MITTWOCH
18
Frock saß in seinem Rollstuhl und tupfte sich die Stirn mit einem Gucci-Taschentuch ab. »Setzen Sie sich doch bitte«, sagte er zu Margo. »Und vielen Dank, daß Sie so rasch gekommen sind. Es ist schrecklich, einfach schrecklich.«
»Der arme Wachmann«, antwortete Margo. Im ganzen Museum sprach man von nichts anderem mehr.
»Wachmann?« fragte Frock und blickte auf. »O ja, natürlich, das ist wirklich eine Tragödie. Aber ich habe eigentlich von dem hier gesprochen.« Er hielt ein Memorandum in die Höhe.
»Jede Menge neuer Regeln«, sagte Frock. »Sehr lästig. Ab heute darf das Personal nur noch zwischen zehn Uhr vormittags und fünf Uhr nachmittags ins Gebäude. Keine Überstunden oder Sonntagsarbeit mehr. In jeder Abteilung werden Wachen aufgestellt, und man muß sich in eine Liste eintragen, wenn man die Abteilung betritt oder verläßt. Und jeder muß ständig einen Ausweis mit sich herumtragen, sonst kommt man weder ins Museum hinein noch hinaus.«
Er las weiter. »Schauen wir mal, was sie sonst noch alles … ach ja, hier. Versuchen Sie, so weit es irgend geht, in Ihrer Abteilung zu bleiben. Und ich soll Ihnen auch sagen, daß Sie sich nicht allein in abgelegene Teile des Museums begeben sollen. Wenn Sie dorthin müssen, dann nur in Begleitung. Und dann wird die Polizei alle Leute verhören, die ihre Büros im Keller haben. Sie haben Anfang nächster Woche Ihren Termin. Außerdem dürfen etliche Bereiche des Museums überhaupt nicht mehr betreten werden.« Frock schob das Memorandum über den Tisch hinüber zu Margo.
Margo sah, daß dem Schriftstück ein Plan des Gebäudes beigeheftet war, auf dem die nicht zu betretenden Gebiete rot eingezeichnet waren. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Frock. »Ich habe bereits nachgesehen, Ihr Büro ist ganz knapp außerhalb dieser Zone.«
Na toll, dachte Margo. Knapp außerhalb des Gebiets, in dem sich möglicherweise der Mörder herumtreibt. »Das Ganze kommt mir ziemlich kompliziert vor, Professor Frock. Warum haben die denn nicht einfach das ganze Museum dichtgemacht?«
»Das haben sie zweifelsohne auch versucht, meine Liebe, und ich bin mir sicher, daß Henry Wright sie dazu überredet hat, es nicht zu tun. Wenn diese Aberglaube-Ausstellung nicht termingerecht eröffnet wird, dann kommt das Museum in große Schwierigkeiten.« Frock streckte die Hand aus und nahm das Memo wieder an sich. »Können wir das als erledigt betrachten? Ich habe nämlich noch andere Dinge, über die ich gerne mit Ihnen sprechen würde.«
Margo nickte. Dann kommt das Museum in große Schwierigkeiten. Ihr schien es so, als wäre es das bereits. Die Frau, mit der sie ihr Büro teilte, hatte sich heute morgen krank gemeldet, ebenso wie die Hälfte aller Angestellten. Und diejenigen, die zur Arbeit erschienen waren, drückten sich die meiste Zeit an den Kaffeemaschinen und Fotokopierern herum und tauschten, in Gruppen beieinander stehend, Gerüchte aus. Und als wäre das alles nicht schlimm genug, waren die meisten Hallen des Museums fast leer. Die üblichen Besucher – Familien auf Urlaub, Schülergruppen und kreischende Kinder – waren heute nur äußerst spärlich erschienen. Statt dessen schien das Museum ein paar sensationslüsterne Neugierige angezogen zu haben.
»Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl schon irgendwelche Pflanzen für Ihr Kapitel über die Kiribitu bekommen haben«, fuhr Frock fort. »Ich dachte, es wäre für uns beide nützlich, wenn wir sie einmal durch den G. S. E. laufen ließen.«
Das Telefon klingelte. »Mist«, sagte Frock, hob den Hörer ab und meldete sich mit einem barschen: »Ja?«
Dann schwieg er eine ganze Weile. »Ist das denn wirklich notwendig?« fragte er dann. »Na schön, wenn Sie darauf bestehen«, sagte er schließlich und stieß, während er das Telefon auflegte, einen langen Seufzer aus.
»Die Polizei will, daß ich hinunter in den Keller komme. Weiß der Himmel, weshalb. Es ist ein Bursche namens Pendergast. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich hinunterzufahren? Wir können uns ja auf dem Weg noch ein wenig unterhalten.«
Im Aufzug antwortete Margo Frock auf seine Frage. »Ich habe mir ein paar Pflanzen aus dem Herbarium beschaffen können, aber nicht so viele, wie ich wollte. Aber habe ich Sie vorhin richtig verstanden? Haben Sie vorgeschlagen, die Pflanzen durch den Extrapolator laufen zu lassen?«
»Genau«, antwortete Frock. »Aber natürlich nur, wenn der Zustand der Pflanzen das zuläßt. Befindet sich verwertbares Material darunter?«
Die Abkürzung G. S. E. stand für den Gensequenzextrapolator, das Programm, das Kawakita und Frock entwickelt hatten, um genetisches Material analysieren und bearbeiten zu können. Es konnte nicht nur gemeinsame Vorfahren verschiedener Gattungen herausfinden, sondern auch in die Zukunft extrapolieren und die bizarren oder mißglückten Lebensformen berechnen, die sich nach Dr. Frocks Theorie möglicherweise aus der ursprünglichen Gattung entwickelt hatten.
»Die Pflanzen sind zum größten Teil in einem guten Zustand«, erklärte Margo. »Aber ich verstehe nicht ganz, was Sie mit ihnen im Extrapolator machen wollen, Dr. Frock.« Bin ich vielleicht bloß eifersüchtig auf Kawakita? fragte sie sich selbst. Sperre ich mich deshalb so?
»Meine liebe Margo, Ihre Aufgabenstellung ist geradezu maßgeschneidert dafür!« rief Frock aus und benützte in seiner Aufregung ihren Vornamen. »Wir können zwar die Evolution nicht wiederholen, aber wir können sie mit Computern simulieren. Vielleicht sind diese Pflanzen genetisch miteinander verwandt, vielleicht sogar in derselben Weise, wie die Schamanen der Kiribitu sie instinktiv klassifiziert haben. Würde das Ihrer Dissertation nicht einen interessanten Nebenaspekt liefern?«
»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht«, sagte Margo. »Wir sind mit dem Programm gerade in der Beta-Testphase, und Sie liefern uns das perfekte Arbeitsmaterial dafür«, fuhr Frock eifrig fort. »Warum reden Sie nicht mal mit Kawakita darüber, ob er mit Ihnen zusammenarbeiten will?«
Margo nickte. Insgeheim aber dachte sie, daß Kawakita ihr nicht gerade wie jemand vorkam, der die Lorbeeren – ja, nicht einmal seine Forschungsarbeit – gerne mit jemand anderem teilte.
Die Türen des Aufzugs gingen auf. Davor war ein Kontrollpunkt, an dem zwei mit Schrotgewehren bewaffnete Polizisten Wache hielten. »Sind Sie Dr. Frock?« fragte einer von ihnen.
»Ja«, antwortete Frock etwas gereizt.
»Dann kommen Sie bitte mit.«
Margo schob Frock durch mehrere Gänge, bis sie schließlich an einen zweiten Kontrollpunkt kamen. Hinter einer Absperrung standen zwei weitere Polizisten und ein großer, dünner Mann in einem schwarzen Anzug, das weißblonde Haar glatt nach hinten gekämmt. Als die Polizeimänner die Absperrung aus dem Weg räumten, trat er auf Margo und Frock zu.
»Sie müssen Dr. Frock sein«, sagte er und streckte dem Wissenschaftler die Hand hin. »Danke, daß Sie gekommen sind. Wie ich Ihnen ja schon sagte, erwarte ich noch einen anderen Besucher und kann Sie deshalb nicht in Ihrem Büro aufsuchen. Wenn ich allerdings gewußt hätte, daß Sie« – er wies mit einem Nicken auf den Rollstuhl – »dann hätte ich Sie nicht gebeten, hier herunterzukommen. Ich bin Special Agent Pendergast.« Er hielt Frock noch immer die ausgestreckte Hand hin. Interessanter Akzent, dachte Margo. Ob er wohl aus Alabama kommt? Der Kerl sieht überhaupt nicht wie ein FBI-Agent aus.
»Geht schon in Ordnung«, sagte Frock, den Pendergasts Höflichkeit etwas besänftigt hatte. »Das ist meine Assistentin, Miß Green.« Pendergast gab Margo die Hand, sie fühlte sich kühl an. »Es ist mir eine Ehre, einen so berühmten Wissenschaftler kennenzulernen«, fuhr Pendergast fort. »Ich hoffe, daß es mir meine knappe Zeit erlauben wird, demnächst Ihr neuestes Buch zu lesen.«
»Vielen Dank, Sie sind zu gütig«, sagte Frock und nickte.
»Was ich immer schon mal wissen wollte: Gehen Sie bei Ihrer Evolutionstheorie hinsichtlich des Aussterbens einer Art eigentlich eher vom Broken-Stick-Modell oder vom Gamblers-Ruin-Szenario aus? Meiner Meinung nach dürfte ja letzteres Ihrer Hypothese am meisten entsprechen, besonders wenn man annimmt, daß die meisten Arten nur knapp über dem Absorptionslevel mit ihrer Entwicklung beginnen.«
Frock setzte sich in seinem Rollstuhl auf. »Nun, äh, ich plane, in meinem nächsten Buch ein wenig näher auf diese Problematik einzugehen.« Er schien nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte.
Pendergast nickte den Polizisten zu, die daraufhin die Absperrung wieder an ihren Platz stellten. »Ich brauche Ihre Hilfe, Dr. Frock«, sagte er mit leiser Stimme.
»Gerne«, erwiderte Frock freundlich. Margo war überrascht, wie rasch Pendergast seine Sympathie gewonnen hatte.
»Zunächst einmal muß ich Sie bitten, daß unsere Unterredung streng vertraulich bleibt«, sagte Pendergast. »Könnten Sie mir dafür ihre Zusicherung geben? Und auch die von Miß Green?«
»Aber natürlich«, sagte Frock, und Margo nickte.
»Gut«, begann Pendergast. Er gab einem der Polizisten ein Zeichen, der ihm eine große Plastiktüte reichte, auf der BEWEISMITTEL stand. Daraus holte Pendergast ein kleines, dunkles Objekt hervor, das er Frock gab.
»Was Sie da in der Hand halten«, sagte er, »ist ein Latexabguß von einer Kralle, die wir in der Leiche eines der beiden ermordeten Jungs gefunden haben.«
In Margo kämpfte Neugier mit Ekel, als sie sich vorbeugte und das Ding näher betrachtete. Die Kralle war zwischen zwei und zweieinhalb Zentimeter lang, gekrümmt und an den Rändern gezackt.
»Eine Kralle?« sagte Frock und hielt sich das Ding nahe vor die Augen, um es genauer untersuchen zu können. »Sehr ungewöhnlich. Aber ich würde sagen, sie ist eine Fälschung.«
Pendergast lächelte. »Wir haben ihre Herkunft zwar noch nicht bestimmen können, Doktor, aber ich bin mir nicht sicher, daß es sich um eine Fälschung handelt. Wir haben Materie aus dem Wurzelkanal dieser Kralle gentechnisch untersuchen lassen. Es wurde zwar wirkliche DNS darin entdeckt, aber die Ergebnisse waren zunächst recht zweideutig. Wir lassen sie gerade weiter auswerten.«
Frock hob die Augenbrauen. »Interessant.«
»Und jetzt sehen Sie sich mal das hier an«, sagte Pendergast und holte aus dem Plastikbeutel ein sehr viel größeres Objekt. »Das hier ist eine mögliche Rekonstruktion des Gegenstands, mit dem dasselbe Kind zerfetzt wurde.« Er gab das Ding an Frock weiter.
Margo sah den Abguß angeekelt an. Am einen Ende war das Latex ziemlich ungleichmäßig, am anderen aber waren die Details viel klarer ausgebildet. Es endete in drei gebogenen Krallen: Eine größere in der Mitte und je eine kleinere auf jeder Seite.
»Großer Gott«, sagte Frock. »Das sieht ja direkt sauriermäßig aus.«
»Sauriermäßig?« wiederholte Pendergast.
»Dinosauriermäßig«, sagte Frock. »Das typische, vogelähnliche Vorderglied, würde ich sagen. Mit einer Ausnahme. Sehen Sie hier. Die zentrale Klaue ist enorm verdickt, während die beiden anderen eher Untermaß aufweisen.«
Pendergast hob mild erstaunt die Augenbrauen. »Nun, Sir«, sagte er langsam, »wir haben eher an eine große Katze gedacht oder an ein anderes fleischfressendes Säugetier.«
»Aber Sie wissen doch bestimmt, daß alle räuberischen Säugetiere fünf Krallen haben – vier vorn und eine hinten.«
»Natürlich, Doktor«, sagte Pendergast. »Wenn Sie mir einen Augenblick noch zuhören wollen, dann würde ich Ihnen gerne schildern, wie wir uns das alles gedacht haben.«
»Natürlich«, sagte Frock.
»Wir haben da so eine Theorie, daß der Mörder das hier –« er hob das vermeintliche Vorderglied in die Höhe »– als eine Art Waffe benützt, um seine Opfer aufzuschlitzen. Wir glauben, daß die Verletzungen von einer Art Gegenstand herrühren könnten, den ein primitiver Stamm möglicherweise aus der Vorderpfote eines Jaguars oder eines Löwen gefertigt hat. Die DNS aus der Kralle scheint stark degeneriert zu sein. Vielleicht handelt es sich um einen alten Kultgegenstand, den das Museum vor langer Zeit in seine Sammlungen aufgenommen hat und der später entwendet wurde.«
Frocks Kopf sank nach unten, bis sein Kinn seine Brust berührte. Die Stille, die nur ab und zu von den Geräuschen unterbrochen wurde, die die Polizisten an der Absperrung machten, dehnte sich. Schließlich begann Frock wieder zu sprechen:
»Wie war das bei dem getöteten Wärter? Gab es bei seinen Wunden Anzeichen für diese abgebrochene oder verlorene Kralle?«
»Gute Frage«, sagte Pendergast. »Aber sehen Sie doch selbst.« Er griff wieder in die Plastiktüte und holte einen schweren, plattenförmigen Latexabguß heraus, der wie ein großes Rechteck mit drei ausgefransten Graten in der Mitte aussah.
»Dies ist ein negativer Abguß von einer der Wunden, die der Wärter an seinem Unterleib hatte«, erklärte Pendergast. Margo erschauderte. Das Ding sah ziemlich übel aus.
Frock betrachtete ausgiebig die hohen Grate. »Die Penetration muß enorm gewesen sein. Aber die Wunde zeigt keinerlei Anzeichen für eine abgebrochene Kralle. Damit wollen Sie wohl sagen, daß der Mörder zwei solcher Kultgegenstände verwendet hat.«
Pendergast sah zwar ein wenig unbehaglich drein, aber er nickte.
Frocks Kopf sank abermals nach unten. Diesmal dauerte die Stille eine gute Minute. »Noch was«, sagte er auf einmal ziemlich laut. »Haben Sie bemerkt, wie sich die Krallenspuren leicht zusammenziehen? Daß sie oben weiter auseinander stehen als unten?«
»Ja?« sagte Pendergast.
»Wie eine Hand, die zu einer Faust geballt ist. Das würde bedeuten, daß Ihr Instrument flexibel sein müßte.«
»Zugegeben«, sagte Pendergast, »aber menschliches Fleisch ist ziemlich weich und zerreißt leicht. Deshalb sollten wir vielleicht nicht zuviel auf diese Abgüsse geben.« Er hielt inne und fragte dann: »Dr. Frock, wird vielleicht irgendein Gegenstand, der solche Wunden verursachen könnte, aus den Sammlungen des Museums vermißt?«
»So einen Gegenstand haben wir nicht im Museum«, sagte Frock mit einem schwachen Lächeln. »Diese Spuren können von keinem lebenden Tier stammen, mit dem ich mich je befaßt habe. Sehen Sie, was für eine konische Form die Kralle hat, und die tiefgehende, vollkommen umschlossene Wurzel? Und können Sie erkennen, wie sie zur Spitze hin sich zu einem fast perfekten tripyramidalen Querschnitt verjüngt? So etwas kommt nur bei zwei Klassen von Tieren vor: bei Vögeln und bei Dinosauriern. Daher glauben auch manche Evolutionsbiologen, daß sich die Vögel aus den Dinosauriern entwickelt haben. Ich würde sagen, wir haben hier eine Vogelklaue vor uns, wenn sie dafür nicht viel zu groß wäre. Also muß sie von einem Dinosaurier sein.«
Er legte die Latexklaue in seinen Schoß und blickte, sichtlich erregt, wieder hinauf zu Pendergast. »Natürlich hätte ein cleverer Bursche, der weiß, wie ein Dinosaurier aussieht, so ein Ding anfertigen und als Mordwerkzeug verwenden können. Ich nehme an, Sie haben das Originalfragment daraufhin untersuchen lassen, ob es aus echtem biologischem Material besteht, zum Beispiel aus Keratin, und nicht aus irgendeinem anorganischen Stoff.«
»Ja, Doktor, das haben wir. Das Fragment ist echt.«
»Und Sie sind sich ganz sicher, daß die DNS wirklich zu der Kralle gehörte und nicht bloß vom Blut oder Gewebe des Opfers stammte?«
»Ja«, antwortete Pendergast. »Wie schon gesagt, das Material stammte aus dem Wurzelkanal, nicht von der Kralleninnenfläche.«
»Und von welchem Lebewesen stammte denn nun die DNS?«
»Darüber haben wir den endgültigen Bericht noch nicht vorliegen«, wich Pendergast aus.
Frock packte ihn bei der Hand. »Verstehe. Aber sagen Sie mir eines, warum benützen Sie nicht unser DNS-Labor hier im Museum? Wir haben Möglichkeiten, wie Sie sie im ganzen Staat nicht besser finden.«
»Ebensowenig wie in den ganzen Vereinigten Staaten, Doktor. Aber Sie müssen verstehen, daß unsere Grundsätze uns das verbieten. Könnten wir denn den Ergebnissen wirklich vertrauen, wenn die Untersuchungen praktisch am Tatort vorgenommen würden? Könnte ja sein, daß der Mörder selbst die Versuchsapparaturen bedient.« Pendergast lächelte. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Hartnäckigkeit, Doktor, aber würden Sie es für möglich halten, daß diese Waffe aus Bestandteilen der anthropologischen Sammlung zusammengebaut wurde, und wenn ja, könnten Sie vielleicht einmal nachsehen, welchem Gegenstand oder Gegenständen dieser Abguß am ehesten ähnlich sieht?«
»Wenn Sie unbedingt wollen«, entgegnete Frock.
»Danke. Ich werde mich in ein, zwei Tagen wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. Wäre es Ihnen in der Zwischenzeit vielleicht möglich, mir ein gedrucktes Verzeichnis aller in der anthropologischen Sammlung vorhandenen Gegenstände zu beschaffen?«
Frock lächelte. »Von sechs Millionen Exponaten? Aber Sie können gerne den Computerkatalog benützen. Wollen Sie, daß man Ihnen einen Terminal zur Verfügung stellt?«
»Vielleicht später«, sagte Pendergast und steckte die Latexabgüsse wieder in die Plastiktüte. »Vielen Dank für das Angebot. Unsere Kommandozentrale befindet sich in der ungenützten Galerie hinter der Reprographie.«
Hinter ihnen waren Schritte zu hören. Als Margo sich umdrehte, sah sie die große Gestalt von Dr. Ian Cuthbert, dem stellvertretenden Museumsdirektor, gefolgt von den beiden Polizisten, die vor dem Aufzug Wache hielten.
»Ich möchte wissen, wie lange das hier dauern wird«, beschwerte sich Cuthbert, als er an der Absperrung stehenblieb. »Ach Frock, Sie hat man also auch hier heruntergeholt. Ein fürchterlicher Unfug, finden Sie nicht?«
Frock nickte kaum wahrnehmbar.
»Dr. Frock«, sagte Pendergast. »Es tut mir leid. Das ist der Herr, auf den ich gewartet habe. Wenn Sie wollen, können Sie gerne bleiben.«
Frock nickte wieder.
»Nun, Dr. Cuthbert«, sagte Pendergast munter und wandte sich an den Schotten. »Ich habe Sie hierhergebeten, weil ich gerne ein paar Informationen über den hinter mir liegenden Gebäudeteil hätte.« Er deutet auf eine große Tür.
»Die Sicherheitszone? Was soll damit sein? Ich bin mir sicher, daß Ihnen auch jemand anderes –« begann Cuthbert.
»Aber meine Fragen richten sich an Sie«, unterbrach Pendergast höflich, aber bestimmt. »Könnten wir vielleicht einmal hineingehen?«
»Wenn es nicht allzuviel Zeit in Anspruch nimmt«, sagte Cuthbert. »Ich habe eine wichtige Ausstellung zusammenzustellen.« »Ja, das stimmt«, sagte Frock in einem leicht sarkastischen Ton. »Und was für eine Ausstellung.« Er bedeutete Margo, daß sie ihn nach vorne schieben sollte.
»Dr. Frock?« sagte Pendergast höflich.
»Ja?«
»Könnte ich vielleicht meinen Abguß wiederhaben?«
Die kupferbeschlagene Tür zur Sicherheitszone des Museums war durch eine neue aus Stahl ersetzt worden. Auf der gegenüberliegenden Tür stand »Dickhäuter«, und Margo fragte sich, wie man wohl die großen Elefantenknochen durch den schmalen Türstock gebracht hatte.
Sie wandte sich um und schob Frock in den schmalen Gang hinter der offenen Tür zur Sicherheitszone. Auf beiden Seiten befanden sich kleine Gewölbe, in denen das Museum seine wertvollsten Exponate aufbewahrte: Saphire und Diamanten, Elfenbein und Rhinozeroshörner, die wie Brennholz aufeinandergestapelt waren; Knochen und Häute ausgestorbener Tiere und Kriegsgerät der Zuñi. Zwei Männer in dunklen Anzügen, die Margo wie typische FBI-Agenten vorkamen, standen am Ende des Ganges und unterhielten sich leise. Als sie Pendergast sahen, nahmen sie Haltung an.
Pendergast blieb vor der offenen Tür zu einem der Gewölbe stehen, die mit ihrem großen, schwarzen Schloß, dem Messinggriff und den dekorativen Verzierungen praktisch genauso wie alle anderen Türen aussah. Drinnen warf eine nackte Glühbirne harte Schatten auf die Wände aus Metall. Das Gewölbe war leer, bis auf ein paar Kisten, die auf der einen Seite an der Wand standen. Alle Kisten, bis auf eine, waren ziemlich groß. Der Deckel der kleineren Kiste war abgenommen worden, und eine der größeren Kisten war so stark beschädigt, daß Verpackungsmaterial aus ihr herausquoll.
Pendergast wartete, bis alle in dem Gewölbe waren. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen rasch erläutere, warum wir hier sind«, sagte er. »Der Mord an dem Wärter ereignete sich nicht allzu weit entfernt, und es scheint so, als wäre der Mörder danach hierhergekommen und hätte versucht, die Tür zum Sicherheitsbereich aufzubrechen. Möglicherweise war das nicht das erste Mal, aber bisher blieben alle Versuche ergebnislos.
Zuerst waren wir uns nicht sicher, worauf es der Mörder abgesehen hatte. Wie Sie wissen, wird hier eine Menge wertvolles Material aufbewahrt.« Pendergast gab einem der Polizisten ein Zeichen. Dieser kam herbei und reichte ihm ein Blatt Papier. »Also haben wir herumgefragt und fanden heraus, daß in den vergangenen sechs Monaten nichts in den Sicherheitsbereich hinein- oder aus ihm herausgebracht wurde – bis auf diese Kisten. Sie wurden letzte Woche in dieses Gewölbe gebracht. Und zwar auf Ihre Anweisung hin, Dr. Cuthbert.«
»Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen das erkläre, Mr. Pendergast –« sagte Cuthbert.
»Einen Augenblick Geduld, bitte«, bat Pendergast. »Als wir uns die Kisten näher besahen, fanden wir etwas sehr Interessantes.« Er deutete auf die beschädigte Kiste. »Achten Sie auf die Leisten hier. Sie weisen tiefe Kratzspuren auf. Unsere Leute von der Spurensicherung sind der Meinung, daß sie möglicherweise mit demselben Objekt oder Instrument verursacht wurden wie die Verletzungen der Opfer.«
Pendergast verstummte und sah Cuthbert intensiv an.
»Ich hatte keine Ahnung«, sagte Cuthbert. »Es ist nichts entwendet worden. Ich dachte bloß, daß –« Seine Stimme verlor sich.
»Könnten Sie uns vielleicht über die Geschichte dieser Kisten aufklären, Dr. Cuthbert?«
»Die ist rasch erzählt. Es ist überhaupt kein Geheimnis. Die Kisten stammen von einer alten Expedition.«
»Das habe ich mir fast gedacht«, sagte Pendergast trocken. »Und von welcher Expedition?«
»Von der Whittlesey-Expedition«, antwortete Cuthbert zögernd. Pendergast wartete.
Schließlich seufzte Cuthbert und sagte: »Es war eine Expedition nach Südamerika, die vor über fünf Jahren stattfand. Sie war nicht – besonders erfolgreich.«
»Sie war ein Desaster«, sagte Frock höhnisch. Er ignorierte Cuthberts ärgerlichen Blick und fuhr fort: »Diese Expedition hat damals im Museum für einen Skandal gesorgt. Sie hat sich vorzeitig aufgelöst, und zwar wegen persönlicher Konflikte zwischen den Teilnehmern. Einige von ihnen wurden von Eingeborenen getötet, und der Rest starb bei einem Flugzeugabsturz auf dem Rückweg nach New York. Natürlich gab es sofort die üblichen Gerüchte von einem Fluch.«
»Das ist eine Übertreibung«, fauchte Cuthbert. »Es gab keinerlei Skandal.«
Pendergast sah die beiden an. »Und die Kisten?« fragte er ruhig. »Die Kisten wurden gesondert zurückgeschickt«, sagte Cuthbert. »Aber das alles ist nicht so wichtig. In einer der Kisten war ein sehr ungewöhnliches Objekt, eine kleine Figur, die von den Angehörigen eines mittlerweile ausgestorbenen Stammes in Südamerika angefertigt wurde. Diese Figur soll ein wichtiges Exponat bei der Aberglaube-Ausstellung werden.«
Pendergast nickte. »Fahren Sie fort.«
»Letzte Woche, als wir die Figur holen wollten, bemerkte ich, daß eine der Kisten aufgebrochen worden war.« Er deutete auf die beschädigte Kiste. »Also ordnete ich an, daß alle Kisten vorübergehend in die Sicherheitszone gebracht wurden.«
»Was war denn gestohlen worden?«
»Nun, das war ein bißchen seltsam«, sagte Cuthbert. »Keiner der Gegenstände aus der Kiste fehlte. Dabei ist die kleine Figur allein schon ein Vermögen wert. Sie ist einzigartig auf der ganzen Welt. Der Kothoga-Stamm, der sie gemacht hat, ist vor Jahren ausgestorben.«
»Meinen Sie, daß gar nichts fehlte?« fragte Pendergast.
»Nun, zumindest nichts Wichtiges. Das einzige, was offenbar nicht mehr da war, waren die Samenkapseln, oder was immer es sonst war. Maxwell, der Wissenschaftler, der sie verpackt hat, starb in einem Flugzeugabsturz bei der Insel Asuncíon.«
»Samenkapseln?« fragte Pendergast.
»Ich habe ehrlich keine Ahnung, was sie wirklich waren. Die Aufzeichnungen der Expedition sind, bis auf die für das anthropologische Material, verschwunden. Alles, was an Schriftlichem zurückkam, war Whittleseys Tagebuch, sonst nichts. Als die Kisten im Museum eintrafen, wurde ihr Inhalt gesichtet, aber seitdem –« er hielt inne.
»Erzählen Sie mir doch noch etwas mehr von dieser Expedition«, sagte Pendergast.
»Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Eigentlich sollte sie nach Spuren des Kothoga-Stammes suchen und einen weit abgelegenen Teil des Regenwaldes erkunden. Soviel ich weiß, ergab die Sichtung des Materials, daß fünfundneunzig Prozent der Pflanzen in diesem Gebiet der Wissenschaft bisher unbekannt waren. Whittlesey, der Anthropologe, war der Leiter der Expedition. Ich glaube, es waren auch ein Paläontologe, ein Säugetierspezialist und ein Insektenkundler dabei und außerdem mehrere Assistenten. Whittlesey und ein Assistent namens Crocker verschwanden und wurden höchstwahrscheinlich von Eingeborenen getötet. Der Rest der Expedition starb bei dem Flugzeugabsturz in der Nähe von Asuncíon. Das einzige, was beim Material der Expedition schriftlich dokumentiert ist, ist die kleine Figur, die in Whittleseys Tagebuch beschrieben wird. Der Rest der Sachen ist ein Geheimnis. Es gibt nichts, nicht einmal Ortsbezeichnungen der Fundstücke.«
»Warum«, fragte Pendergast, »ist denn das Material so lange in diesen Kisten liegengeblieben? Warum wurde es nicht ausgepackt, katalogisiert und den Sammlungen einverleibt?« Cuthbert trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Da müssen Sie Frock fragen«, sagte er abwehrend. »Er ist der Leiter der zuständigen Abteilung.«
»Unsere Sammlungen sind riesig«, sagte Frock. »Wir haben immer noch Kisten mit Dinosaurierknochen, die seit den dreißiger Jahren nicht ausgepackt wurden. Es erfordert einen enormen Geld- und Zeitaufwand, solche Dinge zu betreuen.« Er seufzte. »Aber in diesem speziellen Fall handelt es sich nicht darum, daß die Kisten einfach übersehen wurden. Soweit ich mich erinnern kann, wurde es der anthropologischen Abteilung untersagt, den Inhalt der Kisten bei ihrer Rückkehr zu sichten.« Er warf Cuthbert einen vieldeutigen Blick zu.
»Das ist Jahre her!« entgegnete Cuthbert scharf.
»Woher wissen Sie dann, daß sich nicht noch weitere seltene Kultgegenstände in den Kisten befinden?« fragte Pendergast.
»Aus Whittleseys Tagebuch ging hervor, daß die Figur in der kleinen Kiste der einzige wichtige Gegenstand war.«
»Dürfte ich dieses Tagebuch einmal sehen?«
Cuthbert schüttelte den Kopf. »Es ist verschwunden.«
»Haben Sie die Entscheidung getroffen, die Kisten in die Sicherheitszone zu bringen?«
»Ich habe es Dr. Wright vorgeschlagen, nachdem ich erfahren hatte, daß an den Kisten herumhantiert worden war«, antwortete Cuthbert. »Wir haben das Material in den Originalkisten belassen, bis wir uns darum kümmern konnten. Das ist eine der Regeln des Museums.«
»Die Kisten wurden also Ende letzter Woche hierhergebracht«, murmelte Pendergast mehr zu sich selbst. »Kurz bevor die beiden Jungen getötet wurden. Was könnte der Mörder gesucht haben?« Dann blickte er Cuthbert wieder an. »Was, haben Sie gesagt, wurde aus den Kisten gestohlen? Samenkapseln, nicht wahr?«
Cuthbert zuckte mit den Achseln. »Wie schon gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich Samenkapseln waren. Für mich sahen sie so aus, aber ich bin kein Botaniker.«
»Können Sie sie beschreiben?«
»Das ist Jahre her, und ich erinnere mich nicht mehr besonders gut. Groß, rund und schwer. Runzelig. Hellbraune Farbe. Sie müssen wissen, daß ich den Inhalt der Kiste nur zweimal gesehen habe; einmal, als sie hierherkam, und dann letzte Woche, als wir nach Mbwun gesucht haben. Das ist die kleine Figur.«
»Wo ist die Figur jetzt?« fragte Pendergast.
»Sie wird für die Ausstellung vorbereitet. Eigentlich müßte sie schon in ihrem Schaukasten sein, denn wir wollten heute mit dem Aufbau fertig werden.«
»Haben Sie sonst etwas aus der Kiste genommen?«
»Nein. Außer der Figur ist das Zeug momentan für uns nicht interessant.«
»Ich würde diese Figur gerne sehen«, sagte Pendergast.
Cuthbert scharrte gereizt mit den Füßen. »Sie können sie sehen, wenn die Ausstellung eröffnet wird. Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht ganz, was Sie hier machen. Warum vergeuden Sie Ihre Zeit an eine aufgebrochene Kiste, während hier im Museum ein Serienmörder frei herumläuft und Ihre Leute nicht in der Lage sind, ihn dingfest zu machen?«
Frock räusperte sich. »Margo, bitte bringen Sie mich etwas näher ran«, bat er.
Margo schob den Rollstuhl hinüber zu den Kisten. Mit einem Ächzen beugte Frock sich nach vorn, um die beschädigten Bretter zu begutachten.
Alle beobachteten ihn dabei.
»Danke«, sagte er schließlich und richtete sich wieder auf. Dann besah er nacheinander alle in der kleinen Gruppe.
»Bitte beachten Sie, daß die Bretter Kratzer sowohl an der Innenseite als auch an der Außenseite aufweisen«, sagte er. »Mr. Pendergast, meinen Sie eigentlich nicht, daß wir hier eine vorschnelle Behauptung aufgestellt haben?«
»Ich stelle niemals unbewiesene Behauptungen auf«, entgegnete Pendergast mit einem Lächeln.
»Doch, das tun Sie«, beharrte Frock. »Sie alle stellen eine Behauptung auf – und zwar die, daß jemand oder etwas diese Kiste hier von außen aufgebrochen hat.«
In dem Gewölbe war es still. Margo fiel auf, daß es ganz leicht nach Staub und Holzwolle roch.
Dann gab Cuthbert ein heiseres Lachen von sich, das rauh und unangenehm von den Wänden des Gewölbes widerhallte.
Als sie sich wieder Frocks Büro näherten, war der Kurator ungewöhnlich lebhaft.
»Haben Sie sich den Abguß angesehen?« fragte er Margo. »Vogeltypische Merkmale und eine geradezu dinosaurierhafte Form. Das könnte genau das sein, was wir brauchen!« Er konnte vor Aufregung kaum mehr an sich halten.
»Aber Professor Frock, Mr. Pendergast glaubt doch, daß es sich um eine Art Waffe handelt«, sagte Margo rasch. Noch während sie es aussprach, fiel ihr auf, wie sehr sie es glauben wollte.
»Unfug!« schnaubte Frock. »Hatten Sie denn nicht auch das Gefühl, bei dem Abguß auf etwas fast quälend Vertrautes und doch vollkommen Fremdartiges zu blicken? Wir haben da eben einen Irrweg der Evolution erblickt, Margo, einen leibhaftigen Beweis für meine Theorie.« Im Büro zog Frock sofort ein Notizbuch aus seiner Jackettasche und fing an, etwas hineinzukritzeln.
»Aber Professor, wie könnte denn so eine Kreatur –« Margo hörte auf, als sie spürte, wie sich Frocks Hand über die ihre legte. Sein Griff war außergewöhnlich fest.
»Mein liebes Mädchen«, sagte er, »wie Hamlet schon sagte, gibt es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt. Wir müssen nicht immer über alles bis ins kleinste Detail nachdenken. Manchmal müssen wir einfach zusehen und lernen.« Seine Stimme war leise, aber er zitterte vor Aufregung. »Wir dürfen uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, verstehen Sie? Oh, wie hasse ich mein stählernes Gefängnis hier! Sie müssen meine Augen und Ohren sein, Margo. Sie müssen überall hingehen, alles durchsuchen, Sie müssen meine rechte und linke Hand sein. Wir dürfen diese Chance nicht vorbeigehen lassen. Na, was ist? Wollen Sie das für mich tun, Margo?«
Er packte ihre Hand noch fester.