7
Draußen auf dem Gang wäre sie fast mit Smithback zusammengestoßen. Er beugte sich zu ihr hin und fragte mit einem spitzbübischen Zwinkern in den Augen: »Na, wie wär’s mit einem kleinen Mittagessen?«
»Nein«, antwortete Margo. »Hab zuviel zu tun.« Zweimal Smithback an einem Tag – das war möglicherweise eine Dosis zu viel.
»Nun kommen Sie schon«, drängte er. »Ich habe auch ein paar neue, grausige Details über die Morde für Sie.«
»Okay.« Margo beschleunigte ihre Schritte den Gang entlang und bemerkte irritiert, daß der Journalist ihre Neugier geweckt hatte.
Smithback packte sie am Arm. »Ich habe gehört, daß es heute in der Cafeteria eine wunderbar abgelagerte und ofengetrocknete Lasagne geben soll.« Er schob Margo zu einem Aufzug.
Im Speisesaal saßen die üblichen Kuratoren, die Wachleute, die sich lautstark unterhielten, Techniker und Präparatoren in weißen Laborkitteln. Ein Kurator reichte bei seinen Tischnachbarn Proben aus einem Forschungsprojekt herum, die von den anderen Wissenschaftlern mit bewunderndem und interessiertem Gemurmel betrachtet wurden. Margo warf einen Blick darauf. Es waren irgendwelche in Gläser mit leicht trübem Formaldehyd eingelegte Würmer.
Sie setzten sich, und Margo säbelte lustlos an ihrer harten Lasagne herum.
»Ist doch genauso, wie ich versprochen habe, oder?« fragte Smithback, der ein Stück von seiner Portion in die Hand nahm und mit lautem Knacken eine Ecke abbiß. »War sicher seit neun Uhr früh auf der Warmhalteplatte, wenn nicht noch länger.«
Er kaute geräuschvoll. »Nun, die Polizei hat es endlich offiziell bekanntgegeben. Gestern nacht sind hier zwei Morde passiert. Brillante Erkenntnis, nicht wahr? Erinnern Sie sich noch an all die Fragen der Reporter nach den wilden Tieren? Nun, es besteht wohl die Möglichkeit, daß die beiden Jungen tatsächlich von einem wilden Tier zerfleischt wurden.«
»Bitte, nicht beim Essen!« sagte Margo.
»Sie haben recht. Aber es klang so, als wären die beiden buchstäblich zerfetzt worden.«
Margo sah auf. »Bitte nicht.«
»Das ist kein Scherz«, fuhr Smithback fort. »Und jetzt muß alles drangesetzt werden, um diesen Fall zu lösen, wo doch die große Ausstellung bevorsteht. Ich habe gehört, daß die Polizei sogar eine Pathologin von der New Yorker Zoologischen Gesellschaft zu Rate gezogen haben soll. Die kann angeblich von Klauen gerissene Wunden besser lesen als Helen Keller die Blindenschrift.«
»Verdammt noch mal, Smithback«, sagte Margo und ließ die Gabel sinken. »Ihr Benehmen und diese grausigen Details machen mich ganz krank, besonders beim Essen. Kann ich nicht zuerst in Ruhe meine Mahlzeit zu mir nehmen, und danach erzählen Sie mir all das Zeug?«
»Diese Frau«, fuhr Smithback fort und ignorierte den Ausbruch einfach, »ist eine Expertin für Großkatzen. Sie heißt Dr. Matilda Ziewicz. Komischer Name, was? Klingt irgendwie fett.«
Trotz ihres Ärgers mußte Margo ein Lächeln unterdrücken. Smithback war zwar ein Knallkopf, aber wenigstens ein witziger Knallkopf. Sie schob ihr Tablett von sich. »Wo haben Sie denn das alles gehört?« fragte sie.
Smithback grinste. »Ich habe da so meine Quellen.« Er schaufelte sich noch ein Stück Lasagne in den Mund. »Zufälligerweise habe ich einen alten Freund von mir getroffen, der für die News arbeitet. Jemand dort hat die Geschichte von einer Quelle im Polizeipräsidium. In den Nachmittagsausgaben der Zeitungen wird sie bestimmt ganz groß aufgemacht werden. Können Sie sich Wrights Gesicht vorstellen, wenn er das liest? O je, o je!«
Smithback kicherte einen Moment in sich hinein, bevor er einen weiteren Bissen nahm. Als er seine Lasagne aufgegessen hatte, machte er sich über den Rest von Margos Portion her. Obwohl er so ein dürrer Kerl war, aß er wie ein Scheunendrescher.
»Aber wie kann denn ein wildes Tier frei im Museum herumlaufen?« fragte Margo. »Das ist doch absurd.«
»Ja? Dann sagen Sie mir mal, warum die mit einem Bluthund die Gänge abgehen und nach dem Mistding suchen?«
»Jetzt machen Sie aber Witze.«
»Ich doch nicht. Fragen Sie doch die Leute vom Wachdienst. Hier in diesem Bau gibt es eine halbe Million Quadratmeter, in denen sich eine große Katze versteckt halten könnte, inklusive gut acht Kilometer Luftschächte der Klimaanlage, die so groß sind, daß sogar ein Mensch durchkriechen könnte. Und unter dem Museum befindet sich ein wahres Labyrinth aus stillgelegten Stollen. Die nehmen das verdammt ernst.«
»Stollen?«
»Ja. Haben Sie denn nicht meinen Artikel im Hausmagazin von letztem Monat gelesen? Der erste Museumsbau wurde auf einem artesischen Sumpf errichtet, den man nicht trockenlegen konnte. Also hat man all diese Stollen gebaut, um das Wasser abzuleiten. Als dieses Gebäude im Jahr 1911 abbrannte, hat man einfach den Neubau auf die alten Grundmauern gestellt. Die unteren Kellergeschosse sind riesig, reichen mehrere Ebenen nach unten, und in vielen Räumen gibt es nicht einmal elektrisches Licht. Ich möchte bezweifeln, daß überhaupt noch jemand am Leben ist, der sich dort drunten wirklich auskennt.«
Smithback kaute das letzte Stück Lasagne und schob den Teller zur Seite. »Und dann gibt es ja auch noch all die Gerüchte über das Museumsmonster.«
Jeder, der im Museum arbeitete, kannte diese Gerüchte. Wartungsarbeiter der Spätschicht wollen das Monster aus den Augenwinkeln gesehen haben, Assistenzkuratoren schwören, daß es auf ihrem Weg zu den Aufbewahrungsgewölben in den Schatten der nur schlecht beleuchteten Gänge an ihnen vorbeigehuscht sei. Niemand wußte, was es war oder wo es herkam, aber manche behaupteten, es habe vor einigen Jahren einen Mann getötet.
Margo beschloß, das Thema zu wechseln. »Macht Rickman Ihnen noch immer Schwierigkeiten?« fragte sie.
Bei der Erwähnung dieses Namens zog Smithback eine Grimasse. Margo wußte, daß Lavinia Rickman, die Leiterin der Public-Relations-Abteilung des Museums, Smithback zum Schreiben seines Buchs angeheuert hatte. Außerdem hatte sie den Anteil des Museums am Erlös des Buches festgelegt. Obwohl Smithback über die Einzelheiten seines Vertrages nicht allzu glücklich war, versprach wenigstens die Ausstellung ein solch durchschlagender Erfolg zu werden, daß in ihrem Kielwasser die Zahl der verkauften Bücher gut sechsstellige Dimensionen annehmen konnte. Und so hatte Smithback kein schlechtes Geschäft gemacht, dachte Margo, wenn man es mit dem eher bescheidenen Erfolg seines letzten Buches über das Bostoner Aquarium verglich.
»Rickman und Schwierigkeiten?« schnaubte Smithback. »O Gott. Diese Frau ist ein Synonym für Schwierigkeiten. Da, sehen Sie sich einmal das hier an.«
Er zog aus einem seiner Notizbücher ein Bündel von Seiten und las vor.
»Als Dr. Cuthbert ihm die Idee zu einer Ausstellung über Aberglaube unterbreitete, war Museumsdirektor Wright sehr beeindruckt. Sie hatte das Zeug zu einer Erfolgsausstellung vom Schlage der Schätze des König Tut oder Die sieben Schichten von Troja. Das würde, wie Wright sofort erkannte, eine Menge Besucher ins Museum locken, außerdem war es eine einmalige Gelegenheit, sich Gelder von der Regierung und privaten Sponsoren zu besorgen. Aber einige der älteren Kuratoren wollten sich nicht so recht von der Ausstellung überzeugen lassen, die für ihren Geschmack zu sehr nach Effekthascherei roch.«
Smithback hörte auf zu lesen. »Und jetzt sehen Sie, was Rickman daraus gemacht hat.« Er schob Margo die Seite hinüber. Ein dicker roter Strich lief quer durch den Absatz, und als Randbemerkung stand nur ein einziges Wort: »Weg!«
Margo kicherte.
»Was ist daran so lustig?« wollte Smithback wissen. »Diese Frau verhunzt mir mein ganzes Manuskript. Sehen Sie sich bloß das hier an.« Er pochte mit dem Finger auf eine andere Seite.
Margo schüttelte den Kopf. »Rickman will, daß das Museum blütenrein dasteht. Das ist ein ganz anderer Blickwinkel als der Ihre.«
»Die Frau macht mich verrückt. Sie streicht mir alles raus, was auch nur einen Hauch von Kritik beinhaltet. Am liebsten hätte sie es, wenn ich die ganze Zeit nur mit dem Trottel reden würde, der die Ausstellung betreut. Vielleicht, weil sie weiß, daß der sowieso nur das sagt, was ihm der große Boß Cuthbert vorgekaut hat.« Er beugte sich verschwörerisch zu Margo. »Sie haben noch nie in Ihrem Leben einen solchen Waschlappen gesehen.« Er blickte auf und stöhnte. »Du meine Güte, da kommt er auch noch.«
Ein junger Mann mit leichtem Übergewicht und einer Hornbrille, der sein Tablett auf einer Aktentasche aus glänzendem Leder balancierte, tauchte vor ihrem Tisch auf. »Darf ich mich vielleicht zu Ihnen setzen?« fragte er schüchtern. »Sieht so aus, als wäre das der einzige freie Stuhl im ganzen Speisesaal.«
»Aber sicher«, sagte Smithback. »Setzen Sie sich. Wir haben ohnehin gerade über Sie gesprochen. Margo, darf ich Ihnen George Moriarty vorstellen? Er ist der Mann, der die Aberglaube-Ausstellung betreut.«
Smithback wedelte Moriarty mit seinen Blättern vor dem Gesicht herum. »Da, sehen Sie, was Rickman aus meinem Manuskript gemacht hat. Das einzige, was sie unverändert gelassen hat, sind Ihre Zitate.«
Moriarty überflog die Seiten und sah Smithback mit fast kindlichem Ernst an. »Das wundert mich nicht«, sagte er. »Warum müssen Sie denn auch in der Öffentlichkeit die schmutzige Wäsche des Museums waschen?«
»Nun hören Sie aber mal, George. Das macht doch die ganze Geschichte erst interessant!«
Moriarty wandte sich an Margo. »Sie sind doch die Doktorandin, die über primitive Arzneimittelkunde arbeitet, stimmt’s?« fragte er.
»Richtig«, antwortete sie geschmeichelt. »Woher wissen Sie denn das?«
»Das Thema interessiert mich.« Moriarty lächelte und warf ihr einen kurzen Blick zu. »In der Ausstellung werden sich einige Schaukästen mit Arzneimittelkunde und Medizin befassen. Im Zusammenhang mit einem davon würde ich mich gerne einmal mit Ihnen unterhalten.«
»Nur zu. Um was geht es denn?« Margo betrachtete Moriarty genauer. Er entsprach genau dem Typus des durchschnittlichen Museumsangestellten: mittelgroß, etwas dicklich, mit mittelbraunen Haaren. Sein verknittertes Tweedjackett war in denselben Brauntönen gehalten wie die Jacketts fast aller seiner Kollegen. Das einzig Ungewöhnliche an ihm waren seine große Armbanduhr, deren Zifferblatt aussah wie eine Sonnenuhr, und seine Augen, die eine außerordentlich klare, haselnußbraune Farbe hatten und intelligent hinter seiner Hornbrille hervorblitzten.
Smithback setzte sich auf, rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum und starrte die beiden an. »Nun«, sagte er schließlich, »ich würde ja liebend gerne hierbleiben und dieser entzückenden Szene länger beiwohnen, aber ich habe am Montag ein Interview mit jemandem aus der Insektenabteilung, und da muß ich mich vorher noch in die Materie einlesen. George, vergeben Sie die Filmrechte für Ihre Ausstellung bloß nicht, ohne vorher mit mir gesprochen zu haben.« Er stand schnaubend auf und ging zur Tür, wobei er sich auf komplizierten Pfaden zwischen den vielen Tischen hindurchschlängeln mußte.