23
D’Agosta sah hinüber zu Pendergast, der zurückgelehnt auf dem abgeschabten Rücksitz des Buick saß. Mein Gott, dachte er, eigentlich müßte ein Typ wie Pendergast doch das neueste Modell zur Verfügung gestellt bekommen. Statt dessen hatte man ihm diese vier Jahre alte Karre und einen Fahrer gegeben, der nicht einmal richtig Englisch konnte.
Pendergasts Augen waren halb geschlossen.
»Biegen Sie an der Sechsundachtzigsten Straße ab und nehmen Sie die Straße durch den Central Park«, rief D’Agosta.
Der Fahrer fuhr quer über zwei Spuren und bog in den Central Park ab.
»Nehmen Sie an der Fifth Avenue die Fünfundsechzigste Straße –«, sagte D’Agosta. »Dann fahren Sie an der Third Avenue einen Block nach Norden und biegen dann nach rechts in die Sechsundsechzigste Straße.«
»Neunundfünfzigste ist schneller«, sagte der Fahrer mit einem starken nahöstlichen Akzent.
»Aber nicht jetzt im Berufsverkehr«, rief D’Agosta. Gott im Himmel, die beim FBI hatten nicht mal Fahrer, die sich in New York auskannten.
Der Wagen holperte die Avenue entlang, und der Fahrer raste an der Fünfundsechzigsten Straße vorbei.
»Was, zum Teufel, machen Sie denn?« fragte D’Agosta. »Sie haben gerade die Fünfundsechzigste verpaßt!«
»’tschuldigung«, sagte der Fahrer, bog in die Einundsechzigste Straße ab und stand natürlich prompt im Stau.
»Ist denn das die Möglichkeit«, sagte D’Agosta zu Pendergast. »Sie sollten diesen Knallkopf in hohem Bogen hinauswerfen.«
Pendergast lächelte mit immer noch halbgeschlossenen Augen. »Er ist – wie soll ich das sagen – eine Art Leihgabe von unserem New Yorker Büro. Aber diese Verzögerung gibt uns wenigstens die Gelegenheit, ein wenig miteinander zu plaudern.« Er sank wieder in seinen schäbigen Sitz zurück.
Pendergast war den halben Nachmittag lang bei der Autopsie von Jolleys Leiche gewesen, während D’Agosta die Einladung dazu dankend abgelehnt hatte.
»Das Labor hat mehrere verschiedene Arten von DNS in unserer Probe gefunden«, sagte Pendergast. »Eine war menschlich, die andere stammte von einem Gecko.«
D’Agosta sah ihn an. »Von einem Gecko? Was ist denn ein Gecko?« fragte er.
»Eine Art Eidechse. Vollkommen harmlos. Sitzt an der Wand und sonnt sich. Als ich klein war, haben meine Eltern einmal eine Villa mit Blick aufs Mittelmeer gemietet. Dort waren viele Geckos an den Wänden. Wie dem auch sei, die Ergebnisse der DNS-Analyse waren so überraschend, daß der Labortechniker zunächst an einen Scherz glaubte.«
Pendergast öffnete seine Aktentasche. »Hier ist der Bericht von Jolleys Autopsie. Es ist nicht viel Neues dabei herausgekommen, fürchte ich. Dieselbe Vorgehensweise, die Leiche war fürchterlich entstellt und wieder fehlte der Hypothalamus. Die Gerichtsmediziner haben ausgerechnet, daß, um so tiefe Verletzungen mit einem einzigen Schlag zu verursachen, eine nach unten gerichtete Kraft von –« er las von einem maschinenbeschriebenen Blatt ab – »sechshundert Kilo pro Quadratzentimeter nötig ist. Dr. Ziewicz sagt, daß das fast doppelt soviel Kraft ist, wie sie ein starker Mann aufbringen kann. Allerdings ist das natürlich nur eine ziemlich grobe Schätzung.«
Pendergast blätterte ein paar Seiten weiter. »Außerdem haben sie am Gehirn des älteren Jungen und dem von Jolley Enzymtests auf eventuell vorhandene Speichelspuren gemacht.«
»Und –?«
»Beide Proben waren positiv.«
»Mein Gott. Meinen Sie, daß der Mörder die verdammten Gehirne gegessen hat?«
»Nicht nur gegessen, Lieutenant, sondern auch noch mächtig eingespeichelt. Er oder sie hat ganz offensichtlich keine Tischmanieren. Haben Sie den Bericht der Spurensicherung dabei? Kann ich den bitte mal sehen?«
D’Agosta gab ihm den Bericht. »Sie werden kaum etwas Überraschendes drin finden. Das Blut auf dem Gemälde stammt von Jolley. Außerdem haben sie Blutspuren gefunden, die an der Sicherheitszone vorbei- und eine Treppe in den unteren Keller hinunterführten. Leider hat der Regen von gestern nacht dort alle Spuren weggespült.«
Pendergast überflog das Dokument. »Und hier ist der Bericht über die Tür zum Gewölbe mit den Kisten. Jemand hat dort mächtig dagegengehauen, vermutlich mit einem stumpfen Gegenstand. Außerdem wurden dreigezackte Kratzspuren gefunden, die den Wunden der Opfer ähneln. Auch an der Tür wurde bemerkenswert viel Kraft angewandt.«
Pendergast gab D’Agosta den Bericht zurück. »Es sieht so aus, als müßten wir dem unteren Keller mehr Aufmerksamkeit widmen. Im Grunde genommen drehen wir uns nämlich im Kreis, Vincent. Das gefällt mir nicht. Diese DNS-Geschichte ist momentan fast das einzige, worauf wir aufbauen können. Wenn wir wüßten, woher diese Kralle stammt, hätten wir endlich so etwas wie eine konkrete Spur. Deshalb habe ich Sie auch zu diesem Treffen hier gebeten.«
Der Wagen hielt vor einem Labyrinth von ineinander verschachtelten, efeuüberwachsenen Ziegelbauten mit Blick auf den East River. Ein Wachmann ließ Pendergast und D’Agosta durch eine Seitentür in eines der Gebäude hinein.
Oben im Labor lehnte Pendergast sich an einen Tisch in der Mitte des Raumes und plauderte entspannt mit Buchholtz und Turow, den beiden Wissenschaftlern. D’Agosta fand die Leichtigkeit, mit der der Südstaatler die Szene beherrschte, bewundernswert.
»Mein Kollege und ich würden uns gerne über die von Ihnen vorgenommene DNS-Sequenzierung informieren. Wir müssen wissen, wie Sie zu diesem Ergebnis gekommen sind und ob es möglicherweise weiterführende Untersuchungen gibt, die man mit dieser Probe anstellen könnte. Ich bin mir sicher, daß Sie dafür Verständnis haben.«
»Aber natürlich«, sagte Buchholtz. Er war geschäftig, klein und so kahl wie der Gipfel des Mount Monadnock. »Mein Assistent Dr. Turow hat die Analyse durchgeführt.«
Turow trat nervös einen Schritt nach vorn. »Als man uns die Probe gab«, sagte er, »sollten wir herausfinden, ob sie von einer großen Raubkatze stammt. In so einem Fall vergleichen wir die DNS der Probe mit denen von etwa fünf oder sechs in Frage kommenden Arten. Zusätzlich aber nehmen wir noch die genetischen Informationen eines Lebewesens dazu, das ganz bestimmt nicht in dieser Gruppe liegt. Das nennen wir dann Kontrollgruppe. Können Sie mir soweit folgen?«
»Ja«, sagte Pendergast. »Aber trauen Sie mir nicht zuviel zu. Ich bin ziemlich unbedarft in solchen Dingen.«
»Normalerweise nehmen wir zur Kontrolle die menschliche DNS her, weil wir von der schon recht viel kartiert haben. Nun, jedenfalls führen wir mit der Probe eine PCR durch, eine Polymerase-Kettenreaktion. Dadurch werden Abertausende von Kopien der Gene erzeugt, und wir haben viel Material, mit dem wir arbeiten können.«
Er deutete auf eine große Maschine, an deren Seiten sich Streifen von durchsichtigem Plexiglas befanden. Hinter diesen Fenstern waren dunkle, vertikale Bänder zu sehen, die zusammen ein kompliziertes Muster ergaben. »Das ist eine Maschine zur Elektrophorese. Wir geben einen Tropfen der Probe hinein, von dem dann nach Anlegen eines elektrischen Feldes bestimmte Bestandteile, je nachdem, welches Molekulargewicht sie haben, mehr oder weniger weit in das sich hinter diesen Fenstern befindliche Gel aufsteigen und als dunkle Streifen sichtbar werden. Mit Hilfe eines Computers können wir dann anhand des entstanden Musters herausfinden, was für Gene in der Probe vorlagen.«
Turow atmete tief durch. »Nun, bei der uns zur Verfügung gestellten Probe fanden wir jedenfalls keine Genübereinstimmung mit großen Katzen. Praktisch überhaupt keine. Nicht einmal eine annähernde Übereinstimmung. Zu unserer Überraschung aber hatten wir in mehreren Punkten eine positive Übereinstimmung mit der Kontrollgruppe, das heißt mit den Genen des Homo sapiens. Außerdem konnten wir, wie Sie ja wissen, mehrere Arten von Gecko-Genen identifizieren. Oder zumindest scheint es so.« Turow sah ein bißchen ratlos drein. »Der größte Teil der Gene in der Probe blieb allerdings unidentifiziert.«
»Und deshalb nahmen Sie an, daß die Probe verunreinigt sein mußte.«
»Ja. Verunreinigt oder zerstört. Die Probe wies eine Menge sich wiederholender Basenpaare auf, was immer auf einen hohen Grad genetischer Schädigung hinweist.«
»Genetische Schädigung?« fragte Pendergast.
»Wenn die DNS beschädigt oder defekt ist, bildet sie oft unkontrolliert viele Kopien von ein und demselben Basenpaar. Bestimmte Viren können zum Beispiel solche Schäden an der DNS bewirken, außerdem Strahlung, gewisse Chemikalien und manchmal auch Krebs.«
Pendergast hatte begonnen, durch das Labor zu wandern und untersuchte es mit fast katzenhaft wirkender Neugier. »Diese Gecko-Gene finde ich besonders interessant. Was bedeuten sie denn nun wirklich?«
»Das ist das große Rätsel an der Sache«, sagte Turow. »Diese Gene sind recht selten. Sie müssen wissen, daß es auch sehr häufig vorkommende Gene gibt, wie zum Beispiel das Cytochrome-B-Gen, das vom Immergrün bis zum Menschen in fast allen Organismen vorkommt. Aber diese Gecko-Gene – nun, von denen wissen wir überhaupt nichts.«
»Damit wollen Sie wohl sagen, daß die DNS in der Probe nicht von einem Tier stammt, stimmt’s?« fragte D’Agosta.
»Zumindest nicht von einem der uns bekannten großen, fleischfressenden Säugetiere«, antwortete Buchholtz. »Wir haben die Probe mit allen uns zur Verfügung stehenden Daten verglichen. Es gibt nicht annähernd genügend Übereinstimmungen, um sagen zu können, sie stamme von einem Gecko. Wenn wir alles andere ausschließen, würde ich sagen, daß sie möglicherweise doch menschlichen Ursprungs ist. Aber so beschädigt oder verschmutzt wie die Probe ist, können wir keine eindeutigen Aussagen machen.«
»Die Probe«, sagte D’Agosta, »stammt aus der Leiche eines ermordeten Jungen.«
»Aha!« sagte Turow. »Das könnte natürlich bedeuten, daß sie möglicherweise mit menschlichem Genmaterial verunreinigt wurde. Es würde unsere Arbeit wirklich kolossal erleichtern, wenn man uns solche Dinge gleich von Anfang an mitteilen würde.«
Pendergast runzelte die Stirn. »Die Probe wurde, soviel ich weiß, von der Gerichtsmedizinerin aus dem Wurzelkanal einer Klaue entnommen, wobei größte Sorgfalt angewandt wurde, um eine Verunreinigung auszuschließen.«
»Dazu braucht es oft nur eine einzige Zelle. Die Probe stammt aus einer Klaue, haben Sie gesagt?« Turow dachte einen Augenblick lang nach. »Ich habe da eine Idee. Vielleicht stammt die Klaue von einer Eidechse, die sehr stark mit dem Blut ihres menschlichen Opfers in Berührung gekommen ist. Es kommt da praktisch jede Art von Eidechse in Frage, es muß nicht unbedingt ein Gecko sein.« Er sah hinüber zu Buchholtz. »Der einzige Grund, warum wir Teile der DNS als vom Gecko stammend identifizieren konnten, ist der, daß ein Bursche in Baton Rouge vor ein paar Jahren Forschungen über die Genetik der Geckos angestellt und seine Ergebnisse in die GenBank, eine von der US-Regierung unterhaltenen Sammlung aller bekannten genetischen Daten, eingegeben hat. Sonst wären auch diese Gene als unbekannt bezeichnet worden, wie der überwiegende Rest der Probe.«
Pendergast sah Turow an. »Ich möchte gerne, daß Sie weitere Tests machen und herausfinden, wofür diese Gecko-Gene zuständig sind.«
Turow runzelte die Stirn. »Mr. Pendergast, die Chancen einer erfolgreichen Analyse stehen in diesem Fall nicht allzu gut, außerdem können sie Wochen in Anspruch nehmen. Mir scheint es so, als wäre das Rätsel bereits gelöst –«
Buchholtz klopfte mit der Hand auf Turows Rücken. »Lassen wir das doch Agent Pendergasts Sorge sein. Schließlich bezahlt uns die Polizei ja für unsere Arbeit, und diese Prozedur wird sehr teuer werden.«
Pendergast lächelte noch etwas breiter. »Ich bin froh, daß Sie diesen Aspekt anschneiden, Dr. Buchholtz. Schicken Sie die Rechnung einfach an die Abteilung für Spezialaufgaben beim FBI.« Er schrieb die Adresse auf seine Visitenkarte. »Und machen Sie sich keine Sorgen. Geld ist für uns wirklich von untergeordneter Bedeutung.«
D’Agosta mußte grinsen. Er wußte genau, warum Pendergast das machte: Es war seine Rache dafür, daß er so ein lausiges Auto fahren mußte. Der Lieutenant schüttelte bewundernd den Kopf. Was für ein gerissener Teufel, dieser Pendergast.