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St. Francisville, Louisiana

D’Agosta fuhr vor dem weißgestrichenen, klassizistischen Plantagenhaus vor, das sich zwischen den Beeten mit verwelkten Blumen und den kahlen Bäumen abzeichnete. Aus dem winterlichen Himmel fiel ein leichter Regen, auf dem Asphalt standen Pfützen. Er blieb einen Moment in dem Mietwagen sitzen, lauschte im Radio dem miserablen Text von »Just You and Me« und versuchte, seine Verärgerung zu überwinden, die daher rührte, dass er zu einem besseren Botengang losgeschickt worden war. Was wusste er denn schon über tote Vögel?

Als der Song schließlich ausgeblendet wurde, erhob er sich von seinem Sitz, schnappte sich einen Regenschirm und stieg aus. Er ging die Stufen zum Oakley-Plantagenhaus hinauf und betrat die Veranda, deren Jalousie-Fenster wegen des starken Regens geschlossen waren. Nachdem er den tropfenden Regenschirm in einen Ständer gestellt hatte, zog er den Regenmantel aus, hängte ihn auf einen Kleiderständer und betrat das Gebäude.

»Sie müssen Dr. D’Agosta sein«, begrüßte ihn eine intelligente Frau mit schmalem Gesicht, die sich von ihrem Schreibtisch erhob und auf ihren ein wenig kurzen Beinen zu ihm herübergeeilt kam, wobei ihre Schuhe auf den Dielen laut und vernehmlich klapperten. »In dieser Zeit des Jahres kommen nicht viele Besucher zu uns. Ich bin Lola Marchant.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Der kräftige Händedruck überraschte D’Agosta. Die mit Rouge, Puder und Lippenstift stark geschminkte Frau musste mindestens sechzig sein, sie war etwas beleibt und wirkte kerngesund.

»Schämen Sie sich! Ein so schlechtes Wetter mitzubringen!« Sie lachte auf. »Wie auch immer, Audubon-Forscher sind bei uns stets herzlich willkommen. Meistens kommen ja Touristen zu uns.«

D’Agosta folgte ihr in eine Empfangshalle. Die Wände und der Boden waren aus weißgestrichenem Holz, die Decke trugen mächtige Balken. Langsam bereute er, sich am Telefon als Audubon-Forscher ausgegeben zu haben. Denn er wusste so wenig über Audubon, so wenig über Vögel, dass er sich sicher war, schon beim geringsten Informationsaustausch passen zu müssen. Am besten, er hielt einfach den Mund.

»Das Wichtigste zuerst!« Marchant trat hinter einen anderen Schreibtisch und schob D’Agosta ein voluminöses Besucherbuch hin. »Bitte unterschreiben Sie, und geben Sie auch den Grund Ihres Besuchs an.«

Er trug seinen Namen und den vermeintlichen Grund ein.

»Vielen Dank! Also, fangen wir an! Was genau soll ich Ihnen denn zeigen?«

D’Agosta räusperte sich. »Ich bin Ornithologe«, er sprach das Wort absolut korrekt aus, »und würde mir gern einige von Audubons Präparaten anschauen.«

»Wunderbar! Wie Sie sicherlich wissen, war Audubon nur vier Monate hier, er arbeitete damals als Zeichenlehrer für Eliza Pirrie, die Tochter von Mr. und Mrs. James Pirrie, den Eigentümern der Oakley-Plantage. Nach einem Streit mit Mrs. Pirrie ist er urplötzlich nach New Orleans zurückgereist und hat sämtliche Präparate und Zeichnungen mitgenommen. Doch als wir vor vierzig Jahren zum historisch bedeutsamen Ort des Staates Louisiana erklärt wurden, haben wir eine Schenkung von Audubon-Zeichnungen, Briefen und einigen seiner Vogel-Präparate erhalten, die wir im Laufe der Jahre ergänzt haben. Und heute besitzen wir eine der schönsten Audubon-Sammlungen in ganz Louisiana!«

Sie strahlte ihn an, wobei ihr Busen leicht wogte. »Sehr schön«, murmelte D’Agosta, zog ein Steno-Notizheft aus der Sakkotasche seines braunen Anzugs und hoffte, dadurch eher das Bild eines seriösen Forschers abzugeben.

»Hier entlang bitte, Dr. D’Agosta.«

Dr. D’Agosta … Er registrierte, dass seine Besorgnis zunahm.

Marchant ging mit festen Schritten über die gestrichenen Pitchpinedielen zu einer Treppe. Sie stiegen in den ersten Stock hinauf und durchquerten mehrere große, mit Stilmöbeln eingerichtete Zimmer, bis sie schließlich zu einer verschlossenen Tür gelangten, hinter der – als sie geöffnet wurde – eine steile, schmale Stiege zum Dachgeschoss hinaufführte. D’Agosta folgte Marchant bis unters Dach. Es handelte sich aber nur dem Namen nach um ein Dachgeschoss, denn alles war makellos sauber und gepflegt und roch nach frischer Farbe. An drei Wänden standen alte Eichenschränke mit Einsätzen aus geriffeltem Glas, außerdem an der gegenüberliegenden Wand modernere, verschlossene Schränke. Licht spendeten die Mansardenfenster mit Milchglasscheiben, die einen kühlen weißen Schein in den Raum hineinließen.

»Wir haben ungefähr hundert Vögel aus Audubons ursprünglicher Sammlung«, sagte Marchant und ging flotten Schritts über den Mittelgang. »Bedauerlicherweise war Audubon kein besonders guter Tierpräparator. Die Präparate wurden aber natürlich stabilisiert. Da wären wir.«

Vor einem großen grauen Metallschrank, der einem Tresor ähnelte, blieben sie stehen. Marchant drehte am Einstellrad und betätigte den Hebelgriff. Mit leise saugendem Unterdruck öffnete sich die große Tür, worauf die inneren Holzschränke mit Beschriftungen in Messing-Etikettenhaltern zum Vorschein kamen, die in jede Schublade gebohrt waren. Der Gestank nach Mottenkugeln schlug D’Agosta entgegen. Marchant zog eines der Schubfächer heraus, und drei Reihen ausgestopfter Vögel waren zu sehen; jede kleine Kralle war mit einem vergilbten Namensschildchen beringt, aus den Augen quoll weiße Baumwolle.

»Die kleinen Namensschildchen stammen original von Audubon«, sagte Marchant. »Ich nehme die Vögel selbst in die Hand – bitte fassen Sie sie nicht an ohne meine Erlaubnis. Also!« Sie lächelte. »Welche würden Sie denn gerne sehen?«

D’Agosta konsultierte sein Notizbuch. Er hatte sich von einer Internetseite, die Audubons Originalpräparate und deren Standorte komplett auflistete, ein paar Vogelnamen herausgesucht. »Ich würde gerne mit dem Stelzenwaldsänger beginnen.«

»Ausgezeichnet!« Die eine Schublade wurde wieder hineingeschoben, eine andere herausgezogen. »Möchten Sie ihn sich auf dem Tisch oder in der Schublade anschauen?«

»Schublade genügt.« D’Agosta klemmte sich eine Lupe in die Augenhöhle und betrachtete leise vor sich hin murmelnd den Vogel aus der Nähe. Ein zerzaust aussehendes Ding, die Federn waren geknickt oder fehlten ganz, da und dort ragte das Füllmaterial heraus. Gleichzeitig täuschte er – erfolgreich, wie er hoffte – große Konzentration vor, hielt inne und machte sich unleserliche Notizen.

Dann richtete er sich auf. »Vielen Dank. Der nächste auf meiner Liste ist der Amerikanische Goldfink.«

»Kommt sofort.«

Wieder tat er so, als würde er den Vogel untersuchen und durch die Lupe betrachten, und wieder machte er sich Notizen und redete dabei mit sich selbst.

»Hoffentlich finden Sie, wonach Sie suchen«, sagte Marchant hoffnungsvoll.

»O ja, bestimmt. Danke.« Die ganze Angelegenheit langweilte ihn immer mehr, außerdem war ihm von dem Mottenkugelgeruch leicht übel.

»Und nun«, er tat so, als konsultiere er sein Notizbuch, »schaue ich mir mal den Karolinasittich an.«

Jähes Schweigen. Verwundert sah D’Agosta, dass Marchant ein wenig rot geworden war. »Verzeihen Sie, aber das Präparat haben wir nicht.«

D’Agosta merkte, dass seine Gereiztheit zugenommen hatte: Die hatten das Präparat gar nicht, wegen dem er hergekommen war. »Aber in allen Nachschlagewerken steht, dass es hier ist. Es heißt sogar, dass das Museum zwei davon besitzt.«

»Wir haben sie nicht mehr.«

»Und wo sind sie?«, fragte er sichtlich verärgert.

Darauf folgte ein langes Schweigen. »Ich fürchte, sie sind verschwunden.«

»Verschwunden? Verlorengegangen?«

»Nein, nicht verlorengegangen. Gestohlen. Vor vielen Jahren, als ich hier noch Assistentin war. Nur ein paar Federn sind übrig geblieben.«

Das weckte sofort D’Agostas Interesse. Sein Polizisten-Radar setzte sich in Gang. Plötzlich war ihm klar, dass das hier doch keine sinnlose Unternehmung war. »Hat es eine polizeiliche Ermittlung gegeben?«

»Ja, aber eine ziemlich oberflächliche. Es ist schwierig, die Polizei für zwei gestohlene Vögel zu begeistern, auch wenn es sich um eine ausgestorbene Art handelt.«

»Haben Sie eine Kopie des damaligen Berichts?«

»Wir halten in unseren Büchern hier eine äußerst gute Ordnung.«

»Ich würde mir den Bericht gern einmal ansehen.«

Er spürte, dass Marchant ihn neugierig betrachtete. »Verzeihen Sie, dass ich danach frage, Dr. D’Agosta, aber warum wollen Sie das? Die Vögel sind seit mehr als einem Dutzend Jahren verschollen.«

Das änderte die Situation völlig. D’Agosta überlegte. Er traf einen schnellen Entschluss, griff in die Tasche und holte seinen Dienstausweis heraus.

»Oh.« Sie blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Sie sind ja Polizist. Und gar nicht Ornithologe.«

D’Agosta steckte die Dienstmarke wieder ein. »Das stimmt. Ich bin Lieutenant Detective beim New Yorker Morddezernat. Und nun seien Sie so lieb und holen Sie die Akte.«

Sie nickte und fragte zögerlich: »Worum geht’s denn?«

D’Agosta registrierte eine gewisse Aufgeregtheit, eine gewisse unterdrückte Erregtheit in ihrem Blick. »Um Mord natürlich«, sagte er und lächelte.

Sie nickte erneut und erhob sich. Einige Minuten später kam sie mit einer dünnen Aktenmappe zurück. Als er die aufschlug, fand er darin einen höchst flüchtig verfassten Polizeibericht, ein einziger, hingeschluderter Absatz, in dem lediglich stand, dass eine Routineüberprüfung der Sammlung ergeben habe, dass die Vögel fehlten. Keinerlei Anzeichen für einen Einbruch, keine anderen Gegenstände gestohlen, keine Beweismittel am Tatort gesammelt, keine Fingerabdrücke genommen und keine Verdächtigen aufgeführt. Das einzig Brauchbare war der Zeitrahmen, der für den Diebstahl genannt wurde. Dieser musste zwischen dem 1. September und 1. Oktober stattgefunden haben, weil die Sammlung einmal im Monat auf ihren Bestand überprüft wurde.

»Haben Sie Aufzeichnungen darüber, welche Forscher die Sammlungen genutzt haben?«

»Ja. Aber wir überprüfen die Sammlung, nachdem sie gegangen sind, um sicherzugehen, dass sie nichts stibitzt haben.«

»Dann können wir den Zeitrahmen noch weiter einengen. Holen Sie mir bitte die Besucherbücher.«

»Sofort.« Marchant eilte davon, das Klappern ihrer Schuhe hallte im Dachgeschoss wider, während sie die schmale Treppe hinunterstieg.

Binnen weniger Minuten kehrte sie zurück, einen großen Buckram-Band in Händen, den sie mit einem lauten Knall auf einen Tisch in der Mitte des Raumes warf. Sie blätterte um, und D’Agosta schaute zu, bis sie schließlich die betreffende Seite aufgeschlagen hatte. D’Agosta überflog sie. Drei Forscher hatten in diesem Monat die Sammlung genutzt, der letzte am 22. September. Der Eintrag war in großer, schweifender Handschrift verfasst:

 

Matilda V. Jones

18 Agassiz Drive

Cooperstown, NY 27 490

 

Ein falscher Name und eine falsche Adresse, wenn ich denn je welche gesehen habe, dachte D’Agosta. Agassiz Drive, wer’s glaubt, wird selig. Außerdem fingen alle Postleitzahlen für New York mit 1 an.

»Sagen Sie mal, müssen die Forscher Ihnen irgendeine Art Nachweis vorlegen, von welcher Institution sie kommen, einen Ausweis oder dergleichen?«

»Nein, wir vertrauen ihnen. Vielleicht sollten wir das nicht. Aber natürlich überwachen wir sie genau. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie es einem Forscher gelingen soll, uns einen der Vögel direkt vor der Nase wegzuschnappen!«

Ich kann mir Millionen von Möglichkeiten vorstellen, dachte D’Agosta, hielt aber den Mund. Die Tür zum Dachgeschoss war mit einem altmodischen Schlüssel verschlossen, und der Schrank mit den Vögeln selbst war ein billiges Modell, das ein erfahrener Tresorknacker mühelos aufbekam. Obwohl, dachte er, nicht mal das wirklich notwendig war, denn ihm fiel ein, dass Marchant, bevor sie nach oben gingen, von der Wand in der Empfangshalle einen Schlüsselring genommen hatte. Die Eingangstür war unverschlossen gewesen – und er war einfach so ins Haus hineinspaziert. Jeder konnte warten, bis der diensthabende Kurator den Empfangstresen verließ, um die Toilette aufzusuchen, die Schlüssel vom Nagel nehmen und schnurstracks zu den Vögeln gehen. Schlimmer noch, er war sogar mit dem unverschlossenen Vogelschrank allein gelassen worden, als Marchant losging, um das Besucherbuch zu holen. Hätten die Vögel irgendwelchen Wert, dann wären sie inzwischen schon alle weg, dachte er grimmig.

D’Agosta zeigte auf den Namen. »Sind Sie der Forscherin begegnet?«

»Wie gesagt, ich habe hier damals als Assistentin gearbeitet. Mr. Hotchkiss war der Kurator, und er hat die Forscherin sicherlich im Auge behalten.«

»Und wo ist Mr. Hotchkiss jetzt?«

»Es ist vor einigen Jahren verstorben.«

D’Agosta widmete sich wieder dem Eintrag im Besucherbuch. Sollte es sich bei Matilda V. Jones tatsächlich um die Diebin handeln – und er war sich da ziemlich sicher –, dann war sie keine besonders ausgebuffte Ganovin. Abgesehen von dem falschen Namen vermittelte die Schrift nicht den Anschein, als wäre sie gefälscht. Vermutlich hatte der eigentliche Diebstahl am oder um den 23. September stattgefunden, dem Tag, nachdem man der Diebin den genauen Standort gezeigt hatte, als sie sich als Forscherin ausgab. Wahrscheinlich war sie in einem Hotel im Ort abgestiegen. Das ließ sich übers Hotelregister herausfinden.

»Wenn Ornithologen hierherkommen, um bei Ihnen zu forschen, wo steigen die normalerweise ab?«

»Wir empfehlen das Houma House drüben in St. Francisville. Es ist das einzige anständige Hotel.«

D’Agosta nickte.

»Und?«, sagte Marchant. »Haben Sie schon irgendwelche Beweise gefunden?«

»Könnten Sie die Seite hier für mich fotokopieren?«

»Ja, gern.« Sie nahm den schweren Band vom Tisch und karrte ihn weg, wodurch sie D’Agosta abermals allein ließ. Kaum war sie weg, klappte er sein Handy auf und wählte.

»Pendergast.«

»Hallo, ich bin’s, Vincent. Nur kurz: Haben Sie schon mal den Namen Matilda V. Jones gehört?«

Ein jähes Schweigen. Und dann kam Pendergasts Antwort, eisig wie ein arktischer Windstoß. »Woher haben Sie diesen Namen, Vincent?«

»Zu kompliziert, um das jetzt zu erklären. Kennen Sie den Namen?«

»Ja. So hieß die Katze meiner Frau … eine Russischblaue.«

D’Agosta war schockiert. »Die Handschrift Ihrer Frau … war sie groß und schwungvoll?«

»Ja. Würden Sie mir endlich bitte sagen, worum es geht?«

»Audubons beide ausgestopften Karolinasittiche wurden in Oakley aufbewahrt. Bis auf ein paar Federn sind sie verschwunden. Und wissen Sie was: Ihre Frau hat sie gestohlen.«

D’Agosta hörte schwerfällige Schritte die Stiege ins Dachgeschoss heraufkommen. »Ich muss jetzt Schluss machen.« Er klappte gerade das Handy zu, als Marchant mit den Fotokopien um die Ecke bog.

»Also, Lieutenant«, sagte sie und legte sie auf den Tisch, »werden Sie das Verbrechen nun für uns lösen?« Sie schenkte ihm ein lebhaftes Lächeln. D’Agosta sah, dass sie die Gelegenheit genutzt hatte, um etwas frisches Rouge aufzutragen und den Lippenstift nachzuziehen. Das hier ist für sie wahrscheinlich sehr viel spannender, dachte er, als sich Mord ist ihr Hobby anzusehen.

D’Agosta steckte die Papiere in seine Aktentasche und wandte sich zum Gehen. »Nein, ich fürchte, die Spur ist zu kalt. Viel zu kalt. Aber trotzdem vielen Dank für Ihre Hilfe.«