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South Mountain, Georgia
Der Wanderweg führte aus dem Wald heraus und hinauf zum Berggipfel. Judson Esterhazy blieb am Rand der offenen Wiese stehen, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Sonne über den kieferbestandenen Hügelketten unterging und den diesigen Abend in ein rotes Glühen tauchte. In der Ferne schimmerte ein See weißgolden im letzten Tageslicht.
Er legte eine kurze Pause ein, obwohl er nicht schwer atmete. Dieser sogenannte Berg war nur dem Namen nach einer, es war eher ein Hügel als irgendwas sonst. Der Gipfel war lang und schmal, ein Höhenrücken, bedeckt mit hohem Gras. Auf einer kahlen Erhebung aus Granit standen die Überreste eines Feuerturms.
Esterhazy blickte sich um. Der Gipfel war menschenleer. Er trat aus dem Schatten der gelben Kiefern heraus und ging über den überwucherten Pfad auf den hochaufragenden Feuerturm zu. Dort angekommen, lehnte er sich an eine der verrosteten Metallstreben, fummelte in seiner Tasche herum und zog seine Pfeife und einen Tabaksbeutel hervor. Er schob den Pfeifenkopf in den Beutel, füllte ihn und stopfte den Latakia-Tabak mit dem Daumen fest, wobei ihm der Duft in die Nase stieg. Als die Pfeife zu seiner Befriedigung gestopft war, wischte er ein paar Tabakfasern ab, drückte den Tabak noch einmal fest, zog ein Feuerzeug aus der Tasche und führte die Flamme mit leichten, gleichmäßigen Bewegungen über den Pfeifenkopf.
Der blaue Rauch trieb im Zwielicht davon. Während er rauchte, sah Esterhazy eine Gestalt am anderen Ende des Feldes auftauchen, dort, wo der südliche Weg endete. Es gab verschiedene Wanderwege, die auf den South Mountain hinaufführten, alle von unterschiedlichen Straßen und aus anderen Himmelsrichtungen.
Der Duft des teuren Tabaks, die beruhigende Wirkung des Nikotins, das tröstliche Ritual, all das besänftigte seine Nerven. Er verfolgte nicht, wie die Gestalt näher kam, sondern hielt den Blick nach Westen gerichtet, auf das diffuse orangerote Glühen über den Bergen, wo vor wenigen Augenblicken noch die Sonne gewesen war. Er hielt den Blick darauf gerichtet, bis er Stiefel durchs Gras rascheln und das schwache Zischen eines Atems hörte. Dann drehte er sich zu dem Mann um – einem Mann, den er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er hatte sich kaum verändert: ein Anflug von Hängebacken, etwas gelichtetes Haar, aber ansonsten kräftig und sehnig wie eh und je. Der Mann trug teure Sumpfstiefel und ein Chambray-Hemd.
»Guten Abend«, sagte der Mann.
Esterhazy nahm die Pfeife aus dem Mund und hob sie grüßend. »Hallo, Mike«, entgegnete er.
Der Mann stand vor dem Abendrot, weswegen seine Züge undeutlich blieben. »Also«, begann er, »klingt, als hätten Sie es auf sich genommen, ein kleines Problem zu beseitigen, und was dabei rausgekommen ist, ist ein Riesenschlamassel.«
Esterhazy hatte nicht vor, sich diesen Ton bieten zu lassen, nicht von Michael Ventura. »Nichts, was mit diesem Pendergast zu tun hat, ist ›ein kleines Problem‹«, sagte er schroff. »Es ist genau das eingetreten, wovor wir uns all die Jahre gefürchtet haben. Etwas musste getan werden, und ich habe es getan. Eigentlich wäre das Ihr Job gewesen. Aber Sie hätten es zweifellos noch mehr vermasselt.«
»Unwahrscheinlich. Solche Jobs kann ich am besten.«
Ein langes Schweigen. Esterhazy sog einen dünnen Rauchfaden ein, stieß ihn aus und versuchte, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.
»Es ist lange her«, sagte Ventura. »Lassen Sie uns nicht mit Misstönen beginnen.«
Esterhazy nickte. »Es ist nur so, dass … Also, ich hatte gedacht, es wäre vorbei. Längst vergessen.«
»Es wird nie vorbei sein. Nicht, solange wir mit Spanish Island zu tun haben.«
Ein Anflug von Besorgnis zog über Esterhazys Gesicht. »Es ist doch alles in Ordnung, oder?«
»So weit, wie man es erwarten kann.«
Wieder Schweigen.
»Hören Sie«, sagte Ventura mit milderer Stimme. »Ich weiß sehr wohl, dass das alles nicht einfach für Sie sein kann. Sie haben ein hohes Opfer gebracht, das höchste, und wir waren Ihnen sehr dankbar dafür.«
Esterhazy sog an seiner Pfeife. »Kommen wir zur Sache.«
»Okay. Also, nur damit ich das richtig verstehe. Statt Pendergast zu töten, haben Sie seinen Partner erledigt.«
»D’Agosta. Ein glücklicher Zufall. Er stellte ein ungelöstes Problem dar. Ich habe mich auch um zwei andere ungelöste Probleme gekümmert – Blast und Blackletter. Zwei Leute, die man schon längst aus dem Verkehr hätte ziehen sollen.«
Als Antwort spuckte Ventura ins Gras. »Da bin ich anderer Meinung. War ich immer. Blackletter wurde gut für sein Stillschweigen bezahlt. Und Blast ist nur indirekt beteiligt.«
»Trotzdem war er ein ungelöstes Problem.«
Ventura schüttelte nur den Kopf.
»Jetzt ist D’Agostas Freundin hier runtergekommen. Seine Freundin, die zufällig der jüngste Captain im Dezernat für Tötungsdelikte des NYPD ist.«
»Und?«
Esterhazy nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte in kühlem Ton: »Mike, Sie haben keine Ahnung, nicht den Hauch einer Vorstellung, wie gefährlich dieser Pendergast ist. Ich kenne ihn gut. Ich musste sofort handeln. Unglücklicherweise ist es mir nicht gelungen, ihn beim ersten Versuch zu töten. Was den zweiten Versuch sehr viel schwieriger machen wird. Entweder er oder wir, das begreifen Sie doch wohl, oder?«
»Was kann er denn schon wissen?«
»Er hat das Schwarzgerahmte gefunden, er weiß von Audubons Krankheit, und irgendwie hat er auch von der Familie Doane erfahren.«
Ein scharfes Luftholen. »Echt? Wie viel weiß er über die Doanes?«
»Schwer zu sagen. Er war in Sunflower. Er hat ihr Haus besucht. Er ist hartnäckig und intelligent. Sie können davon ausgehen, dass er alles weiß – oder bald wissen wird.«
»Scheiße! Wie um alles in der Welt haben die das herausgefunden?«
»Keine Ahnung. Pendergast ist nicht nur ein brillanter Ermittler, er ist auch hochmotiviert – einzigartig motiviert.«
Ventura schüttelte den Kopf.
»Und ich hege wenig Zweifel daran, dass er dieser Mordermittlerin mit seinen Verdächtigungen in den Ohren liegt, genau wie er es mit seinem Partner getan hat, diesem D’Agosta. Ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bevor sie unserem gemeinsamen Freund einen Besuch abstatten.«
Es entstand eine Pause. »Glauben Sie, es ist eine offizielle Ermittlung?«
»Scheint nicht so. Ich glaube, sie arbeiten auf eigene Faust. Ich bezweifle, dass noch andere beteiligt sind.«
Ventura dachte einen Augenblick nach, bevor er wieder das Wort ergriff. »Also beenden wir den Job.«
»Genau. Wir machen Pendergast und diesen Captain unschädlich. Sofort. Wir bringen sie alle um.«
»Der Bulle, den Sie getroffen haben, D’Agosta – sind Sie sicher, dass er tot ist?«
»Ich glaube schon. Er hat eine Drei-null-acht im Rücken.« Judson runzelte die Stirn. »Wenn er nicht aus eigenem Antrieb stirbt, werden wir nachhelfen müssen. Überlassen Sie das mir.«
Ventura nickte. »Ich sorge dafür, dass die anderen bei der Stange bleiben.«
»Machen Sie das. Brauchen Sie Hilfe? Geld?«
»Geld ist die geringste unserer Sorgen. Das wissen Sie.« Und Ventura entfernte sich über die Wiese, auf den rosigen Abendhimmel zu, bis seine dunkle Gestalt im Nadelwald am anderen Ende verschwand.
Judson Esterhazy blieb noch eine Viertelstunde gegen den Feuerturm gelehnt stehen, paffte seine Pfeife und dachte nach. Schließlich klopfte er die Pfeife an der Eisenstrebe aus und steckte sie wieder in die Tasche. Er warf einen letzten Blick auf das schwindende Licht im Westen, drehte sich um und ging den Wanderweg hinunter zur Straße auf der anderen Seite des Berges.