DIENSTAG
13
Bill Smithback saß auf einem massiven Stuhl und betrachtete die scharfgeschnittene, spitzkantige Figur von Lavinia Rickman, die hinter ihrem birkenholzfurnierten Schreibtisch saß und sein verknittertes Manuskript las. Zwei rotlackierte Fingernägel trommelten dabei auf der glänzenden Tischplatte herum, und Smithback wußte, daß dieses Fingernagelstakkato nichts Gutes verhieß. Draußen vor dem Fenster hockte ein sehr grauer Dienstagmorgen.
Das Büro war nicht typisch für das Museum. Es fehlten die unordentlichen Stapel von Papieren, Büchern und Zeitschriften, die sonst überall praktisch zur Einrichtung zu gehören schienen. Statt dessen waren Schreibtisch und Regale mit Schnickschnack aus aller Welt dekoriert, darunter eine Märchenerzählerpuppe aus Mexiko, ein Messingbuddha aus Tibet und mehrere Puppen aus Indonesien. Die Wände waren in einem hellen Behördengrün gestrichen, und das Zimmer roch nach Lufterfrischer mit Fichtennadelduft.
Weitere Erinnerungsstücke standen auf beiden Seiten des Schreibtisches so exakt und symmetrisch aufgereiht, als wären sie Büsche in einem französischen Schloßgarten: Ein Briefbeschwerer aus Achat, ein Brieföffner aus Elfenbein, eine japanische Netsuke-Figur. Und in der Mitte hockte Rickman höchstpersönlich und beugte sich affektiert über das Manuskript. Ihre gelockten, orangefarbenen Haare, fand Smithback, paßten nun wirklich nicht zu den grünen Wänden des Büros.
Das rasche Trommeln der Fingernägel verlangsamte sich nur dann, wenn Rickman eine Seite gelesen hatte und weglegte. Als sie schließlich zu Ende war, schob sie die losen Blätter zu einem exakt ausgerichteten Stapel zusammen, den sie genau in der Mitte des Schreibtisches plazierte.
»Nun«, sagte sie und sah mit einem freundlichen Lächeln auf.
»Ich hätte da ein paar kleine Verbesserungsvorschläge.«
»Oh«, sagte Smithback.
»Dieser Teil hier über die aztekischen Menschenopfer scheint mir zum Beispiel etwas übertrieben zu sein.« Sie befeuchtete sorgfältig einen Finger und blätterte durch die Seiten. »Hier.«
»Ja, aber in der Ausstellung –«
»Mr. Smithback, in der Ausstellung wird dieses Thema geschmackvoll behandelt. In ihrem Manuskript ist es das nicht, sondern viel zu explizit.« Sie machte mit ihrem Leuchtmarker einen Strich quer über seine Arbeit.
»Aber es stimmt jedes Wort«, sagte Smithback, der innerlich zusammengezuckt war.
»Mir geht es hier um den Ton, nicht um die Tatsachen. Etwas kann absolut genau sein und sich trotzdem im Ton vergreifen und somit einen falschen Eindruck vermitteln. Erlauben Sie mir den Hinweis, daß wir hier in New York viele Einwohner spanischer Herkunft haben.«
»Das stimmt, aber wieso sollten die sich beleidigt fühlen –«
»Gehen wir weiter. Dieser Abschnitt über Gilborg muß raus.« Sie zog einen weiteren Schrägstrich übers Papier.
»Aber weshalb?«
Rickman lehnte sich in ihren Stuhl zurück. »Mr. Smithback, die Gilborg-Expedition war ein grotesker Mißerfolg. Sie suchten nach einer Insel, die es gar nicht gab. Einer der Forscher hat sogar, wie Sie so minutiös bemerken, eine eingeborene Frau vergewaltigt. Trotz der umfangreichen Sammlungen, die ihm das Museum verdankt, wollen wir Gilborg in der Ausstellung möglichst nicht erwähnen. Ist es denn wirklich nötig, ausgerechnet die Fehlschläge des Museums zu dokumentieren?«
»Aber seine Sammlungen sind einfach phantastisch!« protestierte Smithback.
»Mr. Smithback, ich bin mir nicht sicher, ob Sie das Wesentliche dieses Auftrags wirklich verstanden haben.« Es folgte eine längere Stille, bis schließlich das Trommeln der Fingernägel wieder begann. »Glauben Sie wirklich, daß das Museum Sie unter Vertrag genommen hat und dafür auch noch bezahlt, daß Sie etwas über seine Mißerfolge und Kontroversen schreiben?«
»Aber Fehler und Kontroversen gehören nun einmal zur Wissenschaft, und wer will schon ein Buch lesen, das –«
»Es gibt eine Menge Firmen, die das Museum finanziell unterstützen. Firmen, die von solchen Dingen wohl wenig begeistert wären«, unterbrach ihn Mrs. Rickman. »Und außerdem gibt es draußen in der Stadt sehr empfindliche und kämpferische ethnische Minderheiten, die sich sehr auf den Schlips getreten fühlen könnten.«
»Aber wir sprechen doch hier von Dingen, die mindestens hundert Jahre zurückliegen, während –«
»Mr. Smithback!« Mrs. Rickman hatte nur eine Nuance lauter gesprochen, aber der Effekt war verblüffend. Auf einmal war es in dem Büro völlig still.
»Mr. Smithback, ich muß Ihnen in aller Offenheit sagen –« Sie hielt inne, stand energisch auf und ging um den Schreibtisch herum, bis sie direkt hinter dem Journalisten stand.
»Ich muß Ihnen sagen«, fuhr Rickman fort, »daß Sie länger brauchen, als ich ursprünglich gedacht hatte, um zu kapieren, was Sache ist. Sie schreiben hier kein Buch für einen kommerziellen Verleger. Ganz unverblümt gesagt: Wir hätten gerne dieselbe wohlwollende Behandlung, die Sie dem Boston Aquarium in ihrem letzten – äh – Auftragswerk haben angedeihen lassen.« Sie baute sich vor Smithback auf und lehnte sich stocksteif an die Schreibtischkante. »Es gibt gewisse Dinge, die wir erwarten und auf die wir auch ein Recht zu haben glauben. Diese sind –« Sie zählte sie mit ihren knochigen Fingern auf:
»Erstens: Keine kontroversen Themen. Zweitens: Nichts, was ethnische Minderheiten verstimmen könnte. Drittens: Nichts, was dem Ruf des Museums schaden könnte. Ist das denn zuviel verlangt?« Sie wurde leiser, beugte sich vor und drückte mit ihrer trockenen Hand die von Smithback.
»Ich – äh – nein, das ist es nicht.« Er mußte mit dem fast unwiderstehlichen Wunsch kämpfen, seine Hand wegzuziehen. »Nun, dann sind wir uns ja einig.« Sie ging wieder zurück auf ihre Seite des Schreibtisches und schob Smithback sein Manuskript hinüber.
»Da ist noch eine Kleinigkeit, die wir besprechen sollten.« Rickman wählte ihre Worte mit Bedacht. »Es gibt ein paar Punkte in Ihrem Manuskript, wo Sie interessante Kommentare von Leuten zitieren, die ›maßgeblich an der Ausstellung beteiligt‹ sein sollen, es aber unterlassen, die genaue Quelle Ihrer Informationen anzugeben. Es ist nicht wichtig, aber ich hätte gerne eine Liste dieser Quellen – nur für meine Akten, versteht sich.« Sie lächelte ihn erwartungsvoll an.
In Smithbacks Kopf schrillten die Alarmglocken. »Nun«, antwortete er vorsichtig, »ich würde Ihnen da ja gerne helfen, aber leider verbietet mir das mein journalistischer Ehrenkodex.« Er zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Sie wissen ja, wie das ist.«
Mrs. Rickmans Lächeln verflog rasch, und sie öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als zu Smithbacks Erleichterung das Telefon klingelte. Er stand auf und nahm sein Manuskript an sich. Als er gerade die Tür schloß, hörte er, wie Rickman laut hörbar einatmete.
»Nicht schon wieder einer!«
Die Tür schnappte mit einem Klicken ins Schloß.