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Ein explosionsartiger Nieser erschütterte die Reagenzgläser und wirbelte getrocknete Pflanzenteile im botanischen Behelfslabor des Museums durcheinander.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Kawakita schniefend. »Ich habe eine Allergie.«

»Hier, nehmen Sie ein Taschentuch«, sagte Margo und griff in ihre Umhängetasche. Sie hatte sich eben Kawakitas Beschreibung seines genetischen Extrapolator-Programms angehört. Es ist brillant, dachte sie. Aber ich wette, daß die grundlegende Theorie dazu von Frock stammt.

»Eine Anwendung des Extrapolators wäre zum Beispiel, die Gensequenzen von zwei verschiedenen Tieren oder Pflanzen zu nehmen und sie in das Programm einzugeben. Der Computer berechnet dazu eine Extrapolation, das heißt, er versucht zu erraten, was für eine evolutionäre Verbindung zwischen den beiden Arten bestehen könnte. Das Programm vergleicht automatisch Teile der DNS und stellt Übereinstimmungen fest und berechnet daraus eine mögliche Gattung, von der die beiden anderen abstammen könnten. Zum Beispiel könnte ich die DNS des Menschen und des Schimpansen vergleichen und würde dann ein Lebewesen erhalten, das irgendwo zwischen den beiden angesiedelt ist.«

»Das Missing Link«, nickte Margo. »Aber Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß das Programm auch ein Bild des errechneten Lebewesens malen kann.«

»Nein!« Kawakita lachte. »Wenn es das könnte, würde ich bestimmt einen Nobelpreis dafür bekommen. Aber es stellt eine Liste von morphologischen und verhaltensspezifischen Merkmalen zusammen, die zu dem errechneten Tier oder zu der Pflanze gehören könnten. Nicht garantiert, aber zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit. Natürlich kann eine solche Liste nicht komplett sein, das werden Sie nachher am Ende dieses Durchlaufs sehen.«

Er tippte eine Reihe von Befehlen ein, und auf dem Computerbildschirm erschien eine rasch ablaufende und nicht enden wollende Abfolge von Nullen und Einsen. »Man kann das abdrehen«, sagte Kawakita. »Aber ich sehe mir gerne den Datenstrom aus dem Gensequenzer an. Es ist, als würde man in einen vorbeiziehenden Fluß schauen. Oder vielleicht auch in einen klaren Forellenbach.« Nach etwa fünf Minuten versiegte der Datenstrom, und der Bildschirm war wieder eine leere, hellblaue Fläche. Dann erschien das Gesicht einer Comicfigur, und eine Stimme ertönte aus dem Lautsprecher des Computers: »Ich denke, ich denke, aber nichts geschieht.«

»Das zeigt an, daß das Programm läuft«, sagte Kawakita und kicherte über seinen Einfall. »Die Berechnung kann bis zu einer Stunde dauern, je nachdem, wie ähnlich oder unähnlich sich die beiden Arten sind.«

Auf dem Bildschirm war jetzt eine Meldung zu lesen:

BERECHNUNG VORAUSSICHTLICH BEENDET IN 030340 MINUTEN.

»Schimpansen und Menschen sind sehr eng verwandt – ihre Gene sind zu achtundneunzig Prozent identisch –, deshalb geht das ziemlich schnell.«

Auf dem Bildschirm erschien über dem Kopf der Comicfigur plötzlich eine Glühbirne.

»Fertig!« sagte Kawakita. »Dann lassen Sie uns mal die Ergebnisse betrachten.«

Er drückte auf eine Taste. Auf dem Bildschirm erschienen folgende Zeilen:

ERSTE SPEZIES:

Spezies:

Pan troglodytes

Gattung:

Pan

Familie:

Pongidae

Ordnung:

Primaten

Klasse:

Säugetiere

Unterabteilung:

Wirbeltiere

Reich:

Tiere

ZWEITE SPEZIES:

Spezies:

Homo sapiens

Gattung:

Homo

Familie:

Hominiden

Ordnung:

Primaten

Klasse:

Säugetiere

Unterabteilung: Wirbeltiere

Reich:

Tiere

Genetische Übereinstimmungen insgesamt:

98,4 %

»Ob Sie es glauben oder nicht«, sagte Kawakita, »die Identifizierung der beiden Arten erfolgte ausschließlich über die Gene. Ich habe dem Computer nicht eingegeben, um welche Organismen es sich handelte. Das ist eine gute Methode, um Zweiflern zu zeigen, daß der Extrapolator kein Unfug oder ein Gimmick ist. Nun, wie dem auch sei, jetzt sehen wir uns mal die Beschreibung der errechneten Zwischenart an. In diesem Fall könnte es, wie Sie schon sagten, das Missing Link sein.«

MORPHOLOGISCHE CHARAKTERISTIKA DER ERRECHNETEN ART:

 

Graziler Körperbau

Gehirnkapazität: 750 ccm

Aufrecht auf zwei Beinen gehend

Greifdaumen

Keine Greiffähigkeit im großen Zeh Unterdurchschnittlicher sexueller Bimorphismus

Gewicht des ausgewachsenen Männchens: 55 kg

Gewicht des ausgewachsenen Weibchens: 45 kg

Trächtigkeitsdauer: 8 Monate

Aggressivität: niedrig bis mäßig

Östraler Zyklus beim Weibchen: Unterdrückt

Die Liste ging weiter und weiter und wurde immer obskurer. Unter »Knochenbau« standen Worte, die Margo kaum mehr verstehen konnte:

Atavistische Fortsätze an den Foramina parietalis

Stark reduzierter Beckenkamm

1012 Brustwirbel

Teilweise gedrehter großer Rollhügel des Hüftbeins

Tiefliegende Augenhöhlen

Atavistische Stirn mit stark hervortretendem Jochfortsatz

Das muß wohl buschige Augenbrauen bedeuten, dachte Margo.

Tagaktiv

Teilweise oder durchgehend monogam

Lebt in kooperativen sozialen Gruppen

»Jetzt hören Sie aber auf. Wie kann Ihr Programm denn so was berechnen?« fragte Margo und deutete auf das Wort monogam.

»Aus den Hormonen«, sagte Kawakita. »Es gibt ein Gen, das für die Hormone verantwortlich ist, wie wir sie bei monogam lebenden Säugetieren finden und das bei promiskuitiven Arten fehlt.

Bei den Menschen haben diese Hormone etwas mit der Paarbildung zu tun. Bei Schimpansen, die sehr promiskuitive Tiere sind, fehlen sie. Und daß der östrale Zyklus, also der Umstand, daß das Weibchen zu bestimmten Zeiten läufig ist, unterdrückt ist, findet man auch nur bei relativ monogam lebenden Arten. Das Programm verwendet ein ganzes Arsenal von programmiertechnischen Raffinessen – AI-Algorithmen und Fuzzy Logic, zum Beispiel – um den Effekt verschiedener Gene auf das Verhalten und das Aussehen eines errechneten Organismus zu interpretieren.«

»Was sind AI-Algorithmen? Und was ist Fuzzy Logic? Da kann ich Ihnen nicht mehr folgen«, sagte Margo.

»Nun, eigentlich ist das ja auch nicht so wichtig. Ist eh besser, wenn ich Ihnen nicht alle Geheimnisse verrate. Unter dem Strich bedeutet es aber, daß das Programm eher wie ein Mensch denkt und nicht mehr ganz wie ein Computer. Es kann Annahmen machen und Vermutungen treffen und eine Art Intuition einsetzen. Die Eigenschaft ›kooperativ‹ beruht zum Beispiel aus dem Vorhandensein beziehungsweise Nichtvorhandensein von an die achtzig verschiedenen Genen.«

»Ist das alles?« fragte Margo scherzhaft.

»Nein«, antwortete Kawakita. »Man kann das Programm auch benutzen, um Größe, Aussehen und Verhalten eines einzelnen Organismus zu berechnen, indem man ihm die DNS dieses Lebewesens eingibt. Und wenn die Geldmittel dafür nicht gestrichen werden, plane ich, dem Programm noch zwei weitere Module hinzuzufügen. Das erste wird, ausgehend von einer einzelnen Art, in die Vergangenheit rechnen, das andere in die Zukunft. Mit anderen Worten, wir werden dadurch mehr über ausgestorbene Lebewesen erfahren und uns ein Bild von zukünftigen Organismen machen können.« Er grinste. »Nicht schlecht, was?«

»Es ist erstaunlich« sagte Margo, der auf einmal ihr eigenes Forschungsprojekt im Gegensatz dazu geradezu armselig vorkam. »Wie haben Sie es denn entwickelt?«

Kawakita zögerte und sah sie ein wenig mißtrauisch an. Dann sagte er langsam: »Als ich anfing, für Frock zu arbeiten, erzählte er mir, wie sehr es ihn frustriert, daß es nur so lückenhafte Fossilienfunde gibt. Er sagte, er wolle diese Lücken auffüllen und wissen, wie die dazwischenliegenden Lebensformen aussahen. Also schrieb ich dieses Programm nach Frocks Vorgaben. Zuerst testeten wir es mit verschiedenen Arten, von denen wir eine Menge genetischer Daten hatten, mit Schimpansen, Menschen und einigen bestimmten Bakterien also. Und dann passierte etwas Unglaubliches. Frock, der alte Fuchs, hatte es erwartet, ich aber nicht. Als wir den Haushund mit der Hyäne verglichen und hochrechneten, erhielten wir nicht, wie eigentlich zu erwarten war, irgendeine langweilige, glatte Zwischenform, sondern ein bizarres Lebewesen, das sich von dem Hund ebenso wie von der Hyäne gleichermaßen gravierend unterschied. Dasselbe passierte auch mit einer Reihe von weiteren Artenpaaren. Wissen Sie, was Frock dazu sagte?«

Margo schüttelte den Kopf.

»Er lächelte nur und sagte: ›Jetzt sehen Sie den wahren Wert dieses Programms.‹« Kawakita zuckte mit den Achseln. »Mein Programm unterstützt Frocks Theorie des Kallisto-Effekts, denn es zeigt, wie kleine Unterschiede in der DNS manchmal ganz extreme Veränderungen eines Organismus bewirken können. Ich war ein bißchen verschnupft, weil er es mir nicht gleich gesagt hatte, aber so arbeitet Frock nun einmal.«

»Kein Wunder, daß Frock so darauf gedrängt hat, daß ich dieses Programm benütze«, sagte Margo. »Es stellt ja geradezu eine Revolution in der Evolutionslehre dar.«

»Ja, aber niemand schenkt ihm Beachtung«, sagte Kawakita bitter. »Um alles, was mit Frock zu tun hat, macht der Rest der wissenschaftlichen Welt momentan einen ganz großen Bogen. Es ist wirklich frustrierend, wenn man sein Herzblut für eine Sache geopfert hat und diese dann einfach ignoriert wird. Ganz unter uns, Margo, ich denke manchmal darüber nach, ob ich mich nicht von Frock als Doktorvater lösen und mich Cuthberts Gruppe anschließen sollte. Ich denke, daß ich viel von meiner Arbeit mit hinübernehmen könnte. Vielleicht sollten Sie sich das auch überlegen.«

»Danke für den Vorschlag, aber ich bleibe bei Frock«, sagte Margo pikiert. »Ohne ihn wäre ich überhaupt nicht mit Genetik in Berührung gekommen. Ich verdanke ihm viel.«

»Wie Sie meinen«, sagte Kawakita. »Aber vielleicht bleiben Sie ja noch nicht einmal am Museum, stimmt’s? Das hat mir wenigstens Bill Smithback erzählt. Für mich aber steht hier meine gesamte Karriere auf dem Spiel. Und meine Philosophie ist, daß man niemandem etwas verdankt, außer sich selbst. Sehen Sie sich doch im Museum bloß mal um; schauen Sie Wright an, Cuthbert und all die anderen. Legen die sich etwa für jemanden anderen als für sich selbst ins Zeug? Sie und ich, wir sind Evolutionsbiologen. Wir wissen, daß nur der Stärkste überlebt und wie grausam die Natur sein kann. Auch als Wissenschaftler kämpft man ums Überleben.«

Margo blickte in Kawakitas funkelnde, schwarze Augen. Irgendwie hatte er recht. Aber gleichzeitig dachte Margo, daß Menschen, gerade weil sie die brutalen Gesetze der Natur herausgefunden hatten, vielleicht einige davon überwinden könnten.

Sie wechselte das Thema. »Dann arbeitet der Extrapolator also mit Pflanzen-DNS genauso wie mit Tier-DNS

»Ganz genauso«, erwiderte Kawakita in einem nun wieder geschäftsmäßigeren Ton. »Man läßt den DNS-Sequenzierer die Daten von zwei Pflanzen analysieren und füttert sie dann in den Extrapolator. Der sagt Ihnen, wie eng diese Pflanzen miteinander verwandt sind, und beschreibt die errechnete Zwischenform. Aber seien Sie nicht überrascht, wenn das Programm Fragen stellt oder Kommentare abgibt. Ich habe bei der Entwicklung der künstlichen Intelligenz hier und da ein paar Auflockerungen eingebaut.«

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Margo. »Danke. Sie haben wirklich phantastische Arbeit geleistet.«

Kawakita beugte sich zwinkernd zu Margo hinüber. »Dafür schulden Sie mir jetzt was, Kindchen.«

»Jederzeit«, sagte Margo. Kindchen. Ihm was schulden. Sie mochte Leute nicht, die so redeten. Und wenn Kawakita etwas sagte, dann meinte er es auch.

Er streckte sich und nieste noch einmal. »Ich gehe jetzt. Muß noch rasch etwas essen, bevor ich nach Hause gehe und meinen Smoking für die Party heute abend hole. Ich frage mich ernsthaft, warum ich heute überhaupt ins Museum gekommen bin – alle anderen sind daheim geblieben, um sich auf die Eröffnung vorzubereiten. Sehen Sie sich bloß mal dieses Labor an. Es ist buchstäblich verlassen.«

»Smoking, was?« sagte Margo. »Ich habe mein Kleid schon heute früh mitgenommen. Es ist ganz nett, aber kein Modellkleid oder so was.«

Kawakita beugte sich wieder zu ihr. »Kleider machen Leute, Margo. Wenn die Leute, die was zu sagen haben, einen Burschen im T-Shirt sehen, dann mag der noch so begabt sein, aber sie können ihn sich einfach nicht bildlich als Museumsdirektor vorstellen.«

»Und Sie wollen Direktor werden?«

»Natürlich«, antwortete Kawakita erstaunt. »Sie etwa nicht?«

»Was ist daran falsch, wenn man einfach nur eine gute Wissenschaftlerin sein will?«

»Das kann doch jeder. Ich jedenfalls würde gerne eines Tages eine wichtigere Rolle spielen. Als Direktor kann man der Wissenschaft einen viel größeren Dienst erweisen als irgendein Forscher in einem miefigen kleinen Labor wie diesem hier. Heutzutage genügt es nicht mehr, lediglich ein brillanter Wissenschaftler zu sein.« Er klopfte ihr auf die Schulter. »Viel Spaß noch. Aber machen Sie mir bloß nichts kaputt.«

Kawakita ging, und ins Labor zog Stille ein.

Margo blieb eine Weile bewegungslos sitzen. Dann öffnete sie den Ordner mit den Pflanzen der Kiribitu. Dabei mußte sie ständig daran denken, daß es eigentlich viel wichtigere Dinge zu tun gab. Als sie früher am Nachmittag nach etlichen vergeblichen Versuchen endlich Frock telefonisch erreicht und ihm vom Inhalt der Kiste berichtet hatte, war dieser sehr still geworden. Es war so, als wäre ihm plötzlich die Luft ausgegangen. Er hatte richtiggehend deprimiert geklungen, und Margo hatte ihm daraufhin nichts mehr von dem Fund des Tagebuchs erzählt, das sich ja schließlich auch nicht als sehr ergiebig herausgestellt hatte.

Sie sah auf ihre Uhr. Es war schon nach eins. Die Sequenzierung der Pflanzen-DNS würde einige Zeit in Anspruch nehmen, und erst wenn der Computer damit fertig war, konnte sie Kawakitas Extrapolator benützen. Frock hatte sie bereits darauf hingewiesen, daß dies die erste systematische Untersuchung eines von einem primitiven Stamm aufgestellten Pflanzenklassifizierungssystems war. Mit diesem Programm konnte sie möglicherweise beweisen, daß die Kiribitu mit ihrer außergewöhnlichen Kenntnis verschiedener Pflanzen diese tatsächlich biologisch richtig klassifiziert hatten. Das Programm würde ihr hypothetische Zwischenpflanzen errechnen, deren wirkliche Pendants dann vielleicht tatsächlich im Gebiet der Kiribitu im Regenwald zu finden waren. Das hatte Frock zumindest im Sinn.

Um die DNS einer einzelnen Pflanze sequenzieren zu können, mußte sie ein kleines Stück davon entfernen. Nach einem ausführlichen elektronischen Nachrichtenaustausch hatte sie heute vormittag schließlich die Erlaubnis erhalten, jeder Pflanze ein Zehntel Gramm zu entnehmen. Das war genug.

Margo sah die empfindlichen gepreßten Pflanzen an, die ein wenig nach Gewürzen und Heu rochen. Manche von ihnen hatten eine stark halluzinogene Wirkung und wurden von den Kiribitu für ihre religiösen Zeremonien verwendet; andere waren Arzneipflanzen, die möglicherweise einen hohen Wert für die moderne Medizin besaßen.

Sie nahm die erste Pflanze mit zwei Pinzetten und trennte mit einem Skalpell die oberste Spitze eines Blattes ab. Diese zerrieb sie dann in einem Mörser zusammen mit einem milden Enzym, das die Zellulose und die Zellkerne auflösen und die DNS freisetzen sollte. Margo arbeitete zügig, aber sorgfältig, bis sie den in einer Zentrifuge ausgeschleuderten Pflanzen-Enzym-Brei titriert hatte. Dann wiederholte sie den Vorgang mit den anderen Pflanzen.

Danach mußte die Substanz zehn Minuten lang zentrifugiert werden, und während die Zentrifuge in ihrem Gehäuse aus grauem Metall vor sich hin rotierte, lehnte Margo sich zurück und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie fragte sich, wie Smithback wohl mit seiner neuen Rolle als Paria des Museums zurechtkommen würde. Sie fragte sich weiterhin, mit einem kleinen Anflug von Furcht, ob Mrs. Rickman wohl schon das Fehlen des Tagebuchs bemerkt hatte. Dann dachte sie über das nach, was Jorgensen gesagt hatte, und über Whittleseys Beschreibung seiner letzten Tage auf dieser Welt. Sie stellte sich vor, wie die alte Kothoga-Frau mit einem faltigen Finger auf die Figur in der Kiste deutete und Whittlesey vor dem Fluch warnte. Margo meinte, die Szene direkt vor sich sehen zu können: Die von Ranken überwachsene Hütte, die Fliegen, die im Sonnenlicht herumschwirrten. Wo war die Frau wohl hergekommen? Und dann stellte Margo sich vor, wie Whittlesey tief durchatmete und zum ersten Mal die düstere, geheimnisvolle Hütte betrat –

Einen Moment mal, dachte sie. In dem Tagebuch war gestanden, daß sie vor dem Betreten der Hütte die alte Frau gesehen hätten. Und aus dem Brief im Deckel der Kiste ging klar hervor, daß Whittlesey die Figur in der Hütte gefunden hatte. Die aber hatte er erst betreten, nachdem die alte Frau weggelaufen war. Die Frau konnte also nicht die Figur gemeint haben, als sie auf die Kiste deutete und schrie, daß Mbwun dort drinnen sei. Sie mußte auf etwas anderes gezeigt und es Mbwun genannt haben! Niemandem war das bisher aufgefallen, denn bisher hatte ja auch niemand – außer ihr, Smithback und Jorgensen – Whittleseys Brief gelesen. Aufgrund der Beschreibung in Whittleseys Tagebuch hatte jedermann angenommen, daß mit Mbwun die Figur gemeint gewesen sei.

Aber sie hatten sich geirrt. Mbwun, der wirkliche Mbwun, war gar nicht diese Figur. Was hatte die Alte noch mal genau gesagt? Jetzt ist weißer Mann gekommen und nimmt Mbwun mit. Nehmt euch in acht, Mbwun wird den weißen Mann zerstören! Ihr bringt eurem Volk den Tod!

Und genau das war dann auch geschehen. Der Tod war ins Museum gekommen. Aber was in der Kiste konnte die alte Frau gemeint haben?

Margo holte ihr Notizbuch aus der Umhängetasche und schrieb sich rasch eine Liste von den Dingen, die sie am Tag zuvor in der Kiste gefunden hatte:

Pflanzenpresse mit Pflanzen

Blasrohr mit Pfeilen

Scheiben mit eingeritztem Muster

Lippenschmuck

Fünf oder sechs Tongefäße mit eingelegten Fröschen oder Salamandern (glaube ich wenigstens)

Vogelbälge

Pfeil- und Speerspitzen aus Feuerstein

Schamanenrassel

Decke

Sonst noch was? Margo wühlte in ihrer Handtasche herum und legte die Pflanzenpresse, die Scheibe und die Schamanenrassel vor sich auf den Tisch.

Die beschädigte Rassel war interessant, aber nicht gerade ungewöhnlich. Margo hatte mehrere, wesentlich exotischere Exemplare in der Aberglaube-Ausstellung gesehen.

Die Steinscheibe war da schon geheimnisvoller. Die eingeritzte Szene zeigte Menschen, die um einen See standen und sich vornüberbeugten. Manche von ihnen hatten Pflanzen in der Hand, andere Körbe auf dem Rücken. Recht seltsam, aber dennoch schien die Scheibe kein ausgesprochenes Kultobjekt zu sein.

Margos Liste war nicht sehr hilfreich. Nichts in der Kiste sah auch nur im entferntesten wie ein Teufel aus oder wie etwas, was der alten Frau einen solchen fürchterlichen Schrecken hatte einjagen können.

Sorgfältig schraubte Margo die kleine Pflanzenpresse auf und entfernte die von Schrauben und Sperrholzbrettern zusammengehaltenen Löschpapierblätter. Vorsichtig nahm sie das erste davon ab.

Darunter lagen ein Pflanzenstengel mit mehreren Blüten. Margo hatte so eine Pflanze zwar noch nie vorher gesehen, sie kam ihr aber auf den ersten Blick nicht besonders aufregend vor. Unter den folgenden Löschpapierblättern befanden sich ein paar Blüten und Blätter. Das war keine von einem professionellen Botaniker gemachte Sammlung, dachte Margo. Whittlesey war ein Anthropologe, und er hatte diese Pflanzen möglicherweise mitgenommen, weil sie ihm besonders auffällig und außergewöhnlich erschienen waren. Aber warum hatte er sie überhaupt gesammelt? Nachdem sie alle Pflanzen durchgesehen hatte, fand Margo unten auf dem letzten Blatt Löschpapier eine erläuternde Notiz:

Auswahl von Pflanzen aus einem überwucherten, aufgelassenen (und von den Kothoga angelegten?) Garten in der Nähe einer verlassenen Hütte, gesammelt am 16. September 1987. Möglicherweise Kulturpflanzen, manche haben sich allerdings vielleicht erst nach Aufgabe des Gartens angesiedelt.

Auf dem Zettel war auch noch eine kleine Zeichnung von dem überwucherten Garten, auf der die Standorte der verschiedenen Pflanzen eingezeichnet waren. Das ist die Vorgehensweise eines Anthropologen, nicht eines Botanikers, dachte Margo. Dennoch fand sie es beachtenswert, daß Whittlesey der Beziehung der Kothoga zu ihren Pflanzen so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Margo besah sich nun die einzelnen getrockneten Pflanzen genauer. Eine davon erweckte ihr besonderes Interesse: Sie hatte einen langen, faserigen Stengel, der an seinem oberen Ende nur ein einziges, rundes Blatt trug. Margo dachte, daß es sich um eine Wasserpflanze handeln mußte, ähnlich einer Seerose. Kommt wohl in überfluteten Flußniederungen vor, dachte sie.

Und plötzlich hatte sie das starke Gefühl, an etwas erinnert zu werden, bis ihr klar wurde, daß auf der Scheibe, die Whittlesey in der Hütte gefunden hatte, dieselbe Pflanze eingeritzt war. Margo betrachtete die Zeichnung auf der Scheibe noch einmal. Sie zeigte Menschen, die in einer Art Zeremonie diese Pflanze aus dem Wasser oder einem Sumpf ernteten. Die Gesichter der Figuren sahen verzerrt und sorgenvoll aus. Sehr seltsam. Margo freute sich, daß ihr die Verbindung aufgefallen war, darüber konnte sie einen netten, kleinen Artikel fürs Journal of Ethnobotany schreiben.

Sie legte die Scheibe zur Seite, baute die Pflanzenpresse wieder zusammen und schraubte sie fest zu. Ein lautes Piepen wies sie darauf hin, daß die Zentrifuge fertiggeschleudert hatte und das Material somit präpariert war.

Margo öffnete die Zentrifuge und kratzte mit einem Glasspatel etwas von der dünnen Schicht am Boden des Teströhrchens ab. Vorsichtig trug sie es auf ein Tablett mit Gel auf, das sie dann in die Elektrophoresemaschine gab. Sie griff nach dem Schalter und dachte dabei: Jetzt dauert es noch mal eine halbe Stunde.

Den Finger immer noch auf dem Schalter, hielt sie inne. Ihre Gedanken wanderten zurück zu der alten Frau und dem Geheimnis von Mbwun. Hatte sie vielleicht die Samenkapseln meinen können, die so ähnlich wie Eier aussahen? Nein, das konnte sie nicht, denn Maxwell war ja mit den Kapseln bereits auf dem Rückweg gewesen. Sie konnten also nicht in Whittleseys Kiste gewesen sein. Und was war mit den Fröschen oder Salamandern in den Krügen oder einem Vogelbalg? All das schienen wenig wahrscheinliche Erscheinungsformen für den leibhaftigen Sohn des Teufels zu sein. Und um die Pflanzen aus dem Garten konnte es sich auch nicht handeln, denn die waren schließlich in der Pflanzenpresse und damit für die Frau nicht sichtbar gewesen.

Also was war es dann? Hatte sich die Alte vielleicht wegen nichts Bestimmtem so aufgeregt?

Mit einem Seufzer schaltete Margo die Maschine an und lehnte sich zurück. Dann steckte sie die Pflanzenpresse und die Scheibe wieder zurück in ihre Umhängetasche, wobei sie von der Presse ein paar an ihr festhängende Pflanzenfasern entfernte. Die mußten vom Packmaterial in der Kiste stammen. Auch in ihrer Tasche lagen ein paar dieser Fasern herum. Noch ein Grund mehr, das verdammte Ding mal wieder gründlich auszumisten.

Die Fasern des Packmaterials.

Neugierig geworden, nahm Margo eine davon mit einer Pinzette auf, legte sie auf einen gläsernen Objektträger und schob sie unter das Elektronenmikroskop. Sie war lang und unregelmäßig dick, als stamme sie von einer Pflanze mit einem starken Stengel. Vielleicht hatten Kothoga-Frauen diese Stengel für Haushaltszwecke flachgeklopft. Durch das Mikroskop konnte Margo die einzelnen Zellen matt schimmern sehen, deren Zellkerne heller waren als die sie umgebende, äußere Plasmaschicht.

Sie dachte wieder an Whittleseys Tagebuch. Hatte Whittlesey nicht davon gesprochen, daß Gefäße mit Fundstücken zerbrochen seien und daß er deshalb die Kiste hatte umpacken müssen? In der Nähe der verlassenen Hütte hatten sie vermutlich das vom ausgelaufenen Formaldehyd feucht gewordene, alte Packmaterial weggeworfen und die Kiste mit den Fasern, die in der Nähe der verlassenen Hütte gelegen hatten, neu gepackt. Fasern, die vielleicht die Kothoga erzeugt hatten; möglicherweise zum Weben grober Stoffe oder zur Herstellung von Seilen.

Konnte die alte Frau vielleicht diese Fasern gemeint haben? Es schien eigentlich unmöglich. Und trotzdem verspürte Margo eine gewisse professionelle Neugier. Hatten die Kothoga diese Pflanze möglicherweise gezielt angebaut?

Margo nahm ein paar der Fasern und steckte sie in einen frischen Mörser, träufelte ein paar Tropfen Enzym dazu und zerrieb sie zu einem feuchten Brei. Wenn sie die DNS-Sequenzen dieser Fasern ermittelt hatte, konnte sie über Kawakitas Programm zumindest die Art oder Familie der Pflanze bestimmen.

Bald war die zentrifugierte DNS aus den Fasern bereit für die Elektrophoresemaschine. Margo erledigte die üblichen Handgriffe, dann schaltete sie die Maschine ein. Langsam begannen sich in dem unter Strom stehenden Gel dunkle Streifen zu bilden.

Eine halbe Stunde später ging das rote Licht an der Elektrophoresemaschine aus. Margo nahm das Tablett mit dem Gel heraus und tippte die Position der Streifen und Punkte der ins Gel gewanderten Nukleotide in den Computer ein.

Als sie die letzten Daten eingegeben hatte, gab sie Kawakitas Programm den Befehl, nach Übereinstimmungen mit bekannten Organismen zu suchen, leitete die Ergebnisse auf den Drucker und wartete. Schließlich wurden die Seiten ausgedruckt. Auf der ersten stand folgendes:

Art:

Unbekannt. 10 % zufällige genetische Übereinstimmungen

Gattung:

Unbekannt

Familie:

Unbekannt

Ordnung:

Unbekannt

Klasse:

Unbekannt

Unterabteilung: Unbekannt

Reich:

Unbekannt

Verdammt, Margo! Was hast du mir denn da eingegeben? Ich weiß nicht mal, ob das eine Pflanze oder ein Tier ist. Du glaubst ja gar nicht, wieviel Rechenzeit mich das gekostet hat!

Margo mußte lächeln. So also sah Kawakitas ausgefeiltes Kommunikationsprogramm mit dem Benutzer aus. Und die Ergebnisse des Testlaufs waren geradezu lachhaft. Reich unbekannt? Das verdammte Programm konnte nicht einmal sagen, ob es eine Pflanze oder ein Tier vor sich hatte. Auf einmal ahnte Margo, warum Kawakita ihr anfangs das Programm nicht hatte zeigen wollen und warum es dazu des Eingreifens von Dr. Frock bedurft hatte. Wenn man sich nämlich aus den dem Programm bekannten Bereichen entfernte, wurden seine Analysen recht fehlerhaft.

Margo überflog den Ausdruck. Der Computer hatte nur wenige Gene der Probe identifizieren können. Es waren diejenigen, die fast jedes Lebewesen besaß: ein paar Proteine aus dem Atmungszyklus, Cytochrom Z und mehrere andere, universell vorkommende Gene. Außerdem waren ein paar Gene erkannt worden, die mit Zellulose, Chlorophyll und Zucker zusammenhingen und von denen Margo wußte, daß es spezifische Pflanzengene waren.

Sie tippte in den Computer ein:

Wieso weißt du nicht, ob es ein Tier oder eine Pflanze ist? Ich sehe eine Menge Pflanzengene.

Es dauerte eine Weile, dann gab der Computer aus:

Und was sagst du zu den Tiergenen, die auch in der Probe sind? Laß die Daten doch mal von GenBank überprüfen.

Gute Idee, dachte Margo. Sie wählte über das Modem eine Nummer an, und bald darauf erschien das vertraute, blaue Logo von GenBank auf dem Bildschirm. Dann ließ sie die Gensequenzen der Fasern mit den dort abgespeicherten Pflanzendaten abgleichen. Das Ergebnis war dasselbe wie zuvor: praktisch keine Übereinstimmung, nur ein paar bei allgemeinen Chlorophyll- und Zuckergenen.

Einem Impuls folgend, ließ Margo daraufhin die DNS auch mit den über Tiere gespeicherten Daten vergleichen.

Es dauerte ziemlich lange, bis auf einmal eine wahre Flut von Daten auf dem Bildschirm erschien. Margo tippte rasch einen Befehl ein, damit das Terminal die Daten sicherte. Es gab eine Reihe von Übereinstimmungen mit Genen, von denen sie noch nie etwas gehört hatte.

Margo beendete die Verbindung mit GenBank, fütterte die erhaltenen Daten in Kawakitas Programm und wollte wissen, wofür die gefundenen Gene im einzelnen verantwortlich waren. Eine Liste von komplizierten Proteinen scrollte über den Schirm:

Glycotetraglycin Kollagenoid

Weinsteins thyreotropisches Hormon, 2,6 Adenosin (gram positiv)

1,2,3 Oxytocin 4-Monoxytocin supprimierendes Hormon

2,4 Diglycerid Diethylglobulin Ring-Alanin

Gammaglobulin A,x-y, links positiv

Corticotropes Hypothalamushormon, links negativ

11-1 Sulphagen (2,3 Murin) verbindendes Keratinoid,

III-IV Rückbildung

Hexagonal ambyloide Reovirus-Eiweißhülle

Enzyme zur reversen Transkriptase

Auf diese Weise ging die Liste weiter und weiter. Da scheint eine Menge Hormone dabeizusein, dachte Margo. Aber was für Hormone?

Sie holte sich die Enzyklopädie der Biochemie, die unter einer dünnen Staubschicht in einem Regal stand, und schlug das Glycotetraglycin Kollagenoid nach:

Ein Protein, das bei fast allen Wirbeltieren vorkommt. Dieses Protein verbindet Muskelgewebe mit Knorpelmasse.

Dann blätterte sie weiter, bis sie Weinsteins thyreotropisches Hormon gefunden hatte:

Ein bei Säugetieren vorkommendes, in der Thalamusregion produziertes Hormon, das die Schilddrüse zu erhöhter Ausschüttung des Neurotransmitters Epinephrin anregt. Es spielt eine wichtige Rolle beim sogenannten »Kampf-oder-Flucht-Syndrom«, indem es den Herzschlag beschleunigt und möglicherweise die geistige Wachsamkeit erhöht.

Ein schrecklicher Gedanke begann in Margos Kopf Gestalt anzunehmen. Rasch schlug sie das nächste Hormon, das 1,2,3 Oxytocin 4-Monoxytocin supprimierende Hormon, nach:

Ein Hormon, das die menschliche Hypothalamusdrüse ausschüttet. Seine genaue Funktion ist bislang noch nicht bekannt. Neuere Forschungen haben ergeben, daß es möglicherweise bei außergewöhnlichen Streßsituationen den Testosteronspiegel im Blut reguliert. (Bouchard 1992, Dennison 1991).

Margo lehnte sich erschreckt zurück, und das Buch fiel mit einem dumpfen Knall auf den Boden. Sie hob den Telefonhörer ab und warf einen Blick hinauf zur Wanduhr. Es war halb vier.