14
D’Agosta konnte sich einfach nicht an die Halle der großen Affen gewöhnen, wo breitgrinsende Schimpansen mit haarigen Armen, lachhaft realistischen Pimmeln und großen, fast menschlichen Händen mit echten Fingernägeln in den künstlichen Bäumen hockten. Er fragte sich, warum die Wissenschaft so lange gebraucht hatte, um herauszufinden, daß der Mensch von den Affen abstammte. Das hätte den Forschern doch beim ersten Blick auf einen Schimpansen sofort klar sein müssen. Und irgendwo hatte er einmal gehört, daß Schimpansen sich auch genau wie Menschen benahmen, daß sie gewalttätig und leicht erregbar wären und sich ständig gegenseitig verprügelten, ja sogar ab und zu einen Mord begingen. Mein Gott, dachte er, es muß doch noch einen anderen Weg in dieses Museum geben, der nicht durch diese Halle führt.
»Hier entlang«, sagte der Wärter. »Die Treppe hinunter. Es ist ziemlich schlimm, Lieutenant. Ich kam gerade –«
»Erzählen Sie mir das später«, sagte D’Agosta. Nach dem Mord an den Kindern war er auf alles vorbereitet. »Sie sagten, er hätte die Uniform eines Wachmanns an. Kannten Sie ihn?«
»Ich weiß es nicht, Sir. Es ist schwer zu sagen.«
Der Wärter deutete hinunter ins schlecht erleuchtete Treppenhaus. Unten an der Treppe führte eine Tür in eine Art Innenhof. Die Leiche lag im Schatten am Fuß der Stufen. Überall waren schwarze Spritzer und Pfützen – auf dem Boden, an den Wänden und an der Deckenleuchte. D’Agosta wußte, was diese schwarzen Spritzer waren.
»Sie da«, sagte er, an einen der ihm folgenden Polizisten gewandt, »schaffen Sie mehr Licht her. Ich will, daß alles sofort nach Fingerabdrücken und Faserspuren untersucht wird. Ist die Spurensicherung schon unterwegs? Der Mann ist ganz offensichtlich tot, also lassen Sie vorerst keine Sanitäter hier rein. Ich will nicht, daß sie uns wieder sämtliche Spuren verwischen.«
D’Agosta blickte erneut die Treppe hinab. »Lieber Himmel«, sagte er. »Was sind das für Fußspuren? Sieht aus, als wäre irgendein Vollidiot gerade durch eine Pfütze Blut gelaufen. Oder hat uns vielleicht der Mörder hier einen dicken Hinweis hinterlassen?«
Alle waren still.
»Sind das Ihre Spuren?« wandte D’Agosta sich an den Wärter.
»Wie war doch gleich Ihr Name?«
»Norris. Eric Norris. Wie ich schon sagte, ich –«
»Ja oder nein?«
»Ja, aber –«
»Halten Sie den Mund. Hatten Sie diese Schuhe hier an?«
»Ja. Wissen Sie, ich war –«
»Ziehen Sie sie aus. Sie ruinieren ja den ganzen Teppich.« Verdammte Trantüte, dachte D’Agosta. »Bringen Sie sie zur Spurensicherung und sagen Sie, sie sollen sie in einen Plastikbeutel tun. Die wissen dann schon, wie’s weitergeht. Und Sie warten dort auf mich. Halt, nein. Warten Sie nicht auf mich. Ich rufe Sie später an. Ich habe noch ein paar Fragen an Sie. Ziehen Sie die Schuhe gleich hier aus, verdammt noch mal!« D’Agosta wollte nicht noch einmal dasselbe erleben wie mit Prine. Was war bloß in diesem Museum los? Die Leute hier schienen mit Vorliebe im Blut zu waten. »Sie müssen auf Strumpfsocken zur Spurensicherung gehen.«
»Ja, Sir.«
Einer der Polizisten hinter D’Agosta kicherte.
D’Agosta blickte ihn böse an. »Finden Sie das etwa lustig? Der Mann hat das Blut hier überall herumgetreten. Das ist alles andere als lustig.«
D’Agosta ging die Treppe halb hinunter. Der Kopf der Leiche lag mit dem Gesicht nach unten in einer dunklen Ecke. Er konnte ihn zwar nicht genau erkennen, aber er wußte, daß die Schädeldecke eingedrückt sein und das Gehirn irgendwo in diesem Durcheinander herumliegen würde. Mein Gott, in was für ein unappetitliches Chaos man einen menschlichen Körper doch verwandeln konnte.
Hinter sich auf der Treppe hörte D’Agosta Schritte. »Spurensicherung«, sagte ein kleiner Mann, dem ein Fotograf und mehrere andere Männern in Laborkitteln folgten.
»Na endlich. Ich möchte hier, hier, hier und hier einen Scheinwerfer haben und wo der Fotograf sonst noch einen braucht. Und dann will ich, daß der Tatort abgesperrt wird, und zwar sofort. Sammeln Sie jedes kleine Fitzelchen Dreck, Fasern oder Sand auf. Und lassen Sie alles chemisch untersuchen. Und dann will ich – verdammt, was will ich sonst noch? Ich will, daß Sie alle Tests machen, die es gibt. Und lassen Sie den Tatort so bewachen, daß mir keiner mehr durchtrampeln kann. Diesmal lasse ich mir nichts mehr versauen!«
D’Agosta drehte sich um. »Ist schon jemand von der Gerichtsmedizin da? Oder sitzen die gerade irgendwo bei Kaffee und Croissants?« Er klopfte auf die Brusttasche seines Jacketts und suchte nach einer Zigarre. »Stellen Sie Kartons über die Fußspuren. Und wenn Sie fertig sind, dann wischen Sie uns bitte einen Weg um die Leiche herum frei, damit wir nicht überall das Blut herumtragen.«
»Großartig«, hörte D’Agosta eine leise, wohlklingende Stimme hinter sich sagen.
»Wer, zum Teufel, sind denn Sie?« fragte er und drehte sich um. Hinter ihm stand ein großer, schlanker Mann in einem sorgfältig gebügelten, dunklen Anzug am oberen Treppengeländer. Sein Haar, so blond, daß es fast weiß aussah, war über blaßblauen Augen streng nach hinten gekämmt. »Ein Beerdigungsunternehmer?«
»Mein Name ist Pendergast«, sagte der Mann, kam ein paar Stufen nach unten und streckte D’Agosta die Hand hin. Der Fotograf drückte sich, schwer beladen mit Ausrüstung, an ihm vorbei.
»Nun, Pendergast, ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, warum Sie hier sind, ansonsten –«
Pendergast lächelte. »Special Agent Pendergast, um genauer zu sein.«
»Oh. Vom FBI? Komisch, warum bin ich gar nicht überrascht? Nun, herzlich willkommen, Pendergast. Warum ruft ihr Burschen bloß nie vorher an? Hören Sie, ich habe da unten eine enthauptete und enthirnte Leiche herumliegen. Wo sind eigentlich Ihre ganzen anderen Leute?«
Pendergast zog seine Hand zurück. »Sie werden wohl mit mir allein vorliebnehmen müssen, fürchte ich.«
»Was? Jetzt machen Sie sich aber über mich lustig. Ihr tretet doch sonst bloß in Rudeln auf.«
Die Scheinwerfer gingen an und tauchten die ganze Metzelei in grelles Licht. Alles, was vorher schwarz erschienen war, war nun deutlich sichtbar, all die Innereien eines Körpers, die brutal herausgerissen worden waren. Mitten in einer Blutlache entdeckte D’Agosta auch etwas, was vermutlich Norris’ Frühstück gewesen war. Unwillkürlich begann D’Agosta mit den Zähnen zu knirschen. Dann fiel sein Blick auf ein Stück Schädel, das fast zwei Meter von der Leiche entfernt lag und noch Teile der Kurzhaarfrisur des Wärters zeigte.
»Gott im Himmel«, sagte D’Agosta, trat einen Schritt zurück, und dann ging es auch bei ihm los. Direkt vor dem FBI-Mann und den Leuten von der Spurensicherung kotzte er sein eigenes Frühstück auf den Boden. Ich kann es nicht glauben, dachte er. Das passiert mir zum ersten Mal seit zweiundzwanzig Jahren und ausgerechnet im falschesten Moment.
Oben an der Treppe erschien eine junge Frau von der Gerichtsmedizin in weißem Kittel und Plastikschürze. »Wer leitet hier die Ermittlungen?« wollte sie wissen, während sie sich Latexhandschuhe anzog.
»Ich bin das«, sagte D’Agosta und wischte sich den Mund ab. Er warf Pendergast einen raschen Blick zu und ergänzte: »Wenigstens in den nächsten paar Minuten noch. Mein Name ist Lieutenant D’Agosta.«
»Dr. Collins«, antwortete die Gerichtsmedizinerin munter.
Gefolgt von ihrem Assistenten stieg sie hinunter zu der Stelle neben der Leiche, wo die Leute von der Spurensicherung gerade das Blut vom Boden wischten.
»Fotograf, bitte«, sagte sie. »Ich werde die Leiche jetzt umdrehen. Schießen Sie eine ganze Serie.«
D’Agosta wandte den Blick ab. »Lassen Sie uns an die Arbeit gehen, Pendergast«, sagte er bestimmt. Er deutete auf sein Erbrochenes und befahl den Polizisten: »Wischen Sie das erst weg, wenn die Spurensicherung mit dieser Treppe hier fertig ist. Verstanden?«
Alle nickten.
»Ich will so bald wie möglich wissen, wo der Mörder hier hereingekommen ist und wo er wieder hinausgegangen ist. Und seht zu, daß ihr herausbekommt, wer der Tote war. Wenn es sich um einen Wärter handelt, holt Ippolito hier herunter. Los, Pendergast, gehen wir hinauf zur Kommandozentrale und koordinieren oder verbünden wir uns, wie immer man das nennt, und dann, wenn die Leute hier fertig sind, kommen wir wieder herunter und sehen uns die Sache genauer an.«
»Scheint sich um ein Kapitalverbrechen zu handeln«, sagte Pendergast.
Kapitalverbrechen? dachte D’Agosta. Aber der Bursche klang so, als käme er aus dem tiefsten Süden, da redete man so gespreizt. D’Agosta hatte solche Burschen schon früher einmal getroffen. Hier in New York City waren sie hoffnungslos verloren.
Pendergast beugte sich vor und sagte leise: »Die Blutspritzer an der Wand da sind ziemlich interessant.«
D’Agosta blickte hinüber. »Was Sie nicht sagen.«
»Die Flugbahn dieses Blutes würde mich interessieren.«
D’Agosta blickte Pendergast direkt in seine blassen Augen. »Gute Idee«, sagte er schließlich. »Hey, Sie da, Fotograf! Machen Sie ein paar Nahaufnahmen von dem Blut an der Wand. Und Sie da drüben –«
»McHenry, Sir.«
»Ich will, daß die Flugbahn des Blutes festgestellt wird. Es sieht so aus, als wäre es ziemlich heftig in einem spitzen Winkel herausgespritzt. Ich will genau wissen, woher es kam. Mit welcher Geschwindigkeit wieviel wo ausgestoßen wurde. Ich erwarte einen ausführlichen Bericht.«
»Ja, Sir.«
»Und zwar in einer halben Stunde. Auf meinem Schreibtisch.« McHenry machte ein ziemlich unglückliches Gesicht.
»Okay, Pendergast, haben Sie sonst noch irgendwelche Ideen?«
»Nein, das war vorerst meine einzige.«
»Dann lassen Sie uns gehen.«
In der vorübergehend eingerichteten Kommandozentrale war alles an seinem Platz. Darauf achtete D’Agosta besonders. Nicht ein Stückchen loses Papier schwirrte irgendwo herum, nicht eine Akte oder ein Tonbandgerät lagen auf den Tischen. Der Raum sah gut aus, und jetzt war D’Agosta besonders froh darüber. Alle waren beschäftigt, die Telefone waren alle belegt, aber die Dinge schienen unter Kontrolle zu sein.
Pendergast ließ seinen schlanken Körper auf einen Stuhl sinken. Obwohl er ziemlich förmlich aussah, bewegte er sich eher wie eine Katze. D’Agosta gab ihm einen kurzen Überblick über den Stand der Ermittlungen. »Okay, Pendergast«, schloß er. »Was halten Sie davon? Haben wir alles verbockt? Sind wir die Untersuchung jetzt los?«
Pendergast lächelte. »Nein, ganz und gar nicht. Soweit ich es momentan beurteilen kann, hätte ich auch nichts anderes getan. Wissen Sie, Lieutenant, wir waren von Anfang an an dem Fall dran, aber wir wußten es bisher noch nicht.«
»Wie das?«
»Ich komme vom District Field Office 10 in New Orleans, Louisiana. Wir hatten es dort mit einigen äußerst seltsamen Morden zu tun. Ich will Sie zwar nicht mit Details langweilen, aber den Opfern waren die Schädeldecken entfernt und die Gehirne herausgenommen worden. Derselbe modus operandi.«
»Ohne Scherz? Wann war denn das?«
»Sagen wir mal vor ein paar Jahren.«
»Vor ein paar Jahren? Das ist ja –«
»Ja. Die Fälle konnten damals nicht gelöst werden. Zuerst waren die Drogenfahnder an der Sache dran, weil sie dachten, daß das Ganze etwas mit Rauschgift zu tun hätte, und als die nicht weiterkamen, ging der Fall ans FBI. Aber wir konnten auch nicht mehr viel machen, weil die Spur inzwischen kalt geworden war. Und dann las ich gestern in der Times Picayune eine Agenturmeldung über den Doppelmord hier in New York. Die Vorgehensweise des Mörders ist einfach zu – äh – zu ausgefallen, um nicht sofort eine Verbindung zwischen diesen Morden und den unseren herzustellen, finden Sie nicht? Also flog ich gestern abend noch hierher. Ich bin hier nicht in offiziellem Auftrag, wenigstens bis morgen noch nicht.«
D’Agosta entspannte sich ein wenig. »Dann kommen Sie also aus Louisiana. Und ich dachte schon, Sie wären irgendein Neuer aus dem New Yorker Büro.«
»Mit dem werden Sie es auch noch zu tun bekommen«, sagte Pendergast. »Wenn ich dort heute abend meinen Bericht abstatte, wird es diesen Fall übernehmen. Aber ich werde die Ermittlungen leiten.«
»Sie? Das glaube ich nicht. Nicht hier in New York. Die lassen sich einen so heißen Fall nicht von einem Burschen aus Louisiana wegschnappen.«
Pendergast lächelte. »Die Wege des FBI sind unergründlich, Lieutenant. Ich werde den Fall bekommen, lassen Sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen. Ich habe diesen Mörder jahrelang verfolgt und habe, offen gesagt, ein ziemlich großes Interesse daran, daß er gefaßt wird.« Die Art, wie Pendergast das Wort Interesse betonte, jagte D’Agosta ein seltsames Gefühl den Rücken hinunter. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, Lieutenant, ich bin bereit und willens, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, und zwar gleichberechtigt und vielleicht ein wenig anders, als es unser New Yorker Büro sonst möglicherweise tut. Wenn Sie mir hierbei auf halbem Weg entgegenkämen, würde es mich freuen. Dies hier ist nicht mein gewohntes Revier, und ich werde Ihre Hilfe dringend brauchen. Was halten Sie davon?«
Pendergast stand auf und streckte D’Agosta die Hand hin. Mein Gott, dachte D’Agosta, die Jungs im New Yorker Büro werden ihn in zweieinhalb Stunden auseinandernehmen und in Einzelteilen wieder zurück nach New Orleans schicken.
»Gemacht«, sagte D’Agosta und schlug ein. »Ich werde Ihnen als erstes die Leute hier vorstellen, angefangen bei Ippolito, dem Sicherheitschef. Aber bitte beantworten Sie mir vorher noch eine Frage. Sie sagten, daß die Vorgehensweise des Mörders in New Orleans dieselbe war. Was ist mit den Bißspuren, die wir am Gehirn des älteren der beiden Jungen gefunden haben? Was ist mit dem Stück einer Klaue?«
»Soweit ich es aus Ihrer Beschreibung der Autopsie entnehmen konnte, Lieutenant, hat die Gerichtsmedizinerin nur vermutet, daß es sich um eine Bißspur handeln könnte«, antwortete Pendergast. »Ich bin darauf gespannt, was die Speicheltests ergeben haben. Hat man die Klaue denn schon untersucht?«
Erst später bemerkte D’Agosta, daß Pendergast seine Frage nicht beantwortet hatte. Jetzt sagte er lediglich: »Das wird heute gemacht.«
Pendergast lehnte sich in seinem Stuhl zurück und formte mit den Fingern eine Art Zelt. Sein weißblondes Haar fiel ihm lose in die Stirn, und seine Augen starrten ins Leere. »Ich werde Dr. Ziewicz wohl einen Besuch abstatten müssen, wenn Sie die Schweinerei von heute untersucht.«
»Sagen Sie mal, Pendergast, Sie sind nicht zufällig über fünf Ecken mit Andy Warhol verwandt?«
»Ich interessiere mich nicht besonders für moderne Kunst, Lieutenant.«
Am Tatort ging es eng, aber gesittet zu. Alle bewegten sich geschmeidig und sprachen mit leiser Stimme, als wollten Sie dem Toten ihre Achtung zollen. Die Männer von der Leichenhalle waren bereits da, hielten sich aber dezent im Hintergrund und beobachteten geduldig die Vorgänge. Obwohl die Tür zu dem Innenhof geöffnet war, lag über dem Tatort ein merkwürdiger Geruch. Pendergast stand bei D’Agosta und Ippolito, dem Sicherheitschef des Museums.
»Wenn es Ihnen nicht allzuviel ausmacht«, sagte Pendergast gerade zu dem Fotografen, »dann hätte ich gerne ein Foto von hier, und zwar so.« Pendergast zeigte kurz, was er meinte. »Und dann bitte noch eine Serie von oben an der Treppe und jeweils eine Stufe weiter unten. Lassen Sie sich Zeit dabei und achten Sie darauf, daß die Linien und Licht und Schatten stimmen. Machen Sie mir einen richtig schönen Edward Weston.«
Der Fotograf betrachtete Pendergast vorsichtig, dann machte er sich an die Arbeit.
Pendergast wandte sich an Ippolito. »Ich hätte mal eine Frage an Sie. Warum war der Wärter – wie, sagten Sie noch gleich, daß sein Name war, Mr. Ippolito? Jolley, Fred Jolley? – eigentlich hier unten? Das war doch sicher nicht Teil seines Rundgangs, stimmt’s?«
»Richtig«, antwortete Ippolito. Er stand mit grünlicher Gesichtsfarbe auf einem trockenen Fleck in der Nähe der Tür zum Innenhof.
D’Agosta zuckte mit den Achseln. »Wer weiß?«
»Ja, wer weiß«, wiederholte Pendergast und sah hinaus in den Innenhof neben dem Treppenhaus, der klein und an allen Seiten von hohen Ziegelmauern umgeben war. »Und er hat die Tür oben selbst hinter sich abgeschlossen. Also müssen wir annehmen, daß er hinaus in den Hof ging oder jedenfalls hinaus wollte. Hm. Gestern wurde für die Zeit seines Todes ein Meteoritenschauer erwartet. Vielleicht haben wir es bei Jolley mit einen ambitionierten Hobby-Astronomen zu tun. Aber das möchte ich eigentlich bezweifeln.« Er blieb einen Moment still stehen und blickte sich um. Dann wandte er D’Agosta und Ippolito den Rücken zu. »Ich glaube, ich kann Ihnen sagen, was er hier unten gewollt hat.«
Allmächtiger, da haben wir uns ja einen echten Sherlock Holmes eingehandelt, dachte D’Agosta.
»Er ist hier heruntergekommen, um einer Angewohnheit zu frönen. Marihuana. Dieser Innenhof ist ein abgeschiedener und gut belüfteter Ort. Der perfekte Platz um, äh, um sich einen Joint reinzuziehen.«
»Marihuana?« wiederholte Ippolito. »Das ist doch bloß eine Vermutung.«
»Ich glaube, ich kann den Rest des Joints sogar sehen«, sagte Pendergast und deutete hinaus in den Hof. »Da, gleich neben dem Türpfosten.«
»Ich kann nichts erkennen«, sagte D’Agosta. »Hey, Ed, schau doch mal da drüben neben der Tür. Was ist das?«
»Ein Joint«, antwortete Ed.
»Was ist los mit euch Burschen, könnt ihr nicht mal einen gottverdammten Joint finden? Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt jedes Sandkörnchen aufheben, verdammt noch mal.«
»Dieses Planquadrat haben wir noch nicht abgesucht.«
»Okay.« Er sah hinüber zu Pendergast. Glückspilz. Aber vielleicht hatte der Joint ja auch gar nichts mit dem toten Wachmann zu tun.
»Mr. Ippolito«, fragte Pendergast in seinem etwas schleppenden Südstaatendialekt, »ist es bei Ihnen üblich, daß Ihre Wärter im Dienst illegale Drogen zu sich nehmen?«
»Absolut nicht, aber ich bin auch noch nicht davon überzeugt, daß es sich hier um Fred Jolleys –«
Pendergast brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ich nehme an, Sie können mir erklären, woher all die Fußspuren hier stammen.«
»Ich kann das«, sagte D’Agosta. »Das war der Wärter, der die Leiche gefunden hat.«
Pendergast beugte sich nach unten. »Sie haben praktisch jede Spur verwischt, die noch hätte da sein können«, sagte er stirnrunzelnd. »Also wirklich, Mr. Ippolito, Sie hätten Ihren Leuten wirklich beibringen sollen, wie man sich an einem Tatort zu verhalten hat.«
Ippolito öffnete den Mund, schloß ihn aber gleich wieder. D’Agosta mußte ein hämisches Grinsen unterdrücken.
Pendergast ging vorsichtig zurück unter die Treppe, wo eine große Metalltür halb offenstand. »Helfen Sie mir doch bei der Orientierung, Mr. Ippolito. Wo führt die Tür unter der Treppe hin?«
»In einen Gang.«
»Und wohin führt der?«
»Nun, rechts davon ist eine Sicherheitszone. Aber der Mörder hat bestimmt nicht diesen Weg genommen, weil –«
»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen widerspreche, Mr. Ippolito, aber ich bin mir sicher, daß der Mörder diesen Weg genommen hat«, entgegnete Pendergast. »Lassen Sie mich raten. Hinter der Sicherheitszone befindet sich der alte Keller, habe ich recht?«
»Stimmt«, sagte Ippolito.
»In dem die beiden Kinder gefunden wurden.«
»Bingo«, sagte D’Agosta.
»Diese Sicherheitszone scheint recht interessant zu sein, Mr. Ippolito. Wollen wir nicht einen kleinen Spaziergang dorthin unternehmen?«
Hinter der rostigen Eisentür lag ein von einer Reihe von Glühbirnen beleuchteter Kellergang. Der Boden war mit schäbig gewordenem Linoleum ausgelegt, und an den Wänden hingen Ölgemälde, die Puebloindianer aus dem Südwesten beim Mahlen von Mais, Weben und auf der Hirschjagd zeigten.
»Herrlich«, sagte Pendergast. »Schade, daß sie hier unten hängen müssen. Sie sehen wie frühe Bilder von Fremont Ellis aus.«
»Früher hingen sie mal in der Halle des Südwestens«, sagte Ippolito, »aber die wurde meines Wissens in den zwanziger Jahren geschlossen.«
»Ah«, sagte Pendergast, der eines der Gemälde einer genaueren Betrachtung unterzogen hatte. »Es ist ein Ellis. Himmel, ist das schön! Sehen Sie sich bloß mal das Licht auf dieser Pueblofassade an.«
»Und woher wissen Sie das so genau?« fragte Ippolito.
»Ein jeder, der Ellis kennt, könnte diese Bilder als von ihm gemalt identifizieren.«
»Ich meine, woher Sie so genau wissen, daß der Mörder von hier kam?«
»Ich schätze, das war eine Vermutung«, sagte Pendergast und wandte sich dem nächsten Bild zu. »Wissen Sie, wenn jemand sagt ›das ist unmöglich‹, dann muß ich ihm einfach widersprechen. Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir, eine sehr schlechte sogar, aber ich kann sie einfach nicht ablegen. Jetzt allerdings wissen wir sicher, daß der Mörder von hier gekommen ist.«
»Wieso?« fragte Ippolito verwirrt.
»Sehen Sie sich bloß diese herrliche Wiedergabe des alten Santa Fe an. Waren Sie schon mal in Santa Fe?«
Einen Augenblick lang herrschte Stille. »Äh, nein, noch nicht«, antwortete Ippolito schließlich.
»Hinter der Stadt gibt es einen Gebirgszug, der ›Sierra de Sangre de Cristo‹ heißt. Das bedeutet auf spanisch ›das Blut Christi‹.«
»Na und?«
»Nun, die Berge sehen in der untergehenden Sonne zwar rot aus, aber bestimmt nicht so rot, wage ich zu behaupten. Das hier ist wirkliches Blut, und zwar relativ frisches. Eine Schande, es hat das schöne Bild ruiniert.«
»Großer Gott«, sagte D’Agosta. »Sehen Sie sich bloß das an.« Auf Hüfthöhe war ein breiter Streifen von Blut quer über das Gemälde geschmiert.
»Mord ist meistens eine ziemlich schmutzige Angelegenheit. Ich bin mir sicher, daß wir den ganzen Korridor entlang auf Blutspuren stoßen werden. Die Leute von der Spurensicherung sollen sofort herkommen, Lieutenant. Zumindest wissen wir jetzt, wo unser Mörder hinausgegangen ist.« Er hielt inne. »Aber lassen Sie uns unsere kleine Tour rasch noch zu Ende bringen, bevor wir den Spezialisten das Feld räumen. Ich würde zu gerne noch ein wenig nach da vorn gehen und schauen, ob ich noch etwas finde.«
»Nur zu«, sagte D’Agosta.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten, Mr. Ippolito. Die Spurensicherung wird auch den Boden untersuchen, nicht bloß die Wände.«
Sie kamen zu einer verschlossenen Tür, auf der ZUTRITT VERBOTEN stand. »Das hier ist die Sicherheitszone«, sagte Ippolito.
»Was Sie nicht sagen«, entgegnete Pendergast. »Und warum ist hier eine Sicherheitszone, Mr. Ippolito? Ist der Rest des Museums etwa unsicher?«
»Nicht im geringsten«, antwortete der Sicherheitschef eilig. »Eine Sicherheitszone dient zur Aufbewahrung besonders seltener und wertvoller Objekte. Dies hier ist das am besten gesicherte Museum im ganzen Land. Erst kürzlich haben wir ein System von Falltüren aus Stahl installieren lassen, die alle mit unserem Computersystem verbunden sind. Im Falle eines Diebstahls können wir einzelne Sektionen des Gebäudes automatisch abriegeln, so wie bei wasserdichten Schotten auf einem Schiff, die –«
»Ich habe schon verstanden, Mr. Ippolito, vielen Dank«, sagte Pendergast. »Sehr interessant. Aber das hier ist eine alte, mit Kupfer beschlagene Tür«, bemerkte er, nachdem er sie sich genau angesehen hatte.
D’Agosta sah, daß das Kupfer viele flache Beulen aufwies.
»Die Beulen sehen so aus, als wären sie frisch«, sagte Pendergast. »Und was sagen Sie dazu?« fragte er und deutete nach unten.
»Lieber Himmel«, hauchte D’Agosta, als er den unteren Teil der Tür betrachtete. Am hölzernen Türstock waren helle, frische Holzsplitter zu sehen, als hätten mächtige Klauen daran herumgekratzt.
Pendergast trat einen Schritt zurück. »Ich will, daß die komplette Tür genauestens untersucht wird. Könnten Sie das bitte veranlassen, Lieutenant? Und jetzt wollen wir mal sehen, was sich dahinter verbirgt. Würden Sie bitte die Tür aufschließen, Mr. Ippolito, und zwar ohne überall Ihre Fingerabdrücke zu hinterlassen?«
»Ich darf niemanden ohne ausdrückliche Erlaubnis des Direktors hier hereinlassen.«
D’Agosta sah ihn ungläubig an. »Sie meinen, wir sollten uns erst einen gottverdammten Durchsuchungsbefehl besorgen?«
»Nein, nein, es ist bloß –«
»Er hat den Schlüssel vergessen«, sagte Pendergast. »Wir werden solange warten.«
»Dauert nicht lang«, sagte Ippolito, und seine eiligen Schritte hallten den Gang entlang. Als er außer Hörweite war, sagte D’Agosta zu Pendergast: »Ich sage das zwar nur ungern, Pendergast, aber ich mag die Art, wie Sie arbeiten. Das mit dem Gemälde war ziemlich gut, und auch wie Sie Ippolito behandelt haben war nicht ohne. Ich wünsche Ihnen viel Glück mit Ihren New Yorker Kollegen.«
Pendergast sah amüsiert aus. »Danke. Das beruht übrigens auf Gegenseitigkeit. Ich bin froh, daß ich mit Ihnen zusammenarbeiten kann, Lieutenant, und nicht mit einem von diesen hartgesottenen Burschen. Nach dem zu urteilen, was vorhin da drinnen passiert ist, scheinen Sie noch so was wie ein Herz zu haben. Sie sind immer noch ein normaler Mensch.«
D’Agosta lachte. »Nein, das war’s eigentlich nicht. Es waren die verdammten Rühreier mit Schinken, Käse und Ketchup, die ich zum Frühstück hatte. Und dieses Stück Stiftenkopf. Ich hasse Stiftenköpfe.«