25
Smithback öffnete die schmutzige Tür und spähte in den Raum. Das hier, dachte er, muß wohl einer der makabersten Orte im ganzen Museum sein. Es war der Lagerraum der Abteilung für Humananthropologie, der im Museumsslang der Skelettraum genannt wurde. Das Museum verfügte nach dem Smithsonian Institute über die zweitgrößte Skelettsammlung des Landes. Zwölftausend komplette Knochengerüste befanden sich allein in diesem einen Raum. Die meisten davon stammten von nord- und südamerikanischen Indianern sowie von Afrikanern, die hauptsächlich im neunzehnten Jahrhundert, der Blütezeit der Humananthropologie, gesammelt worden waren. Endlose Reihen von großen Metallschubladen reichten vom Fußboden bis zur Decke, und in jeder dieser Schubladen befanden sich zumindest Teile eines menschlichen Skeletts. In Schlitzen an den Vorderseiten der Schubladen steckten vergilbte Etiketten, auf denen Zahlen, Stammeszugehörigkeit und manchmal eine kurze Beschreibung standen. Andere, knapper gehaltene Etiketten erzeugten ein Gefühl kühler Anonymität.
Smithback hatte schon einmal einen ganzen Nachmittag zwischen diesen Schubladen verbracht, hatte manche von ihnen geöffnet und die Etiketten gelesen, die fast alle in einer langsam verblassenden, eleganten Handschrift geschrieben worden waren. Ein paar davon hatte er in seinem Notizbuch festgehalten:
Spec. No. 1880–1770
Walks in Cloud, Yankton Sioux. Getötet in der Schlacht am Medicine Bow Creek, 1880.
Spec. No. 1899–1206
Maggie Lost Horse. Nördliche Cheyenne.
Spec. No. 1933–43469
Anasazi. Canyon del Muerto. Thorpe-Carlson-Expedition, 1900
Spec. No. 1912–695
Luo. Victoria-See. Geschenk von Generalmajor Henry Throckmorton.
Spec. No. 1872–10
Aleut, Herkunft unbekannt.
Es war wirklich eine seltsame Art von Friedhof.
Hinter dem Lagerraum befand sich ein wahres Labyrinth von aneinanderhängenden Räumen, in denen das Labor der Humananthropologie untergebracht war. In früheren Jahren hatten die Anthropologen ihre Zeit hauptsächlich mit dem Vermessen von Knochen und Schädeln verbracht und herauszufinden versucht, wie die verschiedenen Rassen miteinander verwandt waren, wo die Wiege der Menschheit lag und ähnliches mehr. Jetzt wurden in den Labors sehr viel komplexere biochemische und epidemologische Forschungen betrieben.
Vor einigen Jahren hatte das Museum – auf das Drängen von Dr. Frock hin – beschlossen, seine Labors für Genforschung und DNS-Analysen mit dieser Abteilung zu verschmelzen. Und so kam es, daß sich neben dem staubigen Skelettraum Räume voller blitzblank glänzender Zentrifugen und zischender Sterilisatoren befanden, zu denen sich Apparate zur Elektrophorese, Computer und komplizierte Anordnungen von Kolben und Röhren aus braunem Glas zur Destillation und Titrierung bestimmter Proben gesellten. Das Labor war eine der modernsten technischen Anlagen seiner Art. Im Niemandsland zwischen Alt und Neu hatte sich Greg Kawakita seinen Arbeitsplatz eingerichtet.
Smithback blickte aus dem Lagerraum in Richtung auf die Labortür. Es war kurz nach zehn Uhr vormittags, und Kawakita war der einzige, der schon da war. Durch die offenen Regale konnte Smithback beobachten, wie Kawakita mit der linken Hand etwas mit abgehackten, raschen Bewegungen in der Luft herumwirbelte. Dann hörte er das Zischen einer fliegenden Angelschnur und gleich darauf das Surren einer Aufwickelrolle. Ich glaub, mich tritt ein Pferd, dachte Smithback. Der Kerl war doch tatsächlich am Angeln.
»Na, schon was gefangen?« rief Smithback laut.
Er hörte einen erschreckten Ausruf und das Klappern einer zu Boden gefallenen Angelrute.
»Verdammt, Smithback«, sagte Kawakita, »müssen Sie denn immer so herumschleichen? Das ist eine verdammt schlechte Zeit, um Leute zu erschrecken, wissen Sie das? Ich hätte genausogut gerade einen Revolver laden können.«
Er ging den Mittelgang des Labors entlang und kam um die Ecke, während er seine Angelschnur aufwickelte und Smithback im Spaß mit der Rute drohte.
Smithback lachte. »Ich habe Sie doch davor gewarnt, hier unten bei all diesen Skeletten zu arbeiten. Jetzt ist es offensichtlich passiert, und Sie sind völlig übergeschnappt.«
»Ich habe doch bloß geübt«, lachte Kawakita. »Sehen Sie her. Drittes Regal, Buffalo Hump.«
Er schwang die Angelrute. Die Schnur sauste von der Rolle, und die Fliege klatschte gegen eine Schublade im dritten Regal am anderen Ende des Lagerraums. Smithback ging hin und las, was auf dem Schild der Schublade stand. Kawakita hatte recht gehabt, hier wurden die Gebeine eines Indianers verwahrt, der einmal Buffalo Hump geheißen hatte.
Smithback ließ einen bewundernden Pfiff ertönen.
Kawakita kurbelte ein Stück der Angelschnur wieder zurück und hielt den Rest in langen Schleifen in seiner linken Hand, während er mit der rechten den Griff der Rute umfaßte. »Fünftes Regal, zweite Reihe. John Mboya«, sagte er.
Wieder beschrieb die Schnur einen Bogen durch die Luft zwischen den Regalen, und die kleine Fliege klickte an die Schublade mit dem entsprechenden Schild.
»Petri Heil«, sagte Smithback und schüttelte den Kopf.
Kawakita kurbelte die Schnur jetzt ganz zurück und fing an, die Bambusrute auseinanderzunehmen. »Es ist zwar nicht ganz so, als ob man in einem Fluß fischen würde, aber es ist eine gute Übung, besonders auf so engem Raum. Es hilft mir, mich in meinen Pausen zu entspannen. Natürlich nur, wenn sich die Schnur nicht irgendwo an den Schubladen verfängt.«
Als Kawakita für das Museum zu arbeiten begonnen hatte, hatte er das ihm angebotene sonnige Büro im fünften Stock abgelehnt und sich statt dessen das viel kleinere hier im Labor herausgesucht, weil er dort näher am Geschehen war. Seitdem hatte er schon mehr wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht als mancher Kurator während seiner ganzen Karriere. Die interdisziplinären Forschungen unter Frock hatten ihm rasch eine Stelle als Assistenzkurator für Evolutionsbiologie eingebracht, wo er sich zunächst mit Studien zur Evolution der Pflanzen einen Namen gemacht hatte. Kawakita benützte den Ruf seines Mentors geschickt zur Förderung seiner eigenen Karriere, deshalb hatte er wohl auch mit der Entwicklung des Gensequenzen-Extrapolators begonnen. Seine einzige Leidenschaft außer seiner Arbeit schien das Fliegenfischen zu sein; besonders, wie er jedem erzählte, der es hören wollte, den edlen und schwierig zu fangenden Atlantiklachs.
Kawakita steckte die Angel in ein abgenütztes Futteral, das er sorgfältig in eine Ecke lehnte. Dann bedeutete er Smithback, ihm zu folgen, und führte den Journalisten zwischen langen Reihen von Schubladensärgen hindurch zu einem großen Tisch, an dem drei Holzstühle standen. Der Schreibtisch, bemerkte Smithback, war übersät mit Papieren, ziemlich zerlesen aussehenden Monographien und flachen Schalen mit Plastikdeckeln, die Sand und die unterschiedlichsten menschlichen Knochen enthielten.
»Sehen Sie sich das mal an«, sagte Kawakita und gab Smithback ein Stück Büttenpapier, auf dem mit brauner Tinte ein Stammbaum gezeichnet war. Die Verästelungen des Stammbaums waren mit lateinischen Worten bezeichnet.
»Nett«, sagte Smithback und setzte sich.
»So kann man das auch nennen, schätze ich«, entgegnete Kawakita. »Das ist eine Mitte des neunzehnten Jahrhunderts angefertigte Darstellung der Evolution des Menschen. Ein künstlerisches Meisterwerk, aber wissenschaftlich vollkommen unhaltbar. Ich schreibe gerade für das Evolution Quarterly einen kleinen Aufsatz über frühe Evolutionsmodelle.«
»Wann wird er denn erscheinen?« fragte Smithback mit professionellem Interesse.
»Oh, Anfang nächsten Jahres. Diese wissenschaftlichen Zeitschriften arbeiten furchtbar langsam.«
Smithback legte das Blatt auf den Tisch. »Und was hat das alles mit Ihrer gegenwärtigen Arbeit zu tun – mit dem G. R. E. oder dem S. A. T. oder wie immer er heißt?«
»G. S. E.«, sagte Kawakita und lachte. »Überhaupt nichts. Das ist nur so eine Idee von mir, eine Art Freizeitbeschäftigung. Es macht mir nach wie vor manchmal Spaß, mir ein wenig die Finger schmutzig zu machen.« Er steckte den Stammbaum sorgfältig in einen Umschlag und wandte sich wieder dem Journalisten zu. »Und was macht Ihr Meisterwerk?« fragte er. »Macht Madam Rickman Ihnen immer noch so viele Schwierigkeiten?«
Smithback lachte. »Ich schätze, mein Kampf gegen die Tyrannin hat sich mittlerweile herumgesprochen. Aber darüber könnte ich ein Buch für sich schreiben. Ich bin gekommen, um mich mit Ihnen über Margo zu unterhalten.«
Kawakita setzte sich Smithback gegenüber. »Margo Green? Was ist mit ihr?«
Smithback begann müßig durch eine der Monographien zu blättern, die auf dem Arbeitstisch verstreut lagen. »Soviel ich weiß, braucht sie Ihre Hilfe.«
Kawakita kniff die Augen zusammen. »Sie hat mich gestern abend angerufen und gefragt, ob ich ein paar Daten für sie durch den Extrapolator laufen lassen könnte. Ich sagte ihr, daß er noch nicht richtig fertig sei.« Er zuckte mit den Achseln. »Technisch gesehen stimmt das auch. Ich kann für die hundertprozentige Genauigkeit seiner Korrelationen nicht garantieren. Außerdem habe ich momentan furchtbar viel zu tun, Bill. Ich habe einfach keine Zeit, jemand anderen durch das Programm zu geleiten.«
»Aber Margo ist nicht gerade eine wissenschaftliche Analphabetin, die man am Händchen führen muß«, entgegnete Smithback. »Sie betreibt selbst ziemlich anspruchsvolle genetische Forschungen. Sie sollten sie mal unten in ihrem Büro erleben.« Er schob die Monographien zur Seite und beugte sich über den Tisch. »Es würde nichts schaden, der Kleinen mal ein bißchen unter die Arme zu greifen«, sagte er. »Sie hat es im Augenblick nicht gerade leicht. Ihr Vater ist vor zwei Wochen gestorben, wußten Sie das?«
Kawakita sah erstaunt aus. »Wirklich? Haben Sie darüber mit ihr im Aufenthaltsraum gesprochen?«
Smithback nickte. »Sie hat mir nicht viel erzählt, aber es war wohl ziemlich schlimm für sie. Sie denkt sogar daran, die Arbeit am Museum aufzugeben.«
»Das wäre ein Fehler«, sagte Kawakita und runzelte die Stirn. Er wollte noch etwas sagen, brach dann aber abrupt ab, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und bedachte Smithback mit einem langen, taxierenden Blick. »Das ist ja eine mächtig altruistische Geste von Ihnen, Bill.« Er schürzte die Lippen und nickte langsam. »William Smithback, der barmherzige Samariter. Ist das jetzt Ihr neues Image?«
»So bin ich nun einmal.«
»Bill Smithback, der Pfadfinder, der jeden Tag eine gute Tat tut«, fuhr Kawakita fort. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das stimmt irgendwie nicht. Sie sind nicht wirklich hier heruntergekommen, um mit mir über Margo zu sprechen, nicht wahr?«
Smithback zögerte. »Nun, das war einer meiner Gründe«, gab er zu.
»Ich wußte es!« krähte Kawakita triumphierend. »Na los, raus damit!«
»Nun gut«, seufzte Smithback. »Passen Sie auf: Ich versuche, ein paar Informationen über die Whittlesey-Expedition zu bekommen.«
»Worüber?«
»Über die Expedition nach Südamerika, von der die Mbwun-Figur stammt. Sie wissen schon, eines der Schaustücke der neuen Ausstellung.«
Jetzt erst fiel bei Kawakita der Groschen. »Natürlich. Das ist die Expedition, von der Smith neulich im Herbarium gesprochen hat. Was ist mit ihr?«
»Nun, wir glauben, daß es eine Art Verbindung zwischen dieser Expedition und den Morden gibt.«
»Was?« fragte Kawakita ungläubig. »Jetzt sagen Sie bloß nicht, daß Sie jetzt auch schon mit diesem Quatsch vom Museumsmonster anfangen. Und wen meinen Sie mit wir?«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich auch nur eines von den Gerüchten glaube, okay?« entgegnete Smithback und wich so Kawakitas Frage aus. »Aber ich habe in letzter Zeit eine Menge seltsames Zeug gehört. Und Rickman ist ganz nervös, weil sich die Mbwun-Figur in der Ausstellung befindet. Außer diesem einen Stück kamen auch noch andere Sachen von dieser Expedition zurück – mehrere Kisten. Ich will wissen, was es mit denen auf sich hat.«
»Aber was habe ich mit alledem zu tun?« fragte Kawakita.
»Nichts. Aber Sie sind ein Assistenzkurator. Sie haben eine Zugangsberechtigung zum Museumscomputer. Sie könnten in der Datenbank Informationen über diese Kisten abrufen.«
»Ich möchte bezweifeln, daß ihr Inhalt überhaupt registriert ist«, sagte Kawakita. »Aber selbst wenn er das wäre, könnte ich in dieser Sache nichts für Sie tun.«
»Warum?« fragte Smithback.
Kawakita lachte. »Warten Sie einen Augenblick.« Er stand auf und ging ins Labor. Kurze Zeit später kam er mit einem Blatt Papier in der Hand zurück.
»Sie müssen irgendwie das zweite Gesicht haben«, sagte er und gab Smithback das Blatt. »Lesen Sie mal, was ich heute vormittag in meiner Post gefunden habe.«
An: |
Alle Kuratoren und leitenden Angestellten |
Von: |
Lavinia Rickman |
Zur Kenntnisnahme an: |
Wright, Lewallen, Cuthbert, Lafore |
Infolge der jüngsten unerfreulichen Vorfälle ist das Museum zur Zielscheibe der Medien und der Öffentlichkeit geworden. Dies möchte ich zum Anlaß nehmen, um die Richtlinien für den Umgang des Museums mit der Außenwelt neu zu definieren.
Sämtliche Kontakte des Museums mit der Presse werden mit sofortiger Wirkung einzig und allein von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit wahrgenommen. Insbesondere dürfen Journalisten oder Vertretern anderer Medien gegenüber keinerlei Kommentare über Angelegenheiten des Museums mehr abgegeben werden, weder offiziell noch inoffiziell. Alle Erklärungen gegenüber Personen, die Interviews, Dokumentationen, Bücher, Artikel oder ähnliches über Angelegenheiten des Museums schreiben wollen, bedürfen des Einverständnisses der oben genannten Abteilung. Das Nichteinhalten dieser Richtlinien wird disziplinarische Maßnahmen von seiten der Direktion nach sich ziehen.
Vielen Dank für Ihre Mitarbeit in dieser schwierigen Zeit.
»Lieber Himmel«, murmelte Smithback. »Was sagt man denn dazu: ›Personen, die Bücher schreiben wollen‹.«
»Damit meint Rickman Sie, Bill«, sagte Kawakita lachend. »Sie sehen also: Mir sind die Hände gebunden.« Er holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und putzte sich die Nase. »Ich bin allergisch gegen Knochenstaub«, erklärte er.
»Ich kann das noch immer nicht fassen«, sagte Smithback, der die Notiz noch einmal gelesen hatte.
Kawakita klopfte Smithback auf die Schulter. »Bill, mein Freund, ich weiß, daß diese Geschichte sich für Sie sehr auflagensteigernd auswirken würde. Und ich würde Ihnen gerne helfen, das kritischste, aufsehenerregendste und am besten verkäufliche Buch zu schreiben, das es je gab. Aber ich kann nicht. Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich habe hier eine vielversprechende Karriere vor mir, und –« er packte Smithback am Arm – »ich habe gute Chancen auf eine volle Kuratorenstelle. Ich kann mir momentan also keine Probleme leisten. Sie müssen sich wohl einen anderen Weg suchen, okay?«
Smithback nickte resigniert. »Okay.«
»Ganz überzeugt scheinen Sie ja nicht zu sein«, sagte Kawakita mit einem Lachen. »Aber ich bin froh, daß Sie mich trotzdem verstehen.« Dann fügte er, während er den Journalisten sanft aus dem Stuhl hochzog, hinzu: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Warum kommen Sie am Sonntag nicht einfach mit zum Fischen? Im Connetquot soll es schon die ersten Forellen geben.«
Schließlich grinste auch Smithback. »Aber nur, wenn es dort auch ein paar heiße Wassernixen zu fangen gibt.«