29

Margo beobachtete, wie Sherry auf Frocks Brust tröpfelte. »Herrje«, sagte er und wischte mit seinen plumpen Händen die Flüssigkeit ab. Dann stellte er mit übertriebener Vorsicht das Glas auf den Schreibtisch und blickte hinauf zu Margo. »Danke, daß Sie damit gleich zu mir gekommen sind, meine Liebe. Das ist ja eine ganz außergewöhnliche Entdeckung. Eigentlich würde ich jetzt am liebsten sofort mit Ihnen hinunter in die Ausstellung gehen und diese Figur genau in Augenschein nehmen, aber dieser Pendergast wird gleich hier sein und mir wieder mal auf die Nerven gehen.«

Gott segne Sie, Agent Pendergast, dachte Margo. Das letzte, was sie jetzt hätte tun wollen, wäre ein weiterer Besuch in der Ausstellung gewesen.

Frock seufzte. »Nun, macht nichts, wir werden sie schon noch früh genug untersuchen können. Sobald Pendergast wieder gegangen ist, werden wir der Sache auf den Grund gehen. Wenn Sie recht damit haben, daß ihre Krallen so ähnlich aussehen wie die, von denen die Opfer so zugerichtet wurden, könnte diese Mbwun-Figur ein zusätzlicher Beweis für meine Theorie sein.«

»Aber wie kann denn so eine Kreatur im Museum frei herumlaufen?« fragte Margo.

»Ah!« rief Frock mit leuchtenden Augen. »Das ist die große Frage, nicht wahr? Was, meine liebe Margo, verstehen Sie unter runzelig?«

»Ich – ich weiß nicht so recht«, sagte Margo. »Faltig vielleicht?«

»Runzelig! Das ist für mich ein fast regelmäßiges Muster von Vertiefungen, Falten oder Einschnitten. Ich sage Ihnen, was runzelig ist. Reptilieneier sind runzelig. Wie zum Beispiel Dinosauriereier.«

Margo spürte, wie eine Erinnerung auf einmal in ihr hochkam.

»Dieses Wort –«

»– hat Cuthbert benutzt, um die Samenkapseln zu beschreiben, die aus der einen Kiste verschwunden sind«, beendete Frock den Satz für Margo. »Jetzt frage ich Sie: Waren das wirklich Samenkapseln? Welche Samenkapseln sehen denn verrunzelt und schuppig aus? Ein Ei hingegen – Cuthbert ist eingefleischter Anthropologe; er kann eine Samenkapsel nicht von einem Ei unterscheiden.«

Frock richtete sich in seinem Rollstuhl auf. »Nächste Frage: Wo sind diese Dinger geblieben? Wurden sie gestohlen? Oder sind sie –«

Der Wissenschaftler hörte mitten im Satz auf und ließ sich kopfschüttelnd wieder in den Rollstuhl sinken.

»Aber wenn etwas – wenn etwas ausgebrütet worden und aus der Kiste ausgebrochen wäre«, sagte Margo, »wie erklärt das dann die Morde an Bord des Frachtschiffes, das die Kisten aus Südamerika gebracht hat?«

»Margo«, sagte Dr. Frock und lachte leise in sich hinein, »was wir hier haben, ist ein Rätsel, das in viele weitere Rätsel verpackt ist. Es ist dringend nötig, daß wir uns mehr Informationen beschaffen und keine zusätzliche Zeit mehr verlieren.«

Ein leises Klopfen ertönte an der Tür.

»Das muß Pendergast sein«, sagte Frock und fuhr mit dem Rollstuhl etwas nach hinten. »Kommen Sie rein«, rief er dann mit etwas lauterer Stimme.

Der Agent kam, die Aktentasche in der Hand, ins Zimmer. Sein schwarzer Anzug war wie immer tadellos gepflegt, und seine fast weißen Haare waren nach hinten gekämmt. Margo kam er so gesammelt und gelassen vor wie bei ihrem ersten Zusammentreffen. Frock deutete auf einen der viktorianischen Stühle, und Pendergast setzte sich.

»Schön, Sie wiederzusehen, Sir«, sagte Frock. »Sie kennen ja Miß Green. Wir sind gerade mitten in einer Besprechung, und ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn sie bleibt.«

Pendergast hob einwilligend die Hand. »Natürlich nicht. Ich weiß, daß Sie beide meine Bitte um Vertraulichkeit auch weiterhin respektieren werden.«

»Selbstverständlich«, sagte Dr. Frock, und Margo schwieg.

»Ich weiß, daß Sie viel zu tun haben, Dr. Forck, und deshalb möchte ich es kurz machen«, begann Pendergast. »Ich wollte eigentlich nur wissen, ob Sie mittlerweile den Gegenstand gefunden haben, den zu suchen ich Sie gebeten habe. Sie wissen schon, ein Exponat, das möglicherweise als Mordwaffe hätte verwendet werden können.«

Frock rutschte in seinem Rollstuhl herum. »Ihrem Wunsch gemäß habe ich über die Angelegenheit weiter nachgedacht und habe systematisch in unseren Magazinbeständen sowohl nach einem als auch nach mehreren Gegenständen gesucht, die eventuell als Mordwaffe in Frage kämen.« Er schüttelte den Kopf. »Leider habe ich nichts gefunden, was auch nur in Ansätzen dem Abguß geähnelt hätte, den Sie uns gezeigt haben. Etwas Derartiges hatten wir nie in unseren Sammlungen.«

Pendergasts Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, was er dachte. Dann lächelte er. »Offiziell dürfte ich das natürlich nie zugeben, aber dieser Fall ist – sagen wir mal – eine Ausnahme.« Er deutete auf seine Aktentasche. »Ich ertrinke fast in angeblichen Monstersichtungen, Laborberichten und Vernehmungsprotokollen. Aber bisher paßt noch kein Steinchen zum anderen.«

Frock lächelte. »Ich schätze, daß Ihre und meine Arbeit sich ziemlich ähneln dürften, Mr. Pendergast. In einer solchen mißlichen Lage habe auch ich mich schon des öfteren befunden. Und ich bin mir ziemlich sicher, daß Seine Eminenz, der Herr Direktor, so tut, als wäre überhaupt nichts Ungewöhnliches vorgefallen.«

Pendergast nickte.

»Wright ist nur darauf erpicht, daß die Ausstellung wie geplant morgen abend eröffnet wird. Warum? Das will ich Ihnen sagen. Weil«, Frock kicherte vor sich hin, »vor achtzehn Jahren das Museum die Stadt New York überredet hat, sechzig Millionen Dollar in zwanzig Jahre lang laufenden Schuldverschreibungen für die Errichtung eines Erweiterungsbaus in Umlauf zu bringen. Das Projekt war ein Planungsfehler, und nun muß das Museum, um das Geld zurückzahlen zu können, in den nächsten beiden Jahren seine Eintrittspreise um dreißig Prozent erhöhen.«

Pendergast beugte sich vor. »Das klingt ja interessant«, sagte er.

»Deshalb ist auch diese Aberglaube-Ausstellung so enorm wichtig. Das Museum hat dafür Millionen ausgegeben, die es eigentlich gar nicht hatte. Es ist wie ein Spieler, der alles auf eine Karte setzt und hofft, daß er damit seine Verluste wieder hereinbekommt. Und auch die Stadt hat ein Interesse daran, daß Geld in die Museumskassen kommt, schließlich bürgt sie ja für die sechzig Millionen, und wenn das Museum Konkurs macht, muß sie dafür geradestehen.«

»Verstehe«, sagte Pendergast. Er nahm eine Versteinerung auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und drehte sie in seiner Hand. »Ist das ein Ammonit?« fragte er.

»Richtig«, antwortete Frock.

»Dr. Frock –« begann Pendergast. »Ich werde von einigen Seiten massiv unter Druck gesetzt, deshalb noch mehr als sonst darauf zu achten, daß diese Ermittlungen hundertprozentig korrekt ablaufen. So darf ich Ergebnisse von Untersuchungen, die in unserem Auftrag vorgenommen wurden, nicht mit Außenstehenden wie Ihnen besprechen, selbst wenn unsere Nachforschungen entlang der gewohnten Bahnen im Sande verlaufen.« Er legte die Versteinerung sorgfältig zurück und verschränkte die Arme. »Das mußte ich Ihnen sagen. Und nun sagen Sie mir doch bitte, ob es zutrifft, daß Sie ein Experte für DNS-Analysen sind.«

Frock nickte. »Das ist teilweise richtig. Ich habe meine Studien der Frage gewidmet, inwieweit sich die Gene auf die Morphologie auswirken. Und ich betreue die Projekte von verschiedenen Doktoranden – wie Gregory Kawakita und Margo hier –, die sich ebenfalls mit der DNS befassen.«

Pendergast nahm seine Aktentasche zur Hand, öffnete sie und zog einen dicken Stapel Computerausdrucke hervor. »Ich habe hier eine Untersuchung der DNS, die wir in der Kralle aus dem Körper des einen Jungen haben. Natürlich darf ich sie Ihnen nicht zeigen, denn das würde unseren Regeln widersprechen. Unser New Yorker Büro reagiert auf so etwas sehr empfindlich.«

»Verstehe«, sagte Frock. »Und Sie halten die Kralle nach wie vor für Ihre beste Spur.«

»Es ist die einzige wichtige Spur, die wir haben, Dr. Frock. Lassen Sie mich Ihnen meine Schlußfolgerungen erläutern. Ich glaube, daß hier im Museum ein Verrückter sein Unwesen treibt. Er tötet seine Opfer auf rituelle Art, entfernt den Hinterkopf und holt den Hypothalamus aus dem Gehirn.«

»Aber wozu?« fragte Frock.

Pendergast zögerte. »Wir glauben, daß er ihn ißt.«

Margo schluckte schwer.

»Der Mörder hält sich möglicherweise im alten Keller des Museums versteckt«, fuhr Pendergast fort. »Es gibt viele Anzeichen dafür, daß er sich nach jedem Mord dorthin zurückgezogen hat, aber bisher können wir nicht genau sagen, wohin. Bei einem Suchunternehmen dort unten wurden zwei Hunde getötet. Wie Sie ja vielleicht wissen, gibt es da unten ein wahres Labyrinth aus Stollen, Galerien und Gängen, das sich über mehrere unterirdische Ebenen hinzieht, deren älteste vor fast hundertfünfzig Jahren angelegt wurde. Das Museum kann nur für einen Bruchteil der Fläche Pläne zur Verfügung stellen. Ich spreche bewußt von einem Mörder und nicht von einer Mörderin, weil die Kraft, die bei den Morden angewandt wurde, eindeutig auf einen Mann hinweist, einen starken Mann. Einen mit fast übernatürlichen Kräften.

Wie Sie ja wissen, verwendet er eine Waffe, an der sich drei Krallen befinden, um seinen Opfern, die er offenbar wahllos anfällt, die Eingeweide herauszureißen. Bisher zumindest haben wir noch keinerlei Motiv für die Taten erkennen können, auch unsere Vernehmungen des Museumspersonals haben uns in dieser Richtung noch keinen Hinweis geben können.« Pendergast sah hinüber zu Frock. »Sie sehen also, Doktor, daß unsere beste Spur praktisch unsere einzige ist – die Waffe mit der Kralle. Deshalb suche ich weiter nach ihr.«

Frock nickte langsam. »Haben Sie vorher nicht etwas von einer DNS gesagt?«

Pendergast wedelte mit dem Computerausdruck. »Die Laborergebnisse waren nicht allzu schlüssig, und das ist noch milde ausgedrückt.« Er hielt inne. »Na schön, warum soll ich es Ihnen eigentlich nicht sagen: Die DNS aus der Kralle wies Chromosomen von verschiedenen Geckos und zusätzlich welche vom Menschen auf. Daher nehmen wir an, daß sie vielleicht beschädigt sein könnte.« Er lächelte matt. »Das meinen zumindest die Leute vom Labor.«

»Gecko, haben Sie gesagt?« murmelte Frock überrascht. »Und es ißt den Hypothalamus – wie außergewöhnlich. Können Sie mir sagen, wie Sie darauf gekommen sind?«

»Wir haben in den Gehirnen der Opfer Speichelreste und Bißspuren gefunden.«

»Von menschlichen Zähnen?«

»Das kann niemand genau sagen.«

»Und der Speichel?«

»Nicht näher bestimmbar.«

Frocks Kopf sank auf seine Brust.

»Sie nennen die Kralle immer noch Teil einer Waffe«, sagte er.

»Darf ich daraus schließen, daß Sie meinen, ein Mensch habe diese Morde begangen?«

Pendergast schloß seine Aktentasche. »Ich sehe eigentlich keine andere Möglichkeit. Meinen Sie denn, Dr. Frock, daß ein Tier einen Menschen mit chirurgischer Präzision köpfen, ein Loch in den Schädel schlagen und ein Stück Gehirn von der Größe einer Walnuß entnehmen kann, das nur jemand zu lokalisieren in der Lage ist, der in der menschlichen Anatomie verdammt gut bewandert ist? Außerdem ist es dem Mörder bisher immer wieder gelungen, sich unserer Suche in den unteren Kellern zu entziehen.«

Frocks Kopf sank abermals auf seine Brust. Während aus Sekunden Minuten wurden, blieb Pendergast bewegungslos sitzen und sah ihn an.

Dann hob Frock plötzlich den Kopf. »Mr. Pendergast«, sagte er mit lauter Stimme. Margo zuckte zusammen. »Ich habe mir Ihre Theorie angehört. Haben Sie nun Interesse, auch die meine zu hören?«

Pendergast nickte. »Natürlich.«

»Die Schieferlager in Transvaal wurden 1945 von Alistair Van Vrouwenhoek, einem Paläontologen von der südafrikanischen Witwatersrand-Universität, entdeckt. Sie stammen aus dem Kambrium und sind etwa sechshundert Millionen Jahre alt. Und sie sind voller Versteinerungen von bizarren Lebensformen, wie man sie noch nie vorher gesehen hat. Asymmetrischen Organismen, die nicht einmal die simple, zweiseitige Symmetrie aufweisen, wie sie buchstäblich jedem Tier innewohnt, das heute auf der Erde existiert. Diese Lebensformen sind alle zusammen im Kambrium umgekommen. Die meisten Leute, Mr. Pendergast, glauben nun, daß die Schieferlager in Transvaal eine Sackgasse der Evolution konserviert haben, in der das Leben mit allen möglichen Formen herumexperimentiert hat, bevor es zu der zweiseitigen Symmetrie gelangte, wie wir sie heute noch haben.«

»Aber Sie glauben das nicht«, sagte Pendergast.

Frock räusperte sich. »Das stimmt. In diesen Schiefervorkommen dominiert eine ganz bestimmte Art von Organismus. Er hatte starke Flossen und lange, mit Saugnäpfen versehene Tentakel. Dazu ein überdimensionales Maul, das zum Zerfetzen und Zermalmen hervorragend geeignet war. Mit diesem Maul hätte sich das Lebewesen auch durch Stein beißen können, und seine Flossen machten es im Wasser bis zu dreißig Stundenkilometer schnell. Ganz ohne Zweifel war es ein sehr erfolgreiches und ziemlich brutales Raubtier. Es war sogar, so glaube ich wenigstens, zu erfolgreich: Es hat seine Beute so lange gnadenlos gejagt, bis sie ausgestorben war, und starb dann, als es nichts mehr zu fressen gab, ziemlich rasch selber aus. Das ist für mich die wirkliche Ursache für dieses kleine Massensterben am Ende des Kambrium, das, und nicht die Selektion ist dafür verantwortlich, daß alle diese Lebensformen im Transvaal-Schiefer untergingen.«

Pendergast blinzelte. »Und?«

»Ich habe mit Computersimulationen, die auf der neuen mathematischen Theorie von den fraktalen Turbulenzen basieren, die Evolution nachgestellt. Und das Ergebnis war, daß alle sechzig bis siebzig Millionen Jahre oder so das Leben sich seiner Umgebung sehr gut, das heißt zu gut, angepaßt hat. Es wird sozusagen selbstzufrieden, und die Population der erfolgreichsten Lebensformen vermehrt sich geradezu explosionsartig. Dann taucht, wie aus heiterem Himmel, plötzlich eine neue Spezies auf, die fast immer ein Raubtier ist und die eine wahre Mordmaschine darstellt. Sie tötet die vorher so erfolgreiche Population, frißt sie auf und vermehrt sich nun ihrerseits rasch. Es rast wie ein Wirbelsturm über seine Opfer, die auf einen solchen Angriff vollkommen unvorbereitet sind und sich nicht verteidigen können. Alle Tiere der alten Population, ob Raubtiere oder Pflanzenfresser, fallen diesem neuen Räuber zum Opfer.«

Frock deutete auf die versteinerte Fußspur auf seinem Schreibtisch. »Ich will Ihnen mal etwas zeigen, Mr. Pendergast.« Der Agent stand auf und ging hinüber zu Frock.

»Diese Spuren hat ein Tier hinterlassen, das während der Kreidezeit gelebt hat, genauer gesagt an der K-T-Grenze. Dies ist das einzige solche Fossil, das bisher gefunden wurde. Es gibt kein zweites.«

»Was ist denn die K-T-Grenze?« fragte Pendergast.

»Die Grenze von der Kreidezeit zum Tertiär. Die Zeit, in der auch die Dinosaurier ausstarben.«

Pendergast nickte, aber er schien trotzdem noch immer nicht ganz zu verstehen, worauf Frock hinauswollte.

»Es gibt hier eine Verbindung, die bisher noch niemand erkannt hat«, fuhr Frock fort. »Und zwar zwischen der Figur von Mbwun, den Krallenspuren bei den Mordopfern und diesen fossilen Fußspuren.«

Pendergast sah Frock an. »Mbwun? Die Figur, die Dr. Cuthbert aus der Kiste genommen und ausgestellt hat?«

Frock nickte.

»Hmm. Wie alt sind diese Fußspuren?«

»Vermutlich fünfundsechzig Millionen Jahre. Sie stammen aus einer Gesteinsformation, in der man auch die letzten Dinosaurier entdeckt hat. Bevor sie endgültig ausstarben.«

Alle waren eine lange Zeit still.

»Ja, und wo ist die Verbindung?« fragte Pendergast schließlich. »Ich sagte, daß wir nichts in der Anthropologischen Sammlung haben, das solche Krallenspuren verursachen könnte. Aber ich habe nicht gesagt, daß wir keine Bilder oder Skulpturen von solchen Krallen haben. Wir wissen, daß die Figur von Mbwun drei Krallen hat, wobei das mittlere Glied dicker als die beiden anderen ist. Und jetzt sehen Sie sich mal diese Spuren an«, sagte Frock und deutete auf die Versteinerung. »Und denken Sie an die Rekonstruktion der Kralle und den Abguß der Krallenspuren an den Opfern.«

»Sie meinen also«, sagte Pendergast, »daß das Tier, das diese Spuren hinterlassen hat, auch die Morde begangen haben könnte? Ein Dinosaurier?« Margo hatte den Eindruck, daß Pendergasts Stimme ein ganz klein wenig amüsiert klang.

Frock sah den Agenten an und schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Mr. Pendergast, kein Dinosaurier. Nichts so Gewöhnliches wie ein Dinosaurier. Wir sprechen hier vom Beweis meiner Theorie der abweichenden Evolution. Sie kennen ja meine Arbeiten. Das ist die Kreatur, von der ich glaube, daß sie die Dinosaurier vernichtet hat.«

Pendergast blieb still.

Frock beugte sich zu dem FBI-Agenten vor. »Ich glaube«, sagte er, »daß diese Kreatur, diese Mißbildung der Natur, für das Aussterben der Dinosaurier verantwortlich ist. Kein Meteorit, keine Klimaveränderung, sondern ein schreckliches Raubtier – die Kreatur, deren Spuren in dieser Versteinerung verewigt sind. Die Verkörperung des Kallisto-Effekts. Sie war nicht groß, aber unglaublich stark und schnell. Sie jagte möglicherweise in Rudeln und war intelligent. Aber weil Raubtiere ziemlich kurzlebig sind, sind sie unter den Fossilien nicht so gut vertreten wie andere Lebewesen. Außer im Transvaal-Schiefer – und in diesen Spuren hier, aus der Wüste von Tzunje-jin. Können Sie mir folgen?«

»Ja.«

»Heute gibt es bei uns eine Bevölkerungsexplosion.«

Pendergast blieb stumm.

»Bei uns Menschen, Mr. Pendergast!« fuhr Frock mit lauter werdender Stimme fort. »Vor fünftausend Jahren gab es auf der ganzen Erde nur zehn Millionen von uns. Heute sind wir sechs Milliarden! Wir sind die erfolgreichste Lebensform, die die Erde jemals gesehen hat!«

Er klopfte auf die Exemplare von Die fraktale Evolution, die auf seinem Schreibtisch lagen. »Gestern haben Sie mich doch nach meinem nächsten Buch gefragt. Es wird eine Erweiterung meiner Theorie des Kallisto-Effekts enthalten, die ich nun aufs moderne Leben anwende. Meine Theorie sagt voraus, daß jeden Moment eine groteske Mutation entstehen kann, die dann die menschliche Population ausrotten wird. Ich sage nicht, daß unser Mörder dieselbe Kreatur ist wie die, die die Dinosaurier aussterben ließ. Aber eine ähnliche Kreatur – sehen Sie sich doch noch einmal diese Spuren an. Sie sehen aus, als stammten sie von Mbwun! So etwas nennen wir konvergierende Evolution, wenn zwei Kreaturen ähnlich aussehen, nicht weil sie verwandt sind, sondern weil sie sich entwickelt haben, um dieselbe Aufgabe zu übernehmen. Es gibt da bemerkenswert viele Ähnlichkeiten, Mr. Pendergast.«

Pendergast legte seine Brieftasche auf den Schoß. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht mehr folgen, Dr. Frock.«

»Begreifen Sie denn nicht? Etwas ist in dieser Kiste aus Südamerika hierhergebracht worden. Und es läuft hier im Museum frei herum. Ein hochspezialisiertes Raubtier. Die Figur von Mbwun ist der Beweis für seine Existenz. Die eingeborenen Stämme haben diese Kreatur gekannt und eine Religion um sie herum aufgebaut. Und Whittlesey schickte sie, ohne es zu wissen, hierher zu uns, in die Zivilisation.«

»Haben Sie diese Figur selbst gesehen?« fragte Pendergast.

»Mir wollte Dr. Cuthbert sie nicht zeigen.«

»Nein«, gab Frock zu. »Aber ich habe die Information aus sehr zuverlässiger Quelle. Sobald es geht, möchte ich sie mir selbst ansehen.«

»Dr. Frock, wir haben uns gestern noch einmal der Geschichte mit den Kisten angenommen«, sagte Pendergast. »Dr. Cuthbert hat uns versichert, daß nichts von Wert in ihnen war, und wir haben keine Veranlassung, ihm das nicht zu glauben.«

Er stand gleichmütig auf. »Ich danke Ihnen für Ihre Zeit und Ihre Hilfe. Ihre Theorie ist sehr interessant, und ich wünschte wirklich, ich könnte ihr folgen.« Er zuckte mit den Achseln. »Momentan aber bleibe ich bei meiner Meinung. Verzeihen Sie mir meine Offenheit, aber ich hoffe, daß Sie Ihre Theorien von den nackten Tatsachen unserer Ermittlungen trennen können und uns trotz allem helfen werden, so gut Sie können.« Er ging in Richtung Tür. »Jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muß dafür sorgen, daß dieser Irre noch vor heute abend gefaßt wird, denn sonst habe ich keine andere Wahl und ich muß die Ausstellungseröffnung verschieben. Wenn Ihnen noch irgend etwas einfällt, nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf.«

Und dann ging er.

Frock saß in seinem Rollstuhl und schüttelte den Kopf. »Schade, wirklich schade«, murmelte er. »Und ich hatte so gehofft, daß er mit uns zusammenarbeiten würde, aber er ist auch nicht besser als die anderen.«

Margo blickte auf den Tisch, wo noch vor kurzem Pendergast gesessen war. »Sehen Sie nur«, sagte sie. »Er hat den DNS-Ausdruck hiergelassen.«

Frocks Blicke folgten denen von Margo. Dann kicherte er.

»Ich schätze, das hat er damit gemeint, als er sagte, ob mir vielleicht doch noch etwas einfällt.« Er hielt inne. »Vielleicht ist er doch nicht so wie alle anderen. Nun, wir werden ihn nicht verpetzen, oder, Margo?« sagte er dann und griff nach dem Telefon.

»Hier ist Dr. Frock, ich würde gerne mit Dr. Cuthbert sprechen.« Er wartete. »Hallo, Ian? Ja, es geht mir gut, vielen Dank. Nein, ich will bloß Ihre Erlaubnis, mir sofort die Aberglaube-Ausstellung ansehen zu dürfen. Wie bitte? Ja, ich weiß, daß sie geschlossen ist, aber – Nein, nein, ich habe mich mit der Idee dieser Ausstellung mittlerweile ausgesöhnt, es ist nur, daß ich – ich verstehe.«

Margo sah, wie Frocks Gesicht rot anlief.

»Wenn das so ist, Ian«, fuhr Frock fort, »dann würde ich mir gerne die Kisten der Whittlesey-Expedition ansehen. Ja, die in der Sicherheitszone. Ich weiß, daß wir schon gestern einen kurzen Blick darauf geworfen haben, Ian.«

Frock schwieg eine Weile, und Margo hörte Cuthberts Stimme leise aus dem Hörer krächzen.

»Jetzt hören Sie mir mal zu, Ian«, sagte Frock schließlich. »Ich bin der Leiter dieser Abteilung, und ich habe ein Recht darauf, daß ich – Sprechen Sie nicht in diesem Ton mit mir, Ian. Das verbitte ich mir.«

Frock bebte vor Wut, wie Margo ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Stimme war jetzt fast bis auf ein Flüstern herabgesunken, aber dennoch verströmte sie eine unheimliche Kraft.

»Sie haben in einem Museum wie diesem nichts zu suchen, Cuthbert. Ich werde mich beim Direktor über Sie beschweren.« Mit zitternder Hand legte Frock den Hörer langsam auf die Gabel. Er tupfte sich mit dem Taschentuch die Stirn ab und sagte zu Margo: »Bitte entschuldigen Sie.«

»Ich bin erstaunt«, sagte Margo. »Ich dachte, daß Sie als Leiter der Abteilung –« Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

»Die totale Kontrolle über die Magazinbestände hätte?« Frock lächelte, während er langsam seine Fassung zurückgewann. »Das dachte ich auch. Aber diese neue Ausstellung und die Morde haben in den Leuten Dinge zum Vorschein gebracht, die ich ihnen nicht zugetraut hätte. Offiziell steht Cuthbert in der Museumshierarchie über mir. Ich bin mir nicht sicher, warum er sich so merkwürdig verhält. Meine Bitte muß ihm als etwas schrecklich Peinliches vorkommen, das sogar möglicherweise die Eröffnung seiner geliebten Ausstellung verzögern könnte.« Er dachte einen Augenblick lang nach. »Vielleicht weiß er von der Existenz dieser Kreatur. Schließlich war er ja derjenige, der die Kisten fortbringen ließ. Vielleicht hat er die ausgebrüteten Eier gefunden, sich alles zusammengereimt und sie versteckt. Und jetzt will er mir verbieten, der Sache auf den Grund zu gehen!« Er rutschte im Rollstuhl nach vorn und ballte die Fäuste.

»Dr. Frock, ich halte das nicht für sehr wahrscheinlich«, warnte Margo. Wenn sie jemals vorgehabt hatte, Frock davon zu erzählen, daß Rickman Whittleseys Tagebuch verschwinden hatte lassen, so verwarf sie diesen Gedanken nun endgültig.

Frock beruhigte sich wieder. »Sie haben natürlich recht. Aber das letzte Wort ist da noch nicht gesprochen, das kann ich Ihnen garantieren. Aber wir haben jetzt keine Zeit dafür, und ich vertraue Ihrer Beschreibung von Mbwun. Aber wir müssen diese Kisten untersuchen, Margo.«

»Und wie?« fragte sie.

Frock zog eine Schublade auf und suchte einen Augenblick darin herum. Dann holte er ein Formular hervor, das Margo sofort erkannte: Es war ein »1014, Zugangsanforderung«.

»Mein Fehler«, sagte er, »war, daß ich gefragt habe.« Er fing an, per Hand das Formular auszufüllen.

»Aber muß das denn nicht von der Zentrale abgesegnet werden?« fragte Margo.

»Natürlich«, antwortete Frock. »Ich schicke es auf dem ganz normalen Weg an die Zentrale. Und dann nehme ich die nicht gegengezeichnete Kopie mit hinunter in die Sicherheitszone und verschaffe mir irgendwie Zutritt. Der Antrag wird garantiert abgelehnt, aber bis es überhaupt dazu kommt, habe ich die Kisten längst untersucht. Und die Antworten gefunden.«

»Aber das können Sie doch nicht machen, Dr. Frock!« sagte Margo schockiert.

»Warum nicht?« Frock lächelte schief. »Frock, ein Pfeiler der Museumshierarchie, geht unorthodoxe Wege? Diese Sache ist zu wichtig, als daß wir uns von Nebensächlichkeiten aufhalten lassen dürften.«

»Das habe ich nicht gemeint«, fuhr Margo fort und senkte den Blick auf den Rollstuhl des Wissenschaftlers.

Auch Frock sah nach unten. Enttäuschung war an seinem Gesicht abzulesen. »Ach so«, sagte er langsam. »Ich sehe, was Sie meinen.« Niedergeschlagen wandte er sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu.

»Dr. Frock«, sagte Margo. »Geben Sie mir das Formular. Ich gehe damit hinunter in die Sicherheitszone.«

Frocks Hand erstarrte. Er blickte Margo kritisch an. »Ich habe Sie zwar gebeten, meine Augen und Ohren zu sein, aber ich kann nicht von Ihnen verlangen, daß Sie für mich über glühende Kohlen gehen«, sagte er. »Ich bin ein Kurator und eine relativ wichtige Persönlichkeit am Museum. Niemand würde es wagen, mich hinauszuwerfen. Sie hingegen –« Er atmete tief ein und hob die Augenbrauen. »Man könnte an Ihnen ein Exempel statuieren und Ihnen Ihre Doktorarbeit entziehen. Und ich könnte das nicht einmal verhindern.«

Margo dachte einen Moment lang nach. »Ich habe einen Freund, der in solchen Dingen ziemlich clever ist. Ich glaube, er kann sich mit seinem Mundwerk in jeder Situation behaupten.«

Frock blieb eine Weile bewegungslos sitzen. Dann riß er den Durchschlag vom Formular ab und gab ihn Margo. »Ich werde das Original nach oben schicken, das muß ich, damit wir die Fassade wahren. Möglicherweise ruft der Wachmann unten die Zentrale an, damit sie den Empfang bestätigt. Sie werden nicht viel Zeit haben. Sobald die Zentrale den Antrag hat, werden sie dort oben hellhörig werden. Dann müssen Sie bereits fertig sein.«

Aus einer Schreibtischschublade holte er ein gelbes Stück Papier und einen Schlüssel und gab beides Margo.

»Auf diesem Zettel steht der Code für die Tür zu dem Lagerraum mit den Kisten«, sagte er. »Und hier ist der Schlüssel für die Tür zum Sicherheitsbereich. Alle Kuratoren haben so einen. Wenn wir Glück haben, dann hat Cuthbert die Kombination noch nicht ändern lassen.«

Er gab Margo Schlüssel und Zettel. »Damit kommen Sie durch die Türen, aber mit den Wachleuten müssen Sie selbst fertig werden.« Er sprach jetzt schnell, und er blickte Margo direkt in die Augen. »Sie wissen, wonach Sie in den Kisten suchen müssen. Nach Spuren von Eiern, lebenden Organismen, sogar Kultobjekten, die etwas mit der Kreatur zu tun haben könnten. Suchen Sie nach allem, was meine Theorie beweist. Zuerst nehmen Sie sich die kleine Kiste vor, die von Whittlesey. In der war auch die Figur von Mbwun. Wenn Sie noch Zeit haben, sehen Sie auch noch in den anderen nach, aber setzen Sie sich um Gottes willen keinem Risiko aus. Gehen Sie nun, meine Liebe. Gott mit Ihnen.«

Das letzte, was Margo sah, als sie das Büro verließ, war Frock, der ihr seinen breiten Rücken zugekehrt hatte und mit den Fäusten wiederholt auf die Armlehnen seines Rollstuhls schlug. »Ich hasse dieses Ding!« rief er. »Ich hasse dieses gottverdammte Ding!«