte er angestrengt und meinte, eine Stimme – außergewöhnlich leise selbst für sein scharfes Gehör – wahrnehmen zu können, die langsam und monoton etwas murmelte, so als betete sie einen Rosenkranz. Der Mond stand jetzt genau über ihm, und das tief zwischen den Bäumen verborgene Camp lag gesprenkelt vom Mondlicht da. Er wartete noch einen Augenblick. Dann stand er auf, spurtete in den Schatten des nächstgelegenen Gebäudes und drückte sich flach gegen die Mauer. Aus einem Fenster, dessen Jalousien heruntergezogen waren, fiel ein schwaches Licht auf die Plattform.

Langsam, zentimeterweise, rückte er vor und um die Ecke herum, wobei er sich duckte, als er unter einem zweiten Fenster vorbeikam. Als er um eine weitere Ecke gebogen war, gelangte er an eine Tür. Alt und verfallen, die Angeln rostig, die Farbe in Streifen abblätternd. Äußerst vorsichtig drückte er den Griff herunter, aber die Tür war verschlossen; mit einiger Mühe knackte er das Schloss. Er wartete, in der Hocke sitzend.

Kein Laut.

Langsam drückte er die Klinke herunter und schob die Tür auf, dann ging er geduckt hindurch und sicherte den Raum mit seiner Waffe.

Was sich seinem Blick darbot, war ein großes, elegantes Wohnzimmer, wenn auch etwas schäbig. Eine Seite wurde von einem riesigen Naturstein-Kamin beherrscht, an der Wand darüber hing ein vermoderter ausgestopfter Alligator, auf dem riesigen Kaminsims aus Holz standen ein Gestell mit Bruyèreholz-Pfeifen und eine alte Siphonflasche samt Gläsern. An den Wänden standen leere Waffenschränke, weitere Schränke waren voll mit Angelruten zum Fliegenfischen und Grundangeln, Ausstellungsvitrinen zeigten Fliegen und Köder. Möbel aus burgunderfarbenem Leder, oft geflickt und rissig vor Abnutzung, gruppierten sich um den Kamin. Das Zimmer kam ihm staubig vor, wenig benutzt. Der große Raum machte einen erstaunlich leeren Eindruck.

Direkt über ihm erklangen leise Schritte, das Gemurmel einer Stimme.

Licht spendeten mehrere von der Decke hängende Kerosinlampen, die auf die kleinstmögliche Stufe eingestellt waren. Pendergast nahm eine vom Haken, drehte am Docht, damit die Lampe heller schien, und ging mitten durchs Zimmer zu einer schmalen, mit einem dicken Läufer belegten Treppe am gegenüberliegenden Ende. Langsam stieg er die Stufen hinauf.

Der Unterschied zwischen dem Erd- und dem ersten Geschoss war erstaunlich. Hier war von einem Durcheinander an Einrichtungsgegenständen, einer bunten Mischung aus Farben, Formen und Mustern nichts zu sehen. Als er oben an der Treppe ankam, fiel sein Blick auf einen langen Flur, von dem zu beiden Seiten Schlafzimmer abgingen, die offenbar aus der Zeit stammten, als das Camp noch Gäste beherbergte. Doch die üblichen Verschönerungen, die Stühle, die Bilder, die Bücherborde fehlten völlig. Die Türen standen offen und ließen den Blick auf leere Räume frei. Vor allen Fenstern hingen Gazegardinen, offenbar, um den Lichteinfall zu verringern. Alles war in gedämpften Pastellfarben gehalten, beinahe in Schwarz und Weiß. Sogar die Astlöcher waren sorgfältig ausgefüllt.

Ganz hinten im Gang stand eine Tür einen Spaltbreit offen, aus der Licht drang. Pendergast strich wie eine Katze über den Flur. Die letzten beiden Schlafzimmer, an denen er vorbeikam, waren offensichtlich noch in Gebrauch; das eine war sehr groß und elegant, wenngleich recht spärlich eingerichtet – frisch gemachtes Bett, integriertes Bad und Ankleide und ein Ein-Seiten-Spiegel, der den Blick in das zweite Schlafzimmer freigab, das kleiner und spartanischer möbliert und bis auf ein großes Doppelbett leer war.

Pendergast schlich bis zur Tür am Ende des Flurs und lauschte. Er hörte erstmals das leise Tuckern eines Generators. Kein einziges Geräusch drang aus dem Zimmer. Alles war still.

Er stellte sich an eine Seite, dann drehte er sich in einer schnellen Bewegung um und trat die Tür mit einem kräftigen Tritt ein. Sie flog auf, gleichzeitig ließ er sich auf den Boden fallen.

Eine irrsinnig laute Salve aus einer Schrotflinte durchschlug den Türrahmen über ihm und riss ein Stück von der Größe eines Basketballs heraus, so dass die Splitter auf ihn herabregneten, doch bevor der Schütze noch eine Patrone mit Schrot abfeuern konnte, hatte Pendergast seinen Schwung genutzt, um sich einmal um die Achse zu drehen und aufzustehen; der zweite Schuss zerfetzte einen Beistelltisch neben der Tür, aber da hatte er die Schützin schon gepackt und schlang ihr den Arm um den Hals. Er riss ihr die Schrotflinte aus den Händen, drehte sie blitzschnell um – und stellte fest, dass er eine auffallend schöne Frau festhielt.

»Sie können mich jetzt wieder loslassen«, sagte sie ganz ruhig.

Pendergast ließ sie los und trat einen Schritt zurück, wobei er sie mit seiner 45er in Schach hielt. »Keine Bewegung. Halten Sie Ihre Hände so, dass ich sie sehen kann.« Schnell sah er sich im Zimmer um und staunte nicht schlecht: ein hochmodern eingerichtetes Intensivmedizin-Zimmer, voll mit funkelnagelneuen Apparaten – physiologisches Monitorsystem, Blutsauerstoffmessgerät, Atemstillstand-Monitor, Ventilator, Spritzenpumpe, Notfallwagen, mobiles Röntgengerät, ein halbes Dutzend digitaler Diagnosevorrichtungen. Alles mit Strom angetrieben.

»Wer sind Sie?«, fragte die Frau. Ihre Stimme klang frostig, so als hätte sie ihre Fassung wiedergewonnen. Sie war schlicht und elegant gekleidet, sie trug ein hellcremefarbenes, schlichtes Kleid, keinen Schmuck, aber sie war sorgfältig geschminkt, das Haar kürzlich frisiert. Am stärksten beeindruckte Pendergast jedoch die scharfe Intelligenz, die aus ihren stahlblauen Augen sprach. Er erkannte sie fast auf Anhieb wieder – von den Fotos, die er in der Akte im Standesamt von Baton Rouge gesehen hatte.

»June Brodie«, sagte er.

Sie erbleichte, aber nur ein wenig. Im nachfolgenden, angespannten Schweigen ertönte hinter einer Tür am anderen Ende des Raums ein leiser Schrei, ein Schmerzens- oder Verzweiflungsschrei. Pendergast wandte sich um und blickte in die Richtung.

Als June Brodie sich wieder äußerte, klang ihre Stimme betont kühl. »Ich fürchte, Ihr unerwartetes Kommen hat die Ruhe meines Patienten gestört. Und das ist wirklich höchst bedauerlich.«