59
New York City
Dr. John Felder stieg die breite Steintreppe der Hauptfiliale der New York Public Library hinauf. Hinter ihm, auf der Fifth Avenue, lärmte der abendliche Verkehr: immer wieder lautes Gehupe und das Geschleife von Dieselmotoren. Einen Augenblick blieb er zwischen den großen Steinlöwen, »Geduld« und »Tapferkeit«, stehen, sah auf die Uhr und klemmte die dünne braune Aktenmappe fester unter den Arm. Dann ging er weiter zur Messingtür oben an den Stufen.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der Wachmann vor der Tür. »Die Bücherei ist für heute geschlossen.«
Felder holte seinen Sonderleseausweis heraus und zeigte ihn vor.
»Vielen Dank, Sir«, sagte der Wachmann und trat respektvoll einen Schritt zur Seite.
»Ich habe beantragt, einige Forschungsmaterialen einsehen zu dürfen«, sagte Felder. »Mir wurde gesagt, dass sie jetzt bereitliegen.«
»Erkundigen Sie sich in der Abteilung Allgemeine Recherche«, erwiderte der Wachmann. »Zimmer dreihundertfünfzehn.«
»Vielen Dank.«
Während er durch die riesige Eingangshalle ging, hallten seine Schritte laut auf dem Fußboden wider. Es war fast acht Uhr abends. Bis auf einen zweiten Wachmann an einer Empfangsstation, der ebenfalls einen Blick auf seinen Ausweis warf und das geschwungene Treppenhaus hinaufzeigte, war der hohe Raum menschenleer. Nachdem Felder im zweiten Stock angekommen war, ging er den Flur hinunter bis zur Tür des Zimmers 315.
Zimmer 315 – die Bezeichnung wurde dem Raum nicht gerecht. Fast zwei Häuserblocks lang, erhob sich der Hauptlesesaal der öffentlichen Bücherhalle von New York fünfzehn Meter empor zu einer Rokoko-Kassettendecke voller Gemälde. Elegante Kristallleuchter hingen über scheinbar endlosen Reihen langer Eichenlesetische, die nach wie vor über ihre originalen Bronzelampen verfügten. Hier und da saßen Leser, die eine Sondergenehmigung besaßen, an den Tischen, hockten über ihren Büchern oder tippten leise in ihre Laptops. Zwar standen an den Wänden viele Bücher, doch sie waren sozusagen nur ein Tropfen im Eimer der Bücherei. In den unterirdischen Geschossen des Hauptgebäudes und den anderen unter der Grünfläche des angrenzenden Bryant Park lagerten sechs Millionen Bücher.
Doch Felder war nicht hergekommen, um sich Bücher anzuschauen. Der Grund seines Besuchs war die riesige Sammlung genealogischen Forschungsmaterials der Bibliothek.
Er ging zur Auskunftsstation, die den Raum in zwei Hälften teilte, aus reichverziertem Holz gefertigt war und die Fläche eines kleinen Einfamilienhauses hatte. Nach einem kurzen, geflüsterten Gespräch wurde ihm ein Bücherkarren mit Bestandsbüchern und Aktenordnern hingestellt. Er schob den Bücherkarren zum nächstgelegenen Tisch, setzte sich und begann, die Materialien auf die polierte Tischplatte zu legen. Die Akten und Bücher waren vergilbt und eselsohrig, aber ansonsten in tadellosem Zustand. Und sie hatten eine Gemeinsamkeit: Sie datierten aus der Zeit zwischen 1870 und 1880 und dokumentierten den Bereich von Manhattan, in dem Constance Greene laut eigener Aussage aufgewachsen war.
Seit der Anhörung betreffend die Sicherheitsverwahrung war Felder die Geschichte dieser jungen Frau nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Was sie da erzählt hatte, war natürlich Nonsens – das waren die Ergüsse von einer, die völlig den Kontakt zur Realität verloren hatte. Der klassische Fall einer nicht näher bezeichneten psychotischen Störung mit Wahnvorstellungen.
Trotzdem kam Constance Greene ihm nicht wie jemand vor, der die Verbindung zur Wirklichkeit völlig verloren hatte. Sie hatte etwas an sich, das ihn verwirrte – nein, faszinierte. Ich wurde tatsächlich in der Water Street geboren, in den Siebzigern – allerdings in den Siebzigern des neunzehnten Jahrhunderts. Alles, was Sie wissen müssen, finden Sie im Stadtarchiv in der Centre Street, Weiteres in der New York Public Library … das weiß ich, weil ich selbst die Unterlagen gesehen habe.
War das irgendeine Art Fingerzeig, den sie ihm hatte geben wollen, eine geringfügige Information, die ihr Geheimnis möglicherweise aufklären könnte? Handelte es sich vielleicht um einen Hilfeschrei? Nur eine sorgfältige Lektüre der Akten und Dokumente konnte da eine Antwort geben. Kurz fragte er sich, was er hier eigentlich tat. Seine Gutachtertätigkeit in dem Fall war abgeschlossen, außerdem war er ein vielbeschäftigter Psychiater mit einer gutgehenden Privatpraxis. Und dennoch … er war beinahe schon unanständig neugierig.
Eine Stunde später setzte sich Felder auf seinem Stuhl zurück und atmete tief durch. Unter den vergilbten Dokumenten befanden sich auch Angaben über eine Volkszählung für Manhattan, in der eine Familie Greene als wohnhaft in der Water Street 18 aufgeführt war.
Felder ließ die Akten auf dem Tisch liegen, stand auf und begab sich die Treppe hinunter zur Abteilung Genealogische Nachforschungen im ersten Stock. Seine Recherche der Akten des Katasteramtes und des Amtes für den Militärdienst ergab nichts, das Gleiche galt für die allgemeine Volkszählung der Vereinigten Staaten von 1880, aber der Zensus von 1870 führte einen Horace Greene auf, wohnhaft in Putnam County, New York. Eine Lektüre der Steuerakten von Putnam aus den davorliegenden Jahren lieferte einige weitere kleine Informationen.
Felder stieg die Treppe langsam wieder hinauf und setzte sich an seinen Leseplatz, öffnete vorsichtig die braune Aktenmappe, die er mitgebracht hatte, und legte sich ihren spärlichen Inhalt – den er sich aus dem Staatsarchiv beschafft hatte – auf dem Tisch zurecht.
Was genau hatte er bislang erfahren?
Im Jahre 1870 hatte es einen gewissen Horace Greene, Farmer in Carmel, New York, gegeben. Ehefrau Chastity Greene; eine Tochter, Mary, acht Jahre alt.
1874 wohnte Horace Greene in der Water Street 18 in Lower Manhattan, Beruf: Hafenarbeiter. Inzwischen hatte er drei Kinder: Mary, 12; Joseph, 3; Constance, 1.
1878 hatte das Gesundheitsamt der Stadt New York Sterbeurkunden sowohl für Horace als auch Chastity Greene ausgestellt. Als Todesursache war in beiden Fällen Tuberkulose angegeben. Damit waren die drei Kinder – jetzt im Alter von sechzehn, sieben und fünf – Waisen.
Eine Polizeiakte aus dem Jahr 1878 gab an, dass Mary Greene wegen »Streetwalkings«, also Prostitution, angeklagt wurde. Die Gerichtsakte ließ durchblicken, dass sie ausgesagt hatte, sie habe versucht, Arbeit als Wäscherin und Näherin zu finden, der Lohn jedoch nicht gereicht habe, um sich und ihre Geschwister zu ernähren. Akten der Sozialfürsorge aus demselben Jahr verzeichneten, dass Mary Greene auf unbestimmte Zeit in die Mission im Stadtteil Five Points, ein Waisenhaus, eingewiesen wurde. Weitere Aufzeichnungen gab es keine; Mary Greene schien verschwunden zu sein.
Eine andere Polizeiakte aus dem Jahr 1880 verzeichnete, dass ein gewisser Castor McGillicutty Joseph Greene, 10, zu Tode geprügelt hatte, als er den Jungen dabei ertappte, ihn bestehlen zu wollen. Strafe: zehn Dollar und sechzig Tage Zwangsarbeit in »The Tombs«, der berüchtigten New Yorker Justizvollzugsanstalt. Später wurde McGillicutty verlegt.
Und das war’s. Die letzte – und einzige – Erwähnung einer Constance Greene fand sich in der Volkszählung von 1874.
Felder steckte die Dokumente in die Aktenmappe zurück und schloss sie mit einem Seufzen. Es war doch eine ziemlich deprimierende Geschichte. Es schien klar zu sein, dass die Frau, die sich Constance Greene nannte, sich dieser speziellen Familie – und dieser einen dürftigen Information – bedient und sie zum Gegenstand ihre Wahnvorstellungen gemacht hatte. Aber warum? Warum hatte sie aus den Tausenden, Millionen Familien der Stadt New York – viele mit umfangreicheren und bewegteren Lebensgeschichten – gerade diese ausgewählt? Konnte es wirklich sein, dass sie aus dieser Familie stammte? Aber der Stammbaum endete doch mit dieser Generation. Er hatte nichts finden können, was Grund zu der Annahme lieferte, dass auch nur ein einziger Angehöriger der Familie Greene überlebt hatte.
Abermals seufzend erhob er sich von seinem Platz, ging zur Auskunftsstation und bat um einige Dutzend lokale Manhattaner Zeitungen aus den späten 1870ern. Er blätterte sie aufs Geratewohl durch und blickte lustlos auf die Artikel, Bekanntmachungen und Annoncen. Natürlich war das ein hoffnungsloses Unterfangen. Er wusste ja gar nicht genau, wonach er suchte – er wusste im Grunde nicht mal, wieso er danach suchte. Was hatte diese psychisch schwerkranke Constance Greene, das ihn so stutzig machte? Es war ja nicht so, dass …
Plötzlich – er blätterte in einer Ausgabe aus dem Jahr 1879 des in Five Points erschienenen Boulevardblatts New York Daily Inquirer – hielt er inne. Auf einer Seite im Innenteil war ein Kupferdruck mit dem Untertitel Gossenkinder beim Spielen zu sehen. Die Illustration zeigte eine Reihe von äußerst ärmlichen, heruntergekommenen Wohnhäusern. Kleine Kinder mit schmutzigen Gesichtern, die Stickball auf der Straße spielten. Doch ein wenig abseits stand ein mageres Mädchen, das ihnen zusah, mit einem Besen in der Hand. Es war unterernährt, ausgezehrt geradezu, und wirkte, im Gegensatz zu den anderen Kindern bedrückt, beinahe verängstigt. Doch was Felder sofort ins Auge sprang, das waren die Gesichtszüge. Das Mädchen war Constance Greene wie aus dem Gesicht geschnitten.
Einen langen Augenblick betrachtete Felder den Kupferdruck. Dann legte er mit nachdenklicher, ernster Miene und sehr langsam die Seiten der Zeitung zusammen.