51

In dem schwachen Licht, das durch das vergitterte Fenster des Labors hereinkam, konnte Wright den alten Aktenschrank kaum finden. Was für ein Glück, dachte er, daß sich das Labor innerhalb der Zelle zwei befand. Nicht zum ersten Mal war er froh darüber, daß er sich dieses alte Labor auch nach seiner Ernennung zum Direktor behalten hatte. Es war für ihn so etwas wie eine Zuflucht, wo er ab und zu unbeschwert durchatmen konnte. Wenn dieser ansonsten fürchterlich inkompetente D’Agosta recht hatte, dann war Zelle zwei jetzt durch die Stahltüren vom Rest des Museums abgetrennt und die Gruppe von Menschen praktisch darin gefangen.

»Irgend jemand wird noch bitter dafür bezahlen«, murmelte Wright vor sich hin. Dann wurden sie alle still. Jetzt, wo sie sich nicht mehr direkt auf der Flucht befanden, wurde ihnen erst langsam das ungeheure Ausmaß der Katastrophe bewußt.

Vorsichtig tastete sich Wright zu einem Aktenschrank, zog eine Schublade nach der anderen auf und kramte so lange darin herum, bis er gefunden hatte, wonach er suchte.

»Da ist sie ja, meine Achtunddreißiger Ruger Magnum«, sagte er und rieb sich die Hände. »Was für eine exzellente Waffe. Enorme Feuerkraft.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob du damit was gegen das Ding ausrichten kannst, das Ippolito so fürchterlich zugerichtet hat«, sagte Cuthbert, der als reglose Gestalt vor schwarzem Hintergrund an der Tür zum Labor stand.

»Mach dir keine Sorgen, Ian. Eine von diesen Kugeln durchlöchert, wenn’s sein muß, auch ein Rhinozeros. Ich habe diesen Revolver gekauft, nachdem der alte Shorter auf der Straße überfallen wurde. Und außerdem kommt das Wesen ja gar nicht hier herauf. Und wenn, dann muß es zuerst durch eine fünf Zentimeter dicke Eichentür hindurchkommen.«

»Und was ist mit der anderen Tür da?« fragte Cuthbert und deutete auf die gegenüberliegende Seite des Büros.

»Die führt in die Halle der Dinosaurier aus der Kreidezeit und ist aus genauso solider Eiche wie die andere.« Er steckte die Ruger in seinen Gürtel.

»Diese Idioten rennen wie die Lemminge hinunter in den Keller. Sie hätten lieber auf mich hören sollen.«

Er kramte wieder in der Schublade des Aktenschranks herum, bis er eine Taschenlampe gefunden hatte. »Wunderbar!« sagte er. »Ich habe dieses Ding seit Jahren nicht mehr benützt.«

Er schaltete die Lampe an, und der schwache Strahl flackerte in seiner zitternden Hand.

»Ist nicht mehr viel Saft in den Batterien«, bemerkte Cuthbert. Wright schaltete die Taschenlampe wieder aus. »Wir werden sie nur im Notfall hernehmen.«

»Nein, bitte nicht!« sagte Rickman auf einmal. »Bitte, lassen Sie sie noch einen Augenblick lang an.« Sie saß auf einem Hocker in der Mitte des Raumes und faltete und entfaltete ununterbrochen ihre Hände. »Was sollen wir tun, Henry? Wir müssen unbedingt einen Plan machen.«

»Alles der Reihe nach«, sagte Wright. »Erst mal brauche ich was zu trinken. Das ist Plan A. Meine Nerven sind hinüber.« Er ging hinüber ans andere Ende des Labors und leuchtete mit der Taschenlampe in einen alten Schrank, aus dem er schließlich eine Flasche zog. Die anderen hörten, wie Gläser klirrten.

»Auch einen, Ian?« fragte Wright.

»Nein danke, für mich bitte nichts«, antwortete Cuthbert.

»Und Sie, Lavinia?«

»Nein, nein, ich kann jetzt nichts trinken.«

Wright kam zurück und setzte sich an einen Arbeitstisch. Er füllte sich ein Glas mit Whisky und trank es in drei großen Schlucken aus. Dann goß er es wieder voll. Der warme, torfige Geruch eines teuren Single-Malt Scotch strömte durch das Labor.

»Übertreib es nicht, Henry«, sagte Cuthbert.

»Wir können doch nicht hier im Dunklen sitzenbleiben«, sagte Rickman nervös. »Irgendwo auf diesem Stockwerk muß es doch einen Ausgang geben.«

»Ich habe Ihnen doch eben gesagt, daß alles dicht ist«, fauchte Wright.

»Und was ist mit der Halle der Dinosaurier?« fragte Rickman und deutete auf den Hinterausgang.

»Lavinia«, sagte Wright, »die Halle der Dinosaurier hat nur einen Ein- und Ausgang für die Öffentlichkeit, und der ist durch die Sicherheitstür versperrt. Wir sind hier vollkommen eingeschlossen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, denn das Ding, das Ippolito und die anderen getötet hat, kommt nicht hier herauf zu uns. Es sucht sich leichtere Beute, und die findet es in der Gruppe, die da unten im Keller herumirrt.«

In der Dunkelheit war lautes Schlucken zu hören, dann wurde geräuschvoll das Glas auf den Tisch gestellt. »Ich würde sagen, wir bleiben hier noch eine gute halbe Stunde und sitzen die Sache aus. Dann gehen wir zurück in die Ausstellung. Wenn es bis dahin noch keinen Strom geben und die Sicherheitstüren noch immer geschlossen sein sollten, kenne ich einen weiteren Ausweg, und zwar durch die Ausstellung.«

»Du bist ja offenbar ein Spezialist für Schlupflöcher und Verstecke«, sagte Cuthbert und blickte hinüber zu dem Aktenschrank.

»Das hier war früher mal mein Labor. Ab und zu komme ich noch hierher und vergesse bei meinen geliebten Dinosauriern die Kopfschmerzen, die mir die ganze Verwaltungsarbeit verursacht.« Wright kicherte leise vor sich hin und nahm noch einen Schluck.

»Verstehe«, sagte Cuthbert ärgerlich.

»Ein Teil der Ausstellung befindet sich in einem Raum, in dem vor vielen Jahren einmal Schaukästen mit fossilen Krebsen standen. Früher habe ich dort viel gearbeitet. Nun, jedenfalls gibt es dort einen kleinen Durchgang zum Hauptkorridor. Die Tür wurde vor vielen Jahren mit Brettern vernagelt, damit man einen weiteren Schaukasten davorstellen kann. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie hinter den Sperrholzwänden der Ausstellung noch existiert. Wir könnten sie eintreten oder nötigenfalls das Schloß aufschießen.«

»Das klingt machbar!« sagte Rickman eifrig.

»Ich kann mich nicht erinnern, beim Aufbau der Ausstellung etwas von so einer Tür gehört zu haben«, sagte Cuthbert zweifelnd. »Ich bin mir sicher, daß die Leute von der Sicherheitsabteilung etwas davon gewußt hätten.«

»Ich habe doch gesagt, daß das alles schon Jahre her ist«, antwortete Wright gereizt. »Man hat die Tür zugenagelt und vergessen.«

In der langen Stille, die folgte, goß sich Wright noch einen Whisky ein.

»Henry«, verlangte Cuthbert, »stell bitte das Glas wieder hin.« Der Direktor nahm einen tiefen Schluck und ließ den Kopf hängen. Seine Schultern sackten nach vorn.

»Wie konnte das nur passieren, Ian?« murmelte er schließlich.

»Wir sind ruiniert, weißt du das?«

Cuthbert schwieg.

»Lassen Sie uns doch den Patienten nicht schon vor der Diagnose beerdigen«, sagte Rickman mit einer verzweifelt fröhlichen Stimme. »Gute PR-Arbeit kann auch den ärgsten Schaden wiedergutmachen.«

»Lavinia, wir sprechen hier nicht von ein paar vergifteten Kopfschmerztabletten«, sagte Cuthbert. »Zwei Stockwerke unter uns liegt mindestens ein halbes Dutzend toter Menschen, vermutlich sogar mehr. Und dann ist auch noch der Bürgermeister hier eingeschlossen. In ein paar Stunden werden alle Spätnachrichten des Landes über uns berichten.«

»Wir sind ruiniert«, wiederholte Wright. Ein seltsames, halb ersticktes Schluchzen entrang sich seiner Brust, und er stützte den Kopf auf den Tisch.

»Herrgott noch mal«, murmelte Cuthbert, nahm Wright Flasche und Glas weg und brachte sie in einen dunklen Winkel des Labors.

»Es ist alles vorbei, nicht wahr?« stöhnte Wright, ohne den Kopf zu heben.

»Ja, Henry, es ist alles vorbei«, sagte Cuthbert. »Aber ehrlich gesagt, bin ich schon froh, wenn ich hier lebendig wieder herauskomme.«

»Ian, Henry, wollen wir nicht hier weggehen?« flehte Rickman.

»Bitte!« Sie stand auf und ging zur Tür, die Wright zuvor hinter ihnen geschlossen hatte. Sie drehte den Knauf und machte sie langsam auf.

»Hier war nicht mal abgesperrt!« sagte sie vorwurfsvoll.

»Großer Gott!« rief Cuthbert und sprang auf. Wright kramte, ohne einmal aufzublicken, in seinen Taschen und hielt wortlos einen Schlüssel hoch.

»Er paßt an beiden Türen«, sagte er mit erstickter Stimme.

Mit zitternden Händen sperrte Rickman geräuschvoll ab.

»Was haben wir bloß falsch gemacht?« fragte Wright jammernd.

»Das liegt doch auf der Hand«, sagte Cuthbert. »Vor fünf Jahren hätten wir die Gelegenheit gehabt, diese Sache zu erledigen.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Rickman, die wieder von der Tür zurückgekommen war.

»Das wissen Sie genauso gut wie ich. Ich spreche von Montagues Verschwinden. Damals hätten wir uns um das Problem kümmern müssen, anstatt so zu tun, als wäre nichts gewesen. Ich spreche von dem Blut unten im Keller neben Whittleseys Kisten und der Tatsache, daß Montague kurz vorher spurlos verschwunden war. Im nachhinein wissen wir ja jetzt wohl, was mit ihm geschehen ist. Aber wir hätten damals der Angelegenheit auf den Grund gehen sollen. Erinnerst du dich noch, Henry? Wir saßen zusammen in deinem Büro, als Ippolito hereinkam und uns die Sache meldete. Du hast damals angeordnet, daß der Boden saubergemacht und nicht mehr von dem Vorfall gesprochen werden sollte. Wir haben unsere Hände in Unschuld gewaschen und gehofft, daß das Ding, das Montague getötet hatte, von selbst wieder verschwinden würde.«

»Aber es gab keinen Beweis dafür, daß er getötet wurde!« heulte Wright auf und hob den Kopf. »Es hätte ja auch das Blut eines streunenden Hundes sein können, oder etwa nicht?«

»Gut, wir wußten nicht genau, was passiert war. Aber vielleicht hätten wir das herausgefunden, wenn du Ippolito erlaubt hättest, diesen riesigen Blutfleck der Polizei zu melden. Auch Sie, Lavinia, haben, soweit ich mich erinnere, damals dafür plädiert, das Blut einfach wegzuwischen.«

»Es hatte doch keinen Sinn, einen unnötigen Skandal zu provozieren, Ian. Sie wissen ganz genau, daß das Blut von weiß Gott was hätte stammen können«, winselte Rickman. »Und wieso haben Sie jetzt darauf bestanden, daß die Kisten in die Sicherheitszone gebracht wurden? Hatten Sie Angst, daß während Ihrer Ausstellung unbequeme Fragen über Whittlesey gestellt würden? Und warum haben Sie sein Tagebuch an sich genommen und mir bis zum Ende der Ausstellung zur Aufbewahrung übergeben? Dieses Tagebuch hat wohl nicht ganz in Ihre Theorien gepaßt, stimmt’s?«

»Ach, Sie haben doch keine Ahnung!« schnaubte Cuthbert.

»Julian Whittlesey war mein Freund. Zumindest war er das früher einmal. Dann bekamen wir Streit wegen eines Artikels, den er geschrieben hatte, und wir haben uns nie mehr versöhnt. Jetzt ist es dafür natürlich zu spät. Aber ich habe sein Tagebuch deshalb zurückgehalten, damit seine Theorien nicht der Lächerlichkeit preisgegeben wurden.«

Cuthbert blickte der PR-Chefin direkt in die Augen. »Ich habe lediglich einen Kollegen beschützt, der ein wenig durchgedreht war, Lavinia. Ich habe keinen Mord vertuscht. Und was ist mit dem Museumsmonster, das immer mal wieder gesehen wurde, Henry? Du hast doch mindestens ein paar Mal im Jahr gemeldet bekommen, daß jemand nach Dienstschluß etwas Seltsames gehört oder gesehen hat. Aber du hast nie etwas in dieser Richtung unternommen, nicht wahr?«

»Wie hätte ich denn wissen sollen, daß das alles nicht erfunden war?« antwortete Wright mit abgehackter Stimme. »Wer hat denn diesen Unsinn schon geglaubt? Das war doch alles dummes Gewäsch von irgendwelchen Wichtigtuern –«

»Könnten wir jetzt bitte das Thema wechseln?« rief Rickman. »Ich kann einfach nicht mehr hier im Dunklen sitzen und warten. Können wir denn nicht aus dem Fenster springen? Die Feuerwehr hat bestimmt ein Sprungtuch für uns.«

»Nein«, sagte Wright mit einem tiefen Seufzer und rieb sich die Augen. »Diese Stäbe des Gitters sind aus fünf Zentimeter starkem gehärtetem Stahl.« Er blickte sich in dem dunklen Labor um. »Wo ist mein Whisky?«

»Du hast schon genug getrunken«, sagte Cuthbert.

»Ach, laß mich doch mit deinen verdammten presbyterianischen Moralvorstellungen in Ruhe!« sagte Wright, stand langsam auf und stapfte schwankend zu seinem Aktenschrank.

 

Im Treppenhaus blickte D’Agosta hinüber zu Bailey.

»Danke«, sagte er.

»Nichts zu danken, Lieutenant.«

Unter ihnen drängte sich die Gruppe der Ausstellungsgäste schniefend und schluchzend auf den Stufen zusammen. D’Agosta drehte sich ihnen zu und sprach sie an.

»Okay«, sagte er ruhig. »Wir müssen jetzt schnell machen. Auf dem nächsten Treppenabsatz gibt es eine Tür in den Keller. Wir gehen dort hinunter und treffen uns mit ein paar anderen Leuten, die einen Weg nach draußen wissen. Haben Sie mich alle verstanden?«

»Ja, wir haben verstanden«, antwortete eine Stimme, die D’Agosta als die des Bürgermeisters erkannte.

»Gut«, sagte D’Agosta und nickte. »Dann lassen Sie uns mal losgehen. Ich übernehme die Spitze und leuchte mit der Taschenlampe. Sie, Bailey, bilden die Nachhut. Melden Sie sich, wenn es Probleme gibt.«

Langsam stieg die Gruppe die Treppe hinab. Unten wartete D’Agosta, bis ihm Bailey signalisiert hatte, daß alles in Ordnung war. Dann legte er die Hand auf den Türgriff.

Er ließ sich nicht nach unten drücken.

D’Agosta drückte abermals, diesmal fester. Keine Chance.

»Was zum –?« D’Agosta leuchtete mit der Taschenlampe auf den Türgriff. »Mist«, murmelte er. Dann sagte er etwas lauter: »Bleiben Sie alle einen Augenblick hier und verhalten Sie sich so ruhig wie möglich. Ich muß mal kurz mit Officer Bailey sprechen.« Er ging zurück ans Ende der Gruppe.

»Hören Sie zu, Bailey«, sagte D’Agosta leise, »wir können nicht in den Keller. Wir haben vorhin bei der Schießerei anscheinend die Tür getroffen, und jetzt ist sie so verzogen, daß sie nicht mehr aufgeht. Ohne Brecheisen haben wir keine Chance.«

Sogar in der Dunkelheit konnte D’Agosta sehen, wie Bailey die Augen aufriß. »Und was sollen wir jetzt tun? Etwa wieder nach oben gehen?«

»Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken«, erwiderte D’Agosta. »Wieviel Munition haben Sie noch? Ich habe sechs Schuß in meiner Dienstpistole, sonst nichts mehr.«

»Ich weiß nicht genau, fünfzehn, sechzehn Schuß vielleicht.«

»Verdammt«, sagte D’Agosta, »ich glaube nicht, daß –«

Er brach mitten im Satz ab, schaltete die Taschenlampe aus und lauschte in die Dunkelheit hinein. Ein leiser Lufthauch trug einen modrig verrotteten Geruch das Treppenhaus herunter.

Bailey sank auf ein Knie und zielte mit der Schrotflinte nach oben. D’Agosta wandte sich rasch an die Gruppe, die hinter ihm wartete. »Alle sofort nach unten auf den nächsten Treppenabsatz! Los!«

Unter den Leuten hob ein Gemurmel an. »Wir können da nicht hinunter«, rief einer. »Da sitzen wir in der Falle!«

D’Agostas Antwort wurde von einem Schuß aus Baileys Schrotflinte übertönt. »Das Museumsmonster!« schrie jemand, und die ganze Gruppe machte kehrt und rannte, halb übereinander fallend, die Treppe hinunter. »Bailey!« rief D’Agosta, dem von dem Knall immer noch die Ohren dröhnten. »Bailey, kommen Sie zu mir!«

Während er rückwärts, eine Hand am Geländer und die andere um den Griff seines Dienstrevolvers geklammert, die Treppe hinunterging, spürte D’Agosta, wie die Stufen unter seinen Füßen immer schlüpfriger wurden. Etwas weiter oben konnte er sehen, wie die dunkle Gestalt von Bailey ihm folgte. Der Polizist keuchte und fluchte zugleich. Es kam D’Agosta wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sein Fuß endlich den Treppenabsatz des unteren Kellers spürte. Hinter ihm standen die Leute und hielten den Atem an. Gleich darauf stieß Bailey mit dem Rücken sanft gegen ihn.

»Was, zum Teufel, war denn los, Bailey?« fragte D’Agosta leise.

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Polizist. »Es war auf einmal ein ganz fürchterlicher Gestank um mich, und dann dachte ich, ich hätte etwas gesehen. Zwei rote Augen, die in der Dunkelheit leuchteten. Also drückte ich ab.«

D’Agosta richtete den Strahl seiner Taschenlampe nach oben, aber er sah nur den grob behauenen, gelblichen Fels, aus dem hier unten die Wände des Treppenhauses bestanden. Der Geruch lag noch immer in der Luft.

D’Agosta leuchtete die Gruppe an und zählte sie rasch ab. Achtunddreißig, inklusive Bailey und ihm selbst. »Okay«, sagte er leise zu den Leuten. »Wir sind jetzt im unteren Keller. Ich werde als erster hineingehen, und Sie folgen mir auf mein Kommando.«

Er drehte sich um und leuchtete auf die Tür. Du meine Güte, dachte er, dieses Ding gehört eigentlich in den Tower von London. Die schwarze Eisentür war mit horizontalen Metallbeschlägen verstärkt. Als D’Agosta sie aufstieß, strömte kühle, feuchte und modrig riechende Luft ins Treppenhaus. D’Agosta trat in den Gang hinter der Tür. Als er das Geräusch von plätscherndem Wasser hörte, blieb er stehen und richtete den Strahl der Taschenlampe nach unten.

»Alle mal herhören!« rief er über die Schulter. »Der Boden hier ist etwa zehn Zentimeter hoch mit fließendem Wasser bedeckt. Treten Sie einzeln in den Gang und gehen Sie dann rasch, aber vorsichtig weiter. Gleich hinter der Tür geht es zwei Stufen nach unten. Bailey, Sie bilden den Schluß. Und machen Sie um Gottes willen die Tür hinter sich zu.«

 

Pendergast zählte die ihm noch verbliebenen Patronen und steckte sie wieder in seine Tasche, bevor er sich an Frock wandte. »Wirklich faszinierend, Ihre Geschichte, da haben Sie ja ein schönes Stück Detektivarbeit geleistet. Es tut mir leid, daß ich an Ihnen gezweifelt habe, Doktor.«

Frock machte eine großzügige Geste. »Woher hätten Sie es auch wissen sollen?« fragte er. »Und außerdem war es Margo, die des Rätsels Lösung entdeckt hat. Wenn Sie nicht die Fasern des Verpackungsmaterials getestet hätte, wären wir niemals der Sache auf die Spur gekommen.«

Pendergast nickte Margo zu, die sich auf eine große, hölzerne Kiste gesetzt hatte. »Ausgezeichnete Arbeit«, sagte er. »Leute wie Sie könnten wir in unserem Labor in Baton Rouge gut gebrauchen.«

»Aber dazu müßte ich sie gehen lassen«, sagte Frock. »Und das wird wohl nicht so bald der Fall sein.«

»Und ich müßte aus dem Museum fort wollen«, sagte Margo und war selbst erstaunt darüber.

Pendergast wandte sich an Margo. »Ich weiß, daß Sie die Kreatur viel besser kennen als ich. Aber glauben Sie wirklich, daß der Plan, den Sie uns da eben dargelegt haben, auch wirklich funktionieren wird?«

Margo atmete tief durch und nickte. »Wenn der Extrapolator richtig gearbeitet hat, dann jagt die Kreatur mehr mit dem Geruchs- als mit dem visuellen Sinn. Und wenn ihre Gier nach dieser Pflanze tatsächlich so stark ist, wie wir glauben, dann –« sie hielt inne und zuckte mit den Schultern. »Und außerdem bleibt uns ja eh nichts anderes übrig.«

Pendergast verharrte einen Augenblick bewegungslos. »Sie haben recht. Wenn es diesen Leuten da unter uns möglicherweise das Leben rettet, dann müssen wir es probieren.« Er nahm sein Funkgerät zur Hand.

»D’Agosta?« sagte er und regelte den Kanal ein wenig nach.

»D’Agosta, hier spricht Pendergast. Hören Sie mich?«

Aus dem Funkgerät kam zunächst nur ein unverständliches Krächzen. Dann war D’Agostas Stimme zu hören. »Hier spricht D’Agosta. Was gibt’s?«

»Wie ist die Lage bei Ihnen, D’Agosta?«

»Wir hatten mittlerweile eine Begegnung mit Ihrer Kreatur«, kam die Antwort. »Sie kam in die Halle des Himmels und hat Ippolito und einen verletzten Ausstellungsgast getötet. Wir sind alle ins Treppenhaus geflohen, aber die Tür zum Keller ist so verklemmt, daß wir sie nicht aufgebracht haben. Wir mußten in den unteren Keller hinunter.«

»Verstanden«, sagte Pendergast. »Was haben Sie an Waffen dabei?«

»Wir konnten nur noch eine großkalibrige Schrotflinte und einen Dienstrevolver mitnehmen.«

»Und wo befinden Sie sich im Augenblick?«

»Im unteren Keller, etwa fünfzig Meter von der Tür zum Treppenhaus entfernt.«

»Dann hören Sie mir jetzt ganz genau zu, Vincent. Ich habe gerade mit Professor Frock gesprochen. Die Kreatur, mit der wir es zu tun haben, ist ausgesprochen intelligent. Vielleicht so gescheit wie Sie und ich.«

»Wie Sie vielleicht.«

»Wenn Sie die Kreatur noch einmal vor die Flinte kriegen, zielen Sie nicht auf den Kopf. Von dem prallen Kugeln und Schrot ab. Schießen Sie auf den Körper.«

Einen Augenblick lang war das Gerät still, dann war wieder D’Agostas Stimme zu vernehmen. »Hören Sie, Pendergast, Sie sollten Coffey ebenfalls Bescheid sagen. Er will ein paar Leute hereinschicken, und ich glaube nicht, daß er eine Ahnung davon hat, was sie hier erwartet.«

»Ich werde mein Bestes tun. Aber lassen Sie uns zuerst einmal besprechen, wie wir Sie hier herauskriegen. Die Kreatur macht möglicherweise bereits Jagd auf Sie.«

»Was Sie nicht sagen

»Ich kann Sie durch den unteren Keller aus dem Museum lotsen, aber es wird nicht einfach werden. Die Blaupausen, die ich habe, sind sehr alt, und vielleicht kann man sich nicht hundertprozentig auf diese Pläne verlassen. Außerdem könnte der Keller teilweise unter Wasser stehen.«

»Wir waten schon knöcheltief drin herum. Sagen Sie mal, Pendergast, sind Sie sicher, daß Ihr Plan auch funktionieren wird? Immerhin tobt da draußen ein mordsmäßiger Sturm.«

»Sie müssen sich entweder mit dem Wasser oder mit der Kreatur herumschlagen. Sie sind immerhin gut vierzig Personen, und das macht Sie momentan zum bevorzugten Ziel des Monsters. Sie müssen sich immer in Bewegung halten, in rascher Bewegung, wenn’s geht – das ist Ihre einzige Chance.«

»Werden Sie demnächst zu uns stoßen?«

»Nein. Wir haben uns entschlossen, hier zu bleiben und die Kreatur von Ihnen fortzulocken. Ich habe jetzt keine Zeit, Ihnen das genauer zu erklären. Wenn unser Plan funktioniert, werden wir uns später mit Ihnen treffen. Dank der Blaupausen kenne ich mehrere Zugänge von Zelle zwei in den unteren Keller.«

»Passen Sie bloß auf sich auf, Pendergast.«

»Das habe ich vor. Jetzt hören Sie mir noch mal gut zu. Befinden Sie sich in einem langen, geraden Gang?«

»Ja.«

»Sehr gut. Wenn sich der Gang gabelt, gehen Sie nach rechts. In etwa hundert Metern oder so finden Sie eine zweite Abzweigung. Wenn Sie dort sind, funken Sie mich an. Verstanden?«

»Verstanden.«

»Viel Glück. Ende.«

Pendergast wechselte rasch die Frequenz.

»Coffey, hier spricht Pendergast. Hören Sie mich?«

»Hier Coffey. Verdammt noch mal, Pendergast, ich versuche seit einer Ewigkeit –«

»Dafür ist jetzt keine Zeit. Haben Sie vor, eine Rettungsmannschaft hier hereinzuschicken?«

»Ja. Sie macht sich eben zum Abmarsch bereit.«

»Dann sorgen Sie dafür, daß die Leute genügend großkalibrige automatische Waffen mitnehmen. Außerdem sollten sie Stahlhelme und kugelsichere Westen tragen. Da unten läuft eine mörderische, unglaublich starke Kreatur herum, Coffey. Ich habe sie gesehen. Und sie läuft in Zelle zwei frei herum.«

»Um Himmels willen! Erst D’Agosta, und jetzt Sie auch noch, Pendergast! Wenn das ein schlechter Witz sein soll –«

»Ich warne Sie nur noch ein einziges Mal«, sprach Pendergast rasch in sein Funkgerät. »Sie haben es mit einem gefährlichen Monster zu tun. Wenn Sie diese Gefahr unterschätzen, geht das auf Ihre Kappe. Ich schalte jetzt ab.«

»Nein, Pendergast, warten Sie! Ich befehle Ihnen –«

Pendergast drehte das Funkgerät aus.