EPILOG

Savannah, Georgia

Judson Esterhazy saß in einem Sessel in der Bibliothek seines Hauses am Whitfield Square. Es war ein überraschend kühler Maiabend, weshalb ein kleines Feuer im Kamin brannte und die Luft mit dem Geruch von brennendem Birkenholz parfümierte.

Nachdem er einen Schluck von dem guten Highland-Malt genommen hatte, den er aus dem Keller heraufgeholt hatte, spülte er das torfige Getränk erst in seinem Mund, bevor er es herunterschluckte. Doch der Whisky schmeckte bitter, so bitter wie seine Gefühle im Moment waren.

Pendergast hatte Slade getötet. Es hieß, es sei Selbstmord gewesen, aber er, Judson, wusste, dass das gelogen war. Irgendwie, auf irgendeine Weise, hatte Pendergast das hinbekommen. So schlimm die letzten zehn Jahre auch verlaufen sein mochten, die letzten Augenblicke des alten Mannes mussten fürchterlich gewesen sein, eine unvorstellbare geistige Tortur. Er hatte miterlebt, wie Pendergast andere Menschen manipulierte, und er hegte keinerlei Zweifel, dass er auch Slades Demenz ausgenutzt hatte. Es war Mord – schlimmer als Mord.

Als aus dem Glas, das in seiner Hand zitterte, ein paar Tropfen auf den Tisch fielen, stellte er es heftig ab. Wenigstens wusste er mit absoluter Sicherheit, dass Slade ihn nicht verraten hatte. Der alte Mann liebte ihn wie einen Sohn und hatte trotz allem Wahnsinn und Leid sein Geheimnis sicherlich bis zum letzten Augenblick bewahrt. Manche Dinge waren sogar größer als das Irresein.

Er hatte Slade früher auch geliebt, doch dieses Gefühl war vor zwölf Jahren erloschen. Er hatte einen kurzen Blick auf die andere Seite von Slade erhaschen können, die ihm zu nahe war, als dass er sich damit einverstanden erklären konnte. Sie erinnerte ein wenig zu stark an den eigenen gewalttätigen Vater und dessen ziemlich diabolische Forschungen, derer sich Judson nur allzu bewusst war. Aber vielleicht war es ja das Schicksal aller Väter und Vaterfiguren – zu enttäuschen, zu verraten, in der Statur zu schrumpfen, wenn man selbst älter und weiser wurde.

Er schüttelte den Kopf. Was für ein Fehler das alles gewesen war, was für ein schrecklicher, tragischer Irrtum. Und wie paradox, wenn man darüber nachdachte. Als Helen ihm die Idee erstmals vorgetragen hatte, eine Idee, über die sie im buchstäblichen Sinne durch ihr Interesse an Audubon gestolpert war, war es beinahe wie ein Wunder erschienen – ihm und auch ihr. Es könnte ein Wundermedikament werden, hatte sie gesagt. Rede du mit verschiedenen Pharmafirmen, Judson. Du weißt doch bestimmt, an wen du dich wenden könntest. Und er hatte es gewusst. Er wusste, wie man die Finanzierung sicherstellte. Und er kannte auch das perfekte Unternehmen, das das Medikament entwickeln könnte: Longitude, geleitet von seinem Doktorvater, Charles Slade, der jetzt im privaten Sektor tätig war. Sein charismatischer ehemaliger Professor hatte ihn in seinen Bann gezogen, und so waren sie in Kontakt geblieben. Slade war die Idealbesetzung, er konnte es schaffen, ein solches Medikament zu entwickeln – ein kreativer, unabhängiger Denker, risikobereit, äußerst diskret …

Und jetzt war er tot, Pendergast sei Dank. Pendergast, der die Vergangenheit aufgerührt, alte Wunden aufgerissen und direkt oder indirekt mehrere Todesfälle verursacht hatte.

Esterhazy packte das Glas und leerte es, ohne den Whisky zu schmecken. Auf dem Sofatisch, auf dem die Flasche und das kleine Glas standen, lag auch eine Broschüre. Er nahm sie in die Hand und blätterte darin. Sein Zorn wich einem grimmigen Gefühl der Befriedigung. Die geschmackvoll gestaltete Broschüre bewarb die kultivierten Freuden eines Hotels im schottischen Hochland, bekannt als die Kilchurn Lodge. Es handelte sich um ein großes Herrenhaus aus Naturstein an einem windumtosten Abhang mit Blick auf das Loch Duin und die Grampian Mountains. Die Lodge, eine der malerischsten und einsamsten in Schottland, bot ausgezeichnete Jagdmöglichkeiten für Reb- und Birkhuhn, Lachsfischen und die Rothirschjagd. Man nahm dort nur einige ausgewählte Gäste auf und rühmte sich seiner Abgeschiedenheit und Diskretion; die Jagd konnte mit oder ohne Führer erfolgen, je nachdem, was man bevorzugte.

Natürlich würde er die Jagd ohne Führer vorziehen.

Zehn Jahre zuvor hatten Esterhazy und Pendergast eine Woche in Kilchurn verbracht. Die Lodge lag inmitten eines großen und entlegenen Anwesens von 16 000 Hektar, einst das private Jagdrevier der Lairds von Atholl. Esterhazy war tief beeindruckt gewesen von der menschenleeren, rauhen Landschaft, den tiefen, in den Tälern verborgenen Lochs, den reißenden, von Forellen und Lachsen wimmelnden Bächen, den windgepeitschten Mooren und dem düsteren, unwirtlichen Foulmire, den Heideböschungen und den bewaldeten Glens. In einer solchen Landschaft konnte ein Mensch auf immer verschwinden, konnten seine Gebeine vermodern, ungesehen, gepeitscht vom Wind und vom Regen, bis nichts mehr davon übrig war.

Nachdem er noch einen kleinen Schluck von dem Single-Malt, der sich inzwischen in seiner Hand erwärmt hatte, getrunken hatte, war er ruhiger. Noch war nicht alles verloren. Im Grunde hatten sich die Dinge sogar zum Besseren gewendet – zum ersten Mal seit langer Zeit. Er legte die Broschüre beiseite und nahm einen kurzen Brief zur Hand, geschrieben in einer altmodischen, gestochenen Schrift auf cremefarbenem Büttenpapier.

Das Dakota

New York City

24. April

 

Mein lieber Judson,

ich danke Dir ganz aufrichtig für Deine freundliche Einladung. Nach einigem Nachdenken glaube ich, dass ich Dein Angebot annehmen werde, und zwar mit Freuden. Du hast vermutlich recht, die jüngsten Ereignisse haben doch einen gewissen Tribut gefordert. Es wäre reizvoll, Kilchurn Lodge nach so vielen Jahren wiederzusehen. Ein vierzehntägiger Urlaub wäre eine willkommene Erholung, und das Zusammensein mit Dir ist mir stets eine Freude.

In Beantwortung Deiner Frage: Ich habe vor, meine Purdey Kaliber 16, eine H & H Holland Bockdoppelflinte Kaliber 410 sowie eine 300 H & H mit Kammerverschluss für die Hirschjagd mitzubringen.

 

Mit freundlichen Grüßen,

A. Pendergast