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Pendergast tauchte aus seiner Ohnmacht auf und nahm die Welt ringsum wahr. Er lag in einem der rondevaals. Das ferne Knattern von Hubschrauberrotoren drang durch das Strohdach der Hütte und wurde rasch lauter.

Er setzte sich auf, stieß einen Schrei aus und sah, wie Woking, der Distriktskommissar, von dem Stuhl aufsprang, auf dem er am anderen Ende der Hütte gesessen hatte.

»Überanstrengen Sie sich nicht. Der Rettungshubschrauber ist schon da, es wird sich um alles gekümmert …«

Pendergast setzte sich mühsam auf. »Meine Frau! Wo ist sie?«

»Seien Sie ein braver Junge und –«

Pendergast schwang die Beine aus dem Bett und blieb unsicher auf wackeligen Beinen stehen, angetrieben von reinem Adrenalin. »Meine Frau, Sie Dreckskerl!«

»Wir waren machtlos, sie ist einfach fortgezerrt worden, einer unserer Leute war ohne Besinnung, und der andere war am Verbluten …«

Pendergast wankte zur Tür der Hütte. Seine Büchse war da, sie stand im Gestell. Er packte sie, klappte sie auf, sah, dass noch eine Patrone drin war.

»Was in Gottes Namen machen Sie denn da?«

Pendergast klappte die Büchse zu und richtete sie auf den Distriktskommissar. »Aus dem Weg!«

Woking trat beiseite. Taumelnd trat Pendergast aus der Hütte. Die Sonne stand tief am Himmel. Zwölf Stunden waren vergangen. Der Distriktskommissar kam, wild mit den Armen gestikulierend, hinter ihm hergelaufen. »Hilfe! Ich brauche Hilfe! Der Mann ist verrückt geworden!«

Pendergast rannte durch die Bresche im Unterholz und kämpfte sich durch das hohe Gras, bis er den Trampelpfad gefunden hatte. Die vereinzelten Rufe aus dem hinter ihm liegenden Camp waren nicht mehr zu hören. Ohne auf seine Schmerzen zu achten, stürmte er den Trampelpfad mit den Blutspuren entlang und schob dabei das Gestrüpp zur Seite. Fünf Minuten vergingen, zehn, dann fünfzehn – und dann stand er plötzlich in der Salzpfanne. Dahinter lagen das vlei, das dichtstehende Gras, der Hain der Akazienbäume. Er holte tief Luft, und dann lief er taumelnd über die Trockensenke und ins Gras hinein, schwenkte dabei seine Waffe mit dem guten Arm hin und her, um sich einen Weg zu bahnen, worauf die Vögel über ihm ob der Ruhestörung kreischten. Seine Lunge schmerzte, sein Arm war blutüberströmt. Trotzdem rückte er weiter vor, aus der aufgerissenen Schulter stark blutend, unartikulierte Laute ausstoßend. Und dann blieb er stehen und verstummte. Vor ihm im Gras lag etwas, klein, blass, auf dem brettharten Schlickboden. Er starrte darauf herab. Es war eine abgetrennte Hand – eine menschliche Hand, an deren Ringfinger ein Stern-Saphir steckte.

Mit einem tierähnlichen Aufschrei der Wut und Trauer schritt Pendergast taumelnd weiter und stürmte aus dem hohen Gras auf eine offene Fläche, wo der Löwe, dessen Mähne rot strahlte, kauerte und seelenruhig fraß. Pendergast erfasste das Grauen mit einem Blick: die Knochen mit den Fleischfetzen, den Hut seiner Frau, die zerrissene Khakikleidung und dann plötzlich den Geruch, den schwachen Duft ihres Parfüms, der sich mit dem Gestank der Großkatze verband.

Als Letztes sah er Helens Kopf. Er war vom Körper abgetrennt, ansonsten jedoch – welch grausame Ironie! – unversehrt verglichen mit dem Rest. Blicklos starrten Helens blau-violette Augen zu ihm herauf.

Pendergast ging wankend bis auf zehn Meter Entfernung an den Löwen heran. Der hob seinen riesigen Kopf, leckte sich mit der Zunge über die blutigen Lefzen und sah ihn seelenruhig an. Während er stoßweise Luft holte, hob Pendergast mit seinem unverletzten Arm die Holland & Holland, stützte sie mit dem verletzten Arm und nahm den Löwen über das Elfenbein-Korn ins Visier. Und drückte ab. Das gewaltige Geschoss mit einer Mündungsenergie von 6600 Joule traf den Löwen genau zwischen die Augen, etwas oberhalb von ihnen, so dass der Kopf sich ähnlich einer Sardinenbüchse öffnete und das Schädeldach in einem roten Sprühnebel aufplatzte. Der mächtige, rotmähnige Löwe rührte sich kaum; er sank bloß auf seine Beute herab und blieb dann reglos liegen.

Ringsum in den ausgedörrten Fieberbäumen kreischten Tausende Vögel.