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Es tut mir leid, Miß Green, aber seine Tür ist immer noch zu. Ich gebe ihm Ihre Nachricht sobald wie möglich.«
»Danke«, sagte Margo und legte frustriert den Hörer auf die Gabel. Wie konnte sie Frocks Augen und Ohren sein, wenn sie nicht einmal mit ihm sprechen konnte?
Wenn Frock intensiv an einem wichtigen Projekt arbeitete, schloß er sich häufig in seinem Büro ein, und seine Sekretärin wußte genau, daß sie ihn nicht stören durfte. Margo hatte an diesem Vormittag schon zweimal versucht, ihn zu erreichen, und niemand konnte sagen, wann er wieder aus seiner Klausur auftauchen würde.
Margo blickte auf ihre Uhr. Es war zwanzig nach elf – der Vormittag war fast vorbei. Sie wandte sich wieder ihrem Terminal zu und loggte sich in den Museumscomputer ein.
HALLO MARGO GREEN@BIOTECH@STF
WILLKOMMEN IM MUSEUMSNETZ
DISTRIBUTED NETWORKING SYSTEM
VERSION 15–5
COPYRIGHT (C) 1989–1994 NYMNH AND CEREBRAL SYSTEMS INC.
CONNECTING AT 11:20:45 O3–04–94
DRUCKERSERVICE AUF LJ56
***WICHTIGE NACHRICHT AN ALLE USER***
WEGEN SYSTEMAUSFALL HEUTE VORMITTAG WIRD UM 12 UHR MITTAG DAS SYSTEM NEU INSTALLIERT. MIT EINGESCHRAENKTER COMPUTERLEISTUNG MUSS GERECHNET WERDEN. ALLE VERLORENGEGANGENEN ODER BESCHÄDIGTEN DATEIEN SIND SOFORT DER COMPUTERABTEILUNG ZU MELDEN
CHARLES THRUMCAP@ADMIN@SYSTEMS
SIE HABEN 1 NACHRICHT(EN) IM SYSTEM
Margo holte sich ihr Mitteilungsmenü auf den Schirm und las die Nachricht:
NACHRICHT VON GEORGE MORIARTY@EXHIB@STF
ABGESANDT 10:14:07 03–04–94
DANKE FÜR DIE ARBEIT – SIEHT SEHR GUT AUS, AENDERUNGEN NICHT NOETIG. WIR WERDEN DIE BESCHRIFTUNGEN NOCH VOR DER AUSSTELLUNGSEROEFFNUNG ANBRINGEN. HAETTEN SIE LUST, HEUTE MIT MIR ZU MITTAG ZU ESSEN?
GEORGE
ANTWORTEN, LÖSCHEN, SPEICHERN (A/L/S)
Das Klingeln des Telefons zerriß die Stille in Margos Büro.
»Hallo?« sagte sie.
»Margo? Hi. Hier spricht George«, ertönte Moriartys Stimme aus dem Hörer.
»Hi«, antwortete sie. »Tut mir leid, daß ich mich noch nicht gemeldet habe, aber ich habe eben erst Ihre Nachricht gelesen.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Moriarty fröhlich.
»Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Nichts zu danken. Hat mir Spaß gemacht«, entgegnete Margo.
Moriarty machte eine kurze Pause. »Also –« fing er zögernd an. »Wie steht es nun mit unserem Mittagessen?«
»Tut mir leid«, sagte Margo, »ich würde ja furchtbar gerne, aber ich warte auf einen Rückruf von Dr. Frock. Der kann in fünf Minuten, aber auch erst nächste Woche kommen.«
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung zeigte ihr an, daß Moriarty enttäuscht war.
»Aber ich habe einen anderen Vorschlag«, sagte sie. »Sie könnten doch auf dem Weg in die Cafeteria bei mir vorbeischauen. Wenn Frock bis dahin angerufen hat, kann ich ja doch noch mitgehen. Und wenn nicht – nun, dann könnten Sie vielleicht noch ein bißchen mit mir warten und mir beim Kreuzworträtsel der Times helfen oder sonst was.«
»Mach ich«, sagte Moriarty. »Ich kenne jedes australische Säugetier mit drei Buchstaben, das es gibt.«
Margo zögerte. »Und vielleicht könnten wir ja, wenn Sie schon mal da sind, zusammen einen Blick in die Datenbank der Magazinbestände werfen und nach Whittleseys Kisten suchen –?«
Stille folgte, bis Moriarty seufzte und sagte: »Nun, wenn das für Sie so wichtig ist, dann können wir es ja mal versuchen. Ich schätze, das wird schon niemandem schaden. Ich komme dann so gegen zwölf vorbei.«
Eine halbe Stunde später klopfte es an Margos Tür. »Herein«, rief sie.
»Wie denn? Das verdammte Ding ist abgesperrt.« Die Stimme war nicht die von Moriarty.
Margo öffnete die Tür. »Sie habe ich nun nicht gerade erwartet.«
»Was meinen Sie, ist es Zufall oder Schicksal?« fragte Smithback, der hereinkam und die Tür rasch wieder hinter sich schloß. »Hören Sie, meine Lotosblüte, ich war ziemlich fleißig seit gestern abend.«
»Ich auch. Moriarty kann jeden Moment kommen und für mich die Datenbank anzapfen.«
Smithback öffnete den Mund. »Wie haben Sie denn das –?«
»Fragen Sie nicht«, erwiderte Margo selbstzufrieden.
Die Tür ging auf, und Moriarty sah herein. »Margo?« fragte er. Dann erblickte er Smithback.
»Keine Angst, Professor, ich bin ganz harmlos. Heute beiße ich ausnahmsweise nicht.«
»Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagte Margo. »Er hat die unangenehme Angewohnheit, unangemeldet hereinzuplatzen. Kommen Sie nur herein.«
»Ja, und machen Sie es sich bequem«, sagte Smithback und wies mit unmißverständlicher Geste auf den Stuhl vor Margos Terminal.
Moriarty setzte sich langsam. Er blickte hinüber zu Smithback, sah dann zu Margo und wieder zu Smithback. »Ich schätze, Sie wollen, daß ich für Sie in den Magazinbeständen etwas nachsehe«, sagte er traurig.
»Nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Margo rasch. Smithbacks Anwesenheit ließ die ganze Sache irgendwie geplant aussehen.
»Okay, Margo.« Moriarty legte die Finger auf die Tastatur.
»Drehen Sie sich um, Smithback. Ich gebe jetzt das Paßwort ein.«
Die Datenbank der Magazinbestände enthielt Informationen über die Millionen von katalogisierten Gegenständen in den Sammlungen des Museums. Ursprünglich hatte der Zugang zu dieser Datenbank allen Angestellten offengestanden, dann aber hatte jemand oben im vierten Stock kalte Füße bekommen und es für nicht gut befunden, daß die detaillierten Beschreibungen sämtlicher Ausstellungsstücke zusammen mit ihrem genauen Aufbewahrungsort jedermann zugänglich waren. Jetzt war der Zugang dazu den leitenden Angestellten vorbehalten – vom Assistenzkurator, so wie Moriarty einer war, aufwärts.
Mit finsterem Gesicht tippte Moriarty auf ein paar Tasten. »Ich kann mir deswegen eine Rüge einfangen, das wissen Sie schon«, sagte er. »Dr. Cuthbert ist in solchen Dingen sehr streng. Warum können Sie denn nicht Frock das für Sie machen lassen?«
»Wie ich schon sagte, ich komme momentan nicht an ihn ran«, antwortete Margo.
Moriarty haute auf die ENTER-Taste. »Da ist es. Sehen Sie es sich rasch an. Noch mal hole ich Ihnen die Sachen nicht auf den Schirm.«
Margo und Smithback drängten sich an den Terminal, auf dessen Monitor jetzt nacheinander grüne Buchstaben erschienen:
MAGAZINBESTANDSNR. 1988–2006
DATUM: 4. APRIL 1988
BESCHAFFT DURCH: JULIAN WHITTLESEY, EDWARD MAXWELL UND ANDERE
KATALOGISIERT DURCH: HUGO C. MONTAGUE QUELLE: WHITTLESEY/MAXWELL EXPEDITION INS AMAZONASBECKEN
LAGERORT: GEBÄUDE 2, EBENE 3, SEKTION 6, RAUM 144
BEMERKUNG: DIE FOLGEND AUFGEFÜHRTEN GEGENSTÄNDE TRAFEN AM 1. FEBRUAR 1988 IN SIEBEN KISTEN EIN, DIE DIE WHITTLESEY/MAXWELL EXPEDITION VOM OBERLAUF DES XINGU-FLUSSES ABGESCHICKT HAT. SECHS DER KISTEN WAREN VON MAXWELL GEPACKT, EINE VON WHITTLESEY. WHITTLESEY UND THOMAS R. CROCKER JR. KEHRTEN NICHT VON DER EXPEDITION ZURÜCK UND SIND VERMUTLICH TOT.
MAXWELL UND DER REST DER EXPEDITIONSMANNSCHAFT STARBEN BEI EINEM
FLUGZEUGABSTURZ AUF DEM RÜCKWEG IN DIE VEREINIGTEN STAATEN. NUR WHITTLESEYS KISTE WIRD HIER TEILWEISE KATALOGISIERT; DIESE NOTIZ WIRD GEGENSTANDSLOS, WENN DIESE KISTE UND DIE KISTEN VON MAXWELL VOLLSTAENDIG KATALOGISIERT SIND. DIE BESCHREIBUNGEN SIND, SOWEIT VORHANDEN, DEM TAGEBUCH VON WHITTLESEY ENTNOMMEN.
BLE. HCM 4/88
»Haben Sie das gesehen?« fragte Smithback. »Ich frage mich, wieso die die Katalogisierung nie abgeschlossen haben.«
»Psst«, zischte Margo. »Ich muß mich konzentrieren.«
NR. 1988–2006.1
BLASROHR MIT PFEIL. KEINE DATEN STATUS: L.
NR. 1988–2006.2
PERSOENLICHES TAGEBUCH VON J. WHITTLESEY,
22. JULI (1986) BIS 17. SEPTEMBER (1986)
STATUS: Z. E.
NR. 1988–2006.3
2 GRASBÜSCHEL, MIT PAPAGEIENFEDERN ZUSAMMENGEBUNDEN, SCHAMANENFETISCH AUS VERLASSENER HUETTE
STATUS: L.
NR.1988–2006.4
GESCHNITZTE FIGUR EINES TIERES. ANGEBLICH DARSTELLUNG DES »MBWUN« SIEHE WHITTLESEY-TAGEBUCH S. 56–59
STATUS: A.
NR. 1988–2006.5
HOELZERNE PFLANZENPRESSE MIT INHALT. PFLANZEN SIND UNBEKANNT UND STAMMEN AUS DER UMGEBUNG DER VERLASSENEN HUETTE
STATUS: L.
NR. 1988–2006.6
SCHEIBE MIT EINGERITZTEN VERZIERUNGEN.
STATUS: L.
NR. 1988–2006.7
SPEERSPITZEN IN VERSCHIEDENEN GROESSEN UND ERHALTUNGSZUSTAENDEN
STATUS: L.
BEMERKUNG: ALLE KISTEN WURDEN VORUEBERGEHEND IN DIE SICHERHEITSZONE EBENE 2B VERBRACHT. VERANLASST VON IAN CUTHBERT 24/3/94. D. ALVAREZ, SICHERHEITSD.
»Was bedeuten denn die Buchstaben hinter Status?« wollte Smithback wissen.
»L bedeutet lagernd, das heißt der Gegenstand wurde noch nicht genauer untersucht. A bedeutet, daß etwas gerade ausgestellt wird, und Z. E. weist darauf hin, daß der Gegenstand zeitweilig entnommen wurde. Dann gibt es noch andere –«
»Zeitweilig entnommen?« fragte Margo. »Ist das alles, was man vermerken muß? Kein Wunder, daß das Tagebuch verlorengegangen ist.«
»Das ist natürlich nicht alles«, sagte Moriarty. »Wenn jemand ein Objekt entnimmt, dann muß er es schriftlich aus dem Katalog austragen. Diese Datenbank ist hierarchisch aufgebaut. Wenn wir mehr Informationen über einen bestimmten Eintrag haben wollen, dann müssen wir nur eine Ebene tiefer gehen. Passen Sie auf, ich zeige es Ihnen.« Er betätigte ein paar Tasten.
Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck. »Das ist ja komisch.« Auf dem Bildschirm war folgende Meldung zu sehen:
UNGÜLTIGER BEFEHL ODER EINTRAG NICHT VORHANDEN
FUNKTION WIRD ABGEBROCHEN
Moriarty runzelte die Stirn. »Es gibt keine weiteren Informationen zu dem Eintrag über Whittleseys Tagebuch.« Er löschte den Bildschirm und tippte etwas anderes ein. »Die anderen Einträge sind okay. Sehen Sie? Hier sind die Details für die Figur.«
Margo starrte auf den Monitor.
**DETAILLIERTE AUFSTELLUNG**
Gegenstand Nr. 1988–2006.4
###########################################
Entnommen von: |
Cuthbert, I. 40123 |
Genehmigt von: |
Cuthbert, I. 40123 |
Entnommen am: |
22/03/94 |
Verbracht zu: |
Ausstellung Aberglaube Schaukast. 415, Ggstd. Nr. 1004 |
Grund: Ausstellung |
|
Zurück am: |
###########################################
Entnommen von: |
Depardieu, B. 72412 |
Genehmigt von: |
Cuthbert, I. 40123 |
Entnommen am: |
01/10/89 |
Verbracht zu: |
Anthropologisches Labor 2 |
Grund: |
Aufnahme in Bestand |
Zurück am: |
05/10/89 |
###########################################
ENDE DER AUFLISTUNG
=:?
»Und was bedeutet das jetzt konkret? Alles, was wir wissen, ist, daß das Tagebuch fort ist«, sagte Margo.
»Sogar wenn es fort ist, müßte es dafür einen detaillierten Eintrag geben«, antwortete Moriarty.
»Vielleicht ist der Eintrag gesperrt?«
Moriarty schüttelte den Kopf und tippte noch etwas ein.
»Da haben wir’s schon«, sagte er schließlich und deutete auf den Monitor. »Der Eintrag ist gelöscht worden.«
»Meinen Sie damit, daß die Information darüber, wo das Tagebuch ist, einfach so gelöscht werden konnte?« fragte Smithback. »Darf man das denn?«
Moriarty zuckte mit den Achseln. »Dazu braucht man eine ziemlich hoch angesiedelte Zugangsberechtigung.«
»Viel wichtiger ist doch, warum jemand das getan hat«, sagte Margo. »Könnte vielleicht der Computerausfall von heute vormittag etwas damit zu tun haben?«
»Nein«, sagte Moriarty. »Soweit ich es aus den Daten hier ersehen kann, wurde die Datei einige Zeit vor der Datensicherung von gestern abend gelöscht. Genauer kann ich das leider auch nicht sagen.«
»Gelöscht, was?« sagte Smithback. »Für immer verschwunden. Wie sauber, wie bequem. Und wie bezeichnend. Irgendwie habe ich langsam den Eindruck, daß hinter der Sache Methode steckt. Und zwar eine ziemlich häßliche.«
Moriarty schaltete den Monitor aus und stieß sich vom Schreibtisch ab. »Ihre Verschwörungstheorien interessieren mich nicht«, sagte er.
»Kann es denn ein Unfall gewesen sein? Irgendeine Störung im System?« fragte Margo.
»Das möchte ich bezweifeln. In diese Datenbank sind jede Menge Sicherheitsvorkehrungen eingebaut. In einem solchen Fall würde sie bestimmt eine Fehlermeldung ausgeben.«
»Was könnte es dann sein?« bohrte Smithback nach.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Moriarty und zuckte mit den Achseln. »Aber es gibt bestimmt eine ganz banale Erklärung dafür.«
»Ist das alles, was Sie können?« schnaubte Smithback. »Sie sind mir ja ein schönes Computergenie.«
Moriarty schob beleidigt die Brille auf der Nase nach oben und stand auf. »Das brauche ich mir nun wirklich nicht anhören«, sagte er. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser zum Mittagessen.« Er bewegte sich in Richtung Tür. »Wegen dieses Kreuzworträtsels komme ich noch mal auf Sie zu, Margo.«
»Na wunderbar«, sagte Margo, als die Tür sich geschlossen hatte. »Sie sind nicht gerade ein besonders sensibler Mensch, Smithback, wissen Sie das eigentlich? George war immerhin so freundlich und hat für uns die Datenbank angezapft.«
»Ja, aber was hat es uns gebracht?« fragte Smithback. »Absolut nichts. Nur eine der Kisten wurde überhaupt katalogisiert. Und Whittleseys Tagebuch ist immer noch verschwunden.« Er sah Margo selbstzufrieden an. »Ich hingegen bin auf eine echte Goldader gestoßen.«
»Dann schreiben Sie das in Ihrem Buch«, gähnte Margo. »Dort kann ich es ja lesen. Falls sie ein Exemplar davon in die Museumsbibliothek aufnehmen.«
»Auch du, mein Sohn Brutus?« fragte Smithback grinsend und gab ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Da sollten Sie mal einen Blick draufwerfen.«
Es war die Fotokopie eines Artikels aus der Times Picayune vom 17. Oktober 1987.
GEISTERSCHIFF NAHE NEW ORLEANS AUF GRUND GELAUFEN
Von Antony Anastasia – Exklusiv für die Times-Picayune
BAYOU GROVE, 16. Oktober (AP) – Ein kleines Frachtschiff mit Kurs auf New Orleans lief vergangene Nacht in der Nähe der kleinen Küstenstadt Bayou Grove auf Grund. Noch sind nicht alle Einzelheiten bekannt, aber erste Berichte sprechen davon, daß sämtliche Besatzungsmitglieder auf See brutal ermordet wurden. Das Aufgrundlaufen wurde von der Küstenwache Montag nacht um 23 Uhr 45 bemerkt.
Bei dem Schiff, der Strella de Venezuela, handelt es sich um einen 18 000-Tonnen-Frachter unter haitianischer Flagge, der hauptsächlich die Karibik und die Handelsrouten zwischen den Vereinigten Staaten und Südamerika befuhr. Das Schiff war wenig beschädigt, seine Ladung war intakt.
Zur Zeit ist noch nicht bekannt, wie die Besatzungsmitglieder ums Leben kamen oder ob es jemandem gelungen ist, das Schiff zu verlassen. Henry La Plage, der Pilot eines privaten Hubschraubers, der das gestrandete Schiff aus der Luft entdeckte, berichtete: »Leichen lagen auf dem Vorderdeck verstreut, als habe ein wildes Tier sie gerissen. Ein Mann hing mit zerschmettertem Kopf aus dem Bullauge der Kommandobrücke. Es sah aus wie in einem Schlachthaus. So etwas habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.«
Die Ortspolizei arbeitet bei der Untersuchung der Morde, die eines der schlimmsten Massaker in der Geschichte der Seefahrt darstellen, eng mit den Bundesbehörden zusammen. »Wir prüfen momentan noch die verschiedensten Theorien«, sagte Nick Lea, der Sprecher der Polizei. Das FBI war zu keinem Kommentar bereit, aber aus gut unterrichteten Quellen verlautbarte, daß Meuterei, eine Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Seeleuten aus verschiedenen Teilen der Karibik, und Piraterie als mögliche Motive in Betracht gezogen werden.
»Mein Gott«, hauchte Margo. »Die Wunden, die beschrieben werden –«
»– ähneln ziemlich stark denen der drei Leichen, die diese Woche hier im Museum gefunden wurden«, sagte Smithback und nickte grimmig.
Margo runzelte die Stirn. »Das ist vor mehr als sechs Jahren passiert. Es muß ein Zufall sein.«
»Meinen Sie?« fragte Smithback. »Ich wäre ja geneigt, Ihnen zuzustimmen – wenn nicht die Whittlesey-Kisten an Bord dieses Schiffes gewesen wären.«
»Wie bitte?«
»Es stimmt. Ich habe die Ladepapiere gesehen. Die Kisten wurden im August 1987 von Belém in Brasilien aus verschifft – fast ein Jahr nach dem Scheitern der Expedition. Nach dieser Geschichte in New Orleans lagerten die Kisten beim Zoll, bis die Untersuchungen abgeschlossen waren. Es dauerte noch einmal fast eineinhalb Jahre, bis sie schließlich hier im Museum ankamen.«
»Diese Ritualmorde folgten den Kisten den ganzen Weg vom Amazonas bis hierher!« sagte Margo. »Aber das bedeutet ja –« »Das bedeutet«, sagte Smithback düster, »daß ich nie mehr lachen werde, wenn jemand von dem Fluch spricht, den diese Expedition auf sich geladen haben soll. Und außerdem bedeutet es, daß Sie diese Tür hier immer gut zusperren sollten.«
Als das Telefon läutete, fuhren sie beide zusammen.
»Margo, meine Liebe«, dröhnte die Stimme von Dr. Frock aus dem Hörer. »Was gibt es denn?«
»Dr. Frock! Könnte ich Sie bitte für ein paar Minuten in Ihrem Büro sprechen? Sobald es Ihnen paßt?«
»Aber gerne!« sagte Frock. »Geben Sie mir nur etwas Zeit, um ein paar Papiere von meinem Schreibtisch in den Papierkorb zu werfen. Sagen wir um eins?«
»Vielen Dank«, antwortete Margo und legte auf. »Smithback«, sagte sie und drehte sich um, »wir müssen –«
Aber der Journalist war verschwunden.
Zehn Minuten vor eins klopfte es wieder an ihrer Tür.
»Wer ist da?« fragte Margo.
»Ich bin’s, Moriarty. Kann ich reinkommen?«
»Ich wollte mich nur entschuldigen, daß ich vorhin so abrupt gegangen bin«, sagte Moriarty und lehnte den ihm angebotenen Stuhl ab. »Aber Bill ging mir furchtbar auf die Nerven. Manchmal kann er einfach keine Ruhe geben.«
»Ich bin diejenige, die sich entschuldigen muß, George«, sagte Margo. »Ich wußte nicht, daß er bei mir hereinschneien würde.« Sie dachte kurz daran, Moriarty von dem Zeitungsartikel zu erzählen, entschied sich dann aber dagegen und fing an, ihre Umhängetasche zu packen.
»Ich möchte Ihnen noch etwas anderes sagen«, fuhr Moriarty fort. »Beim Mittagessen ist mir eingefallen, daß es vielleicht doch noch einen Weg gibt, wie wir an den gelöschten Datenbankeintrag über Whittleseys Tagebuch kommen könnten.«
Margo legte ihre Umhängetasche zur Seite und blickte zu Moriarty, der sich vor ihren Terminal setzte. »Haben Sie die Bemerkung gelesen, als Sie sich in den Computer einloggten?« fragte er.
»Die über den Systemausfall? Hat mich nicht gewundert, ich bin heute vormittag schon zweimal aus dem Hauptrechner geflogen.«
Moriarty nickte. »In der Nachricht stand außerdem, daß sie am Mittag das System von den Sicherungsbändern aus wieder restaurieren. So eine volle Restaurierung dauert etwa dreißig Minuten. Mittlerweile müßten sie damit fertig sein.«
»Na und?«
»Nun, auf so einem Sicherungsband ist meistens das Datenmaterial von zwei bis drei Monaten gespeichert. Wenn die Detailinformationen über das Whittlesey-Tagebuch innerhalb der letzten zwei Monate gelöscht wurden – und wenn das Sicherungsband im Computerraum noch in der Maschine liegt –, dann könnte ich uns die Daten vielleicht auf den Schirm holen.«
»Wirklich?«
Moriarty nickte.
»Dann tun Sie’s doch«, drängte Margo.
»Es ist aber ein wenig riskant«, gab Moriarty zu bedenken. »Wenn der Operator im Computerraum merkt, daß auf das Sicherungsband zugegriffen wird, kann er die Aktion möglicherweise bis zu Ihrem Terminal zurückverfolgen.«
»Dieses Risiko gehe ich ein«, sagte Margo. »George«, fügte sie hinzu, »ich weiß, daß Sie das Ganze für ein Hirngespinst halten, und ich kann es Ihnen nicht mal verübeln. Aber ich bin überzeugt, daß die Kisten der Whittlesey-Expedition etwas mit diesen Morden zu tun haben. Ich weiß zwar nicht, auf welche Weise, aber möglicherweise könnte uns das Tagebuch Aufschluß darüber geben. Und ich weiß auch nicht, womit wir es zu tun haben – mit einem Serientäter, mit einem Tier oder mit einem Monster. Und daß ich das nicht weiß, macht mir angst.«
Margo nahm Moriartys Hand und drückte sie sanft. »Aber vielleicht können wir ja mit unseren Nachforschungen zur Aufklärung beitragen«, fuhr sie fort. »Wir müssen es einfach versuchen.«
Als sie bemerkte, daß Moriarty rot wurde, zog Margo ihre Hand zurück.
Moriarty lächelte schüchtern und schaltete das Terminal ein. »Dann fangen wir mal an«, sagte er.
Während Moriarty arbeitete, ging Margo auf und ab. »Na, haben Sie schon was?« fragte sie schließlich und trat näher an den Monitor heran.
»Ich weiß noch nicht«, sagte Moriarty, blinzelte auf die Buchstaben und tippte weiter. »Ich bin jetzt am Sicherungsband dran, aber das Übertragungsprotokoll ist irgendwie nicht in Ordnung, die CRC-Prüfsumme stimmt nicht. Möglicherweise erhalten wir verstümmelte Daten – wenn wir überhaupt was kriegen. Ich schleiche mich sozusagen durch die Hintertür in den Computer und hoffe, daß es niemand merkt. Das dauert natürlich seine Zeit.«
Dann hörte das Geklapper der Tastatur auf einmal auf. »Margo«, sagte Moriarty ruhig. »Ich hab’s.«
Auf dem Monitor erschien eine Reihe von Zeilen:
**DETAILLIERTE AUFSTELLUNG**
Gegenstand Nr. 1988–2006.2
###########################################
Entnommen von: |
Rickman, L. 40 123 |
Genehmigt von: |
Cuthbert, I. 40 123 |
Entnommen am: |
20/03/94 |
Verbracht zu: |
Rickman, L. |
Grund: |
Persönliche Studien |
Zurück am: |
###########################################
Entnommen von: |
Depardieu, B. 72 412 |
Genehmigt von: |
Cuthbert, I. 40 123 |
EntnoLW/@ am: |
01/10/89 |
Verbr~DS*-~@2E34WiFu
=++ET2 34h34!
DATENBANKFEHLER
=:?
»Verdammt«, rief Moriarty. »Das habe ich befürchtet. Die Datei wurde teilweise überschrieben. Sehen Sie das? Dort am Schluß ist nur noch Datenmüll.«
»Ja, aber sehen Sie nur!« sagte Margo aufgeregt.
Moriarty las, was auf dem Monitor stand. »Mrs. Rickman hat sich das Tagebuch vor zwei Wochen geholt und bisher nicht zurückgebracht. Und zwar mit Erlaubnis von Dr. Cuthbert.«
»Und Cuthbert hat behauptet, das Tagebuch sei verlorengegangen«, schnaubte Margo.
»Aber warum wurde diese Datei gelöscht? Und von wem?« Moriartys Augen weiteten sich. »O Gott, ich muß den Zugriff aufs Sicherungsband beenden, bevor es doch noch jemandem auffällt.« Seine Finger tanzten über die Tasten.
»George«, sagte Margo, »wissen Sie eigentlich, was das bedeutet? Cuthbert und Rickman haben das Tagebuch aus der Kiste geholt, noch bevor die Morde hier begannen. Etwa zur selben Zeit ließ Cuthbert die Kisten in den Sicherheitsbereich bringen. Und jetzt enthalten die beiden der Polizei Beweismittel vor. Warum?«
Moriarty runzelte die Stirn. »Sie klingen ja fast schon wie Smithback«, sagte er. »Dafür kann es doch Hunderte von Gründen geben.«
»Dann sagen Sie mir doch einen«, forderte Margo ihn heraus. »Es wäre doch möglich, daß jemand den Eintrag gelöscht hat, bevor Rickman das Tagebuch als verloren melden konnte.« Margo schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Das wäre ein zu großer Zufall.«
»Margo –«, fing Moriarty an. Dann seufzte er und fuhr geduldig fort: »Hören Sie, das ist eine schwierige Zeit für uns alle, ganz besonders aber für Sie. Ich weiß, daß Sie eine schwierige Entscheidung zu fällen haben, und wenn dann noch eine solche Krise dazukommt –«
»Diese Morde wurden nicht von irgendeinem x-beliebigen Irren begangen«, unterbrach ihn Margo ungeduldig. »Und ich bin nicht verrückt.«
»Das habe ich auch nicht behauptet«, fuhr Moriarty fort. »Ich finde nur, Sie sollten die Sache der Polizei überlassen. Sie ist nämlich sehr, sehr gefährlich. Und außerdem sollten Sie sich momentan eher auf ihr eigenes Leben konzentrieren. Wenn Sie sich zu sehr in diese Geschichte verrennen, dann können Sie keine klare Entscheidung über Ihre eigene Zukunft treffen.« Er schluckte. »Und Ihren Vater bringt das auch nicht wieder zurück.«
»Ist es das, was sie glauben?« fuhr Margo ihn an. »Sie haben kein Recht –«
Als ihr Blick auf die Uhr an der Wand fiel, brach sie mitten im Satz ab.
»Mein Gott, ich komme zu spät zu meiner Verabredung mit Dr. Frock.« Sie packte ihre Umhängetasche und rannte zur Tür. Im Gang drehte sie sich noch einmal um und rief Moriarty zu: »Wir reden später über alles.«
Die Tür fiel ins Schloß.
Du meine Güte, dachte Moriarty, der vor dem nunmehr dunklen Monitor saß und das Kinn in die Hände stützte. Wenn jetzt schon eine Doktorandin in Pflanzengenetik meint, daß Mbwun hier sein Unwesen treibt – wenn sogar eine Margo Green überall eine Verschwörung wittert – was mag dann erst mit dem Rest des Museums los sein?