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Malfourche, Mississippi

Das wendige Utility-Boot, mit Pendergast am Steuer, glitt in einen freien Liegeplatz auf der anderen Seite des Flussarms, am Anleger hinter Tiny’s Bait ’n’ Bar. Die Sonne, die fast am höchsten Punkt stand, ergoss eine nicht jahreszeitgemäße Hitze und Schwüle in jede Ecke des schlammigen kleinen Hafens.

Pendergast sprang vom Boot, machte es fest und half Hayward auf den Anlegesteg, dann reichte er ihr die beiden Krücken.

Es war zwar erst später Vormittag, aber trotzdem ertönte schon laute Country-and-Western-Musik aus der maroden Bait ’n’ Bar auf der anderen Seite des Anlegers. Pendergast schnappte sich June Brodies Vorderschaftrepetierflinte Kaliber 12 und hob sie über den Kopf.

»Was tun Sie denn da?«, fragte Hayward, die sich auf die Krücken stützte.

»Ich mache die Leute auf uns aufmerksam. Wie ich bereits andeutete, haben wir hier noch etwas zu erledigen.« Ein gigantischer Knall ertönte, als Pendergast mit der Schrotflinte in die Luft schoss. Kurz darauf strömten mehrere Männer aus der Bar wie Hornissen aus ihrem Nest, viele mit Bierdosen in der Hand. Tiny und Larry waren nirgends zu sehen, aber der Rest der Truppe war in voller Stärke angetreten. Hayward erinnerte sich an die Gaffer mit ihren schwitzenden Gesichtern mit einem Hauch von Ekel. Schweigend blickte die große Gruppe auf sie und Pendergast. Sie hatten sich vor der Abfahrt von Spanish Island gewaschen, und June Brodie hatte Hayward eine saubere Bluse gegeben, aber sie mussten trotzdem einen ziemlich abgerissenen Eindruck machen.

»Kommt mal her, Jungs, und passt auf, was hier passiert!«, rief Pendergast, während er über den Anleger auf Tiny’s und den zweiten Anleger zuging.

Zögernd und misstrauisch kamen die Männer ihnen entgegen. Schließlich trat ein Mann, mutiger als die anderen, vor. Er war groß und dick, wirkte irgendwie gemein, hatte ein kleines, frettchenhaftes Gesicht und einen großen, dicken, formlosen Leib. Er starrte sie aus zusammengekniffenen blauen Augen an. »Was wollt ihr denn jetzt schon wieder?«, sagte er und rückte vor, während er seine Bierdose ins Wasser warf. Hayward erkannte ihn: Er war einer von denen, die am lautesten gejubelt hatten, als ihr Büstenhalter entzweigeschnitten wurde.

»Ihr habt gesagt, dass ihr uns in Ruhe lassen wollt«, rief jemand anders aus.

»Ich habe gesagt, dass ich euch nicht verhafte. Ich habe nicht gesagt, dass wir nicht zurückkommen, um euch zu ärgern.«

Der Mann zog seine Hose hoch. »Sie ärgern mich bereits.«

»Ausgezeichnet.« Pendergast betrat den Anleger, der hinter Tiny’s lag und der mit Booten diverser Bauart voll belegt war. Hayward erkannte die meisten, sie waren am Vortag alle beim Hinterhalt dabei gewesen. »Und jetzt: Welches dieser schönen Boote gehört Larry?«

»Das geht dich nichts an.«

Pendergast neigte die Schrotflinte lässig nach unten, zeigte auf ein Boot in der Nähe und drückte ab. Ein gewaltiger Knall hallte über den See, das Boot schaukelte, eine Wasserfontäne schoss in die Höhe, und dann war ein Loch von zwanzig Zentimeter Durchmesser in dem Aluminiumrumpf zu sehen. Brackiges Wasser wirbelte ins Boot, der Bug senkte sich nach unten.

»Was zum Teufel?«, schrie ein Mann in der Menge. »Das ist mein Boot!«

»Entschuldigen Sie, aber ich dachte, es gehört Larry. Also, welches ist Larrys? Das hier?« Pendergast richtete die Waffe auf das nächste Boot und gab einen Schuss ab. Wieder erhob sich eine Wasserfontäne, bespritzte die Männer, und das Boot ruckte kurz und sank auf der Stelle.

»Du Hurensohn!«, kreischte ein anderer Mann. »Larry gehört das Legend! Das da drüben!« Er zeigte auf ein Sportfischerboot am Ende des Anlegers.

Pendergast schlenderte hinüber und inspizierte es. »Hübsch. Sagt Larry, das ist dafür, dass er meinen Dienstausweis in den Sumpf geworfen hat.« Wieder eine Ladung aus der Schrotflinte, die den Außenbordmotor derart durchsiebte, dass die Verkleidung absprang. »Und dies dafür, weil er ein so mieser Typ ist.« Der zweite Schuss durchlöcherte das Boot am Heckspiegel, so dass eine Fontäne aufstieg. Das Heck lief voll Wasser, der Bug neigte sich nach oben, der Motor versank in den Fluten.

»Verflucht noch mal, der Dreckskerl spinnt ja!«

»In der Tat.« Pendergast schlenderte über den Anleger, schob neue Patronen in die Schrotflinte und zielte lässig auf das nächste Boot. »Das hier dafür, dass ihr uns irregeführt habt.« Bumm.

Noch ein lockerer Schritt. »Und das hier für den Doppelschlag in den Solarplexus.«

Bumm.

»Und dies dafür, dass ihr mich bespuckt habt.«

Bumm. Bumm. Noch zwei Boote gingen unter.

Pendergast zog seine 45er und reichte sie Hayward. »Behalten Sie die Männer im Auge, solange ich nachlade.« Er zog eine Handvoll Patronen aus der Tasche und schob sie in die Waffe.

»Und das hier ist ganz besonders dafür, dass ihr meine geschätzte Kollegin gedemütigt habt und sie euren vulgären, lüsternen Blicken ausgesetzt war. Wie gesagt, das war keine Art, eine Lady zu behandeln.« Während er über den Anleger schlenderte, schoss er in den Boden jedes verbliebenen Boots, eins nach dem anderen, wobei er nur zum Nachladen stehen blieb. Die Männer starrten ungläubig hin, brachten vor lauter Schreck aber kein Wort heraus.

Pendergast blieb vor der Gruppe der schwitzenden, zitternden, bierseligen Männer stehen. »Ist sonst noch jemand in der Bar?«

Keiner antwortete.

»Das können Sie doch nicht machen«, sagte einer mit brechender Stimme. »Das verstößt gegen das Gesetz.«

»Vielleicht sollte jemand das FBI anrufen«, sagte Pendergast. Er schlenderte zur Tür der Bait ’n’ Bar, drückte sie einen Spaltbreit auf, warf einen Blick hinein. »Ma’am«, sagte er. »Bitte kommen Sie heraus.«

Eine nervös-ängstliche Frau mit wasserstoffblond gefärbten Haaren und langen roten Fingernägeln kam herausgeeilt, fiel in Laufschritt und rannte zum Parkplatz.

»Sie haben einen Absatz verloren!«, rief Pendergast ihr nach, aber sie lief weiter, hinkend wie ein lahmes Pferd.

Pendergast betrat die Bar. Hayward, die Pistole in der Hand, hörte, wie er Türen öffnete und schloss und dabei rief. Er kam wieder heraus. »Keiner zu Hause.« Er ging um das Gebäude herum zur Vorderseite und pflanzte sich vor den Männern auf. »Bitte ziehen Sie sich alle auf den Parkplatz zurück und gehen Sie hinter den parkenden Autos in Deckung.«

Niemand rührte sich.

Bumm! Pendergast gab einen Warnschuss über ihre Köpfe ab, worauf alle zum unbefestigten Parkplatz liefen. Dann ging er rückwärts von dem Gebäude weg, schob eine neue Patrone in die Schrotflinte und zielte auf den großen Propangastank, der dicht an der einen Außenwand des Angelshops stand. Er drehte sich zu Hayward um.

»Captain, möglicherweise brauchen wir die Durchschlagskraft Ihres Colts, lassen Sie uns also bei drei das Feuer eröffnen.«

Hayward nahm Schusshaltung ein. Ich könnte mich an die Pendergast-Methode durchaus gewöhnen, dachte sie, als sie auf den großen weißen Tank zielte.

»Eins …«

»Heiliger Bimbam, nein!«, jammerte eine Stimme.

»Zwei …«

»Drei!«

Sie feuerten gleichzeitig, der 45er hatte einen kräftigen Rückschlag. Es folgte eine gigantische Detonation, und eine gewaltige Welle aus Hitze und Überdruck spülte über sie hinweg. Das gesamte Gebäude verschwand, wurde verschlungen von einem Feuerball. Daraus stiegen Tausende Stückchen von diesem und jenem empor, Rauchfähnchen hinter sich herziehend, die auf sie herabregneten: sich windende, große Regenwürmer, Käfer, brennende Maden, Holzstücke, Angelrollen, Luftschlangen aus Angelleine, zerfetzte Angelruten, zerbrochene Schnapsflaschen, Schweinefüße, Mixed Pickles, Zitronenscheiben, Untersetzer und explodierte Bierdosen.

Der Feuerball stieg in die Höhe – eine Miniatur-Pilzwolke, während die Trümmerteile weiter herabregneten. Allmählich verzog sich der Rauch, der brennende Stumpf des Gebäudes kam in Sicht. Es war so gut wie nichts mehr übrig.

Pendergast schlang sich die Flinte über die Schulter und schlenderte auf dem Anleger auf Hayward zu. »Captain, wollen wir gehen? Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir Vincent einen Besuch abstatten. Personenschutz oder nicht, ich werde mich besser fühlen, wenn wir ihn in einem neuen Quartier untergebracht haben – vielleicht an einem weniger abgelegenen Ort, nicht weit weg von New York City, wo wir ihn selbst im Auge behalten können.«

»Amen!« Und mit einer gewissen Erleichterung dachte Hayward, dass es etwas Gutes hatte, nicht noch viel länger mit Pendergast zusammenzuarbeiten. Denn sie hatte doch ein kleines bisschen zu viel Gefallen daran gefunden.