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Alle mal herhören«, sagte der Polizist eine Stunde später. »Sie können jetzt gehen. Aber halten Sie sich von den Bereichen fern, die mit einem gelben Band gekennzeichnet sind.«
Als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte, hob Margo mit einem Ruck den Kopf. Vor ihr stand Bill Smithback, groß und schlaksig, und hielt zwei spiralgebundene Notizbücher in der anderen Hand. Wie immer sahen seine braunen Haare so aus, als wäre er eben erst aus dem Bett gestiegen. Hinter ein Ohr hatte er einen abgekauten Bleistiftstummel geklemmt, der Kragen seines Hemdes stand offen, und der Knoten seiner schlampig gebundenen Krawatte hing auf Halbmast. Er war die perfekte Karikatur eines hart arbeitenden Journalisten, und Margo hatte den Eindruck, als pflege er dieses Aussehen auch noch bewußt. Smithback sollte im Rahmen der anstehenden Hundertjahrfeier ein Buch über das Museum schreiben, unter besonderer Berücksichtigung der Ausstellung zum Thema »Aberglaube«, die nächste Woche eröffnet werden sollte.
»Geheimnisvolle Dinge tun sich im Naturhistorischen Museum«, murmelte Smithback düster in Margos Ohr und ließ sich in einen Stuhl neben dem ihren sinken. Er knallte seine Notizbücher auf den Tisch, aus deren Seiten sich eine Flut von handbeschriebenem Papier, Computerdisketten ohne Etikett und fotokopierte Artikel, bei denen er mit gelbem Leuchtmarker bestimmte Stellen angestrichen hatte, auf die Resopalplatte ergoß.
»Hallo Kawakita!« sagte Smithback jovial und klopfte dem Wissenschaftler auf die Schulter. »Haben Sie vielleicht in letzter Zeit irgendwelche Tiger hier durch die Gänge schleichen sehen?«
»Nur Papiertiger«, antwortete Kawakita trocken.
Smithback wandte sich wieder an Margo. »Sie haben ja sicherlich von der Sache gehört. Ganz schön blutrünstige Geschichte, was?«
»Uns haben sie überhaupt nichts gesagt«, entgegnete Margo. »Lediglich, daß irgend jemand umgebracht wurde. Vermutlich war Prine der Täter.«
Smithback lachte. »Charlie Prine? Der Bursche kann doch nicht einmal einen Sechserpack Bier killen, von einem Menschen ganz zu schweigen. Nein, Prine hat nur die Leiche entdeckt. Oder, wie ich besser sagen sollte, die Leichen.«
»Die was? Wovon reden Sie überhaupt?«
Smithback seufzte. »Wissen Sie denn wirklich nichts? Ich habe eigentlich gehofft, Sie hätten irgendwas gehört, wo Sie doch schon seit Stunden hier sitzen.« Er sprang auf und ging hinüber zur Kaffeemaschine. Er kippte und schüttelte die Kanne und kam dann fluchend ohne Kaffee zurück. »Sie haben die Frau des Direktors ausgestopft in einem Schaukasten in der Affenhalle entdeckt«, sagte er, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. »Sie steht dort schon seit zwanzig Jahren, aber bisher hat es niemand bemerkt.«
»Nun rücken Sie schon endlich mit der wirklichen Geschichte raus, Smithback«, stöhnte Margo.
»Okay, okay«, seufzte er. »Gegen halb acht Uhr heute früh wurden im alten Keller die Leichen von zwei kleinen Jungen gefunden.«
Margo hielt sich die Hände vor den Mund.
»Wie haben Sie das erfahren?« wollte Kawakita wissen.
»Während Sie beide hier auf Ihren vier Buchstaben herumsaßen, standen sich normalsterbliche Leute da draußen auf der Straße die Beine in den Bauch«, fuhr Smithback fort. »Man hat uns einfach die Tore vor der Nase zugemacht. Auch die Presse war da draußen, und zwar in ziemlich großer Anzahl. Man sagt, daß Wright um zehn Uhr in der Großen Rotunde eine Pressekonferenz geben und zu den ganzen Zoogeschichten, die man sich mittlerweile erzählt, Stellung nehmen wird. Wir haben noch zehn Minuten.«
»Was für Zoogeschichten?« fragte Margo.
»Dieses Museum hier soll der Zoo sein. Ganz schön wilde Storys sind da im Umlauf.« Smithback gefiel es sichtlich, seine Informationen nur Stück für Stück preiszugeben. »Es scheint so, als wären die Leichen ziemlich bestialisch zugerichtet worden. Und Sie kennen ja die Presse, die mutmaßt doch schon seit längerem, daß ihr in eurem Museum irgendwelche wilden Tiere haltet.«
»Ihnen scheint die Sache ja direkt Spaß zu machen«, sagte Kawakita mit einem Lächeln.
»Warum nicht? Eine solche Geschichte verleiht meinem Buch doch gleich eine ganz andere Dimension«, fuhr Smithback fort. »Der schockierende Bericht über die grausamen Museumsmorde. Von William Smithback Junior. Wilde, menschenfressende Tiere streifen des nachts durch die verlassenen Korridore. So was hat das Zeug zum Bestseller.«
»Das ist nicht lustig«, fauchte Margo, die daran denken mußte, daß Prines Labor sich nicht weit entfernt von ihrem eigenen Büro im Keller des alten Gebäudes befand.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Smithback beschwichtigend. »Natürlich ist die Sache furchtbar schrecklich. Die armen Kinder! Allerdings weiß ich noch immer nicht so ganz, ob ich die Geschichte wirklich glauben soll. Vielleicht ist sie ja auch bloß ein Werbetrick von Cuthbert, um der Ausstellung zu mehr Publicity zu verhelfen.« Er seufzte, bevor er schuldbewußt das Thema wechselte. »Hey, Margo – das mit Ihrem Vater hat mir wirklich leid getan. Ich wollte Ihnen eigentlich schon früher mein Beileid aussprechen.«
»Danke.« In Margos Lächeln lag wenig Wärme.
»Hört zu, ihr zwei«, sagte Kawakita. »Ich muß jetzt wirklich –«
»Ich habe gehört, daß Sie daran gedacht haben, mit Ihrer Arbeit hier aufzuhören«, sagte Smithback, noch immer an Margo gewandt. »Daß Sie vorhätten, Ihre Dissertation abzubrechen und in der Firma Ihres Vaters zu arbeiten, so ’n Zeug eben.« Er sah sie neugierig an. »Stimmt das? Ich dachte, Ihre Forschungen seien nun endlich an einem Punkt angelangt, wo sie wirklich Ergebnisse bringen.«
»Nun«, sagte Margo. »Die Antwort lautet ja und nein. Die Dissertation schleppt sich momentan ein wenig dahin. Heute habe ich meinen wöchentlichen Elf-Uhr-Termin bei Frock. Vermutlich wird er ihn wie üblich verpassen und dann irgendwann ansetzen, besonders heute, wo diese Tragödie passiert ist. Aber ich hoffe, daß ich ihn zu Gesicht bekommen werde. Ich bin nämlich bei der Art, wie die Kiribitu ihre Heilpflanzen klassifizierten, auf eine interessante Entdeckung gestoßen.«
Margo bemerkte, daß Smithbacks Augen bereits begonnen hatten, durch den Raum zu schweifen, und sie mußte wieder einmal erkennen, daß die meisten Menschen sich nicht sonderlich für Pflanzengenetik und primitive Arzneimittelkunde interessierten. »Nun, wie dem auch sei, wir sollten langsam in die Gänge kommen«, sagte sie und stand auf.
»Augenblick!« sagte Smithback und raffte seine Papiere zusammen. »Hätten Sie vielleicht Lust, mit mir zu der Pressekonferenz zu gehen?«
Als sie den Aufenthaltsraum verließen, beschwerte sich Freed noch immer bei jedem, der ihm zuhören wollte. Kawakita, der bereits vor ihnen den Gang entlangtrottete, winkte ihnen über die Schulter zu, bevor er um eine Ecke bog und verschwand.
Als Margo und Bill in die Große Rotunde kamen, war die Pressekonferenz bereits in vollem Gange. Reporter umringten Henry Wright, den Direktor des Museums, hielten ihm Mikrofone vors Gesicht und richteten Kameras auf ihn. Ihre Stimmen hallten in dem großen Kuppelbau gespenstisch wider. Neben Wright stand Ippolito, der Sicherheitschef des Museums, und aus einiger Entfernung beobachteten andere Angestellte des Museums und ein paar neugierige Schulklassen die Geschehnisse.
Wright stand sichtlich verärgert im Licht der Halogenscheinwerfer und beantwortete Fragen, die ihm zugerufen wurden. Sein normalerweise makelloser Anzug von einem der feinsten Herrenausstatter war verknittert, und seine schon etwas gelichteten Haare hingen ihm über ein Ohr. Wrights ohnehin blasses Gesicht hatte eine graue Farbe, und seine Augen waren gerötet. »Nein«, sagte der Museumsdirektor, »die Eltern dachten, die Kinder hätten das Museum bereits verlassen. Niemand hat uns vor heute früh verständigt … Nein, wir halten keine lebenden Tiere hier im Museum. Gut, wir haben Mäuse und auch ein paar Schlangen für Forschungszwecke, aber keine Löwen, Tiger oder ähnliches … Ich habe die Leichen nicht gesehen, und ich weiß nichts über die Art der Verstümmelungen, wenn es überhaupt welche gegeben hat … Dazu kann ich nichts sagen, dafür sind andere Leute zuständig. Sie werden sich wohl bis zum Ergebnis der Autopsien gedulden müssen … Ich möchte noch einmal betonen, daß es von der Polizei bisher keinen offiziellen Kommentar gibt … Wenn Sie nicht aufhören, so zu schreien, werde ich keine weiteren Fragen mehr beantworten … Das habe ich bereits vorhin gesagt, wir haben keine wilden Tiere im Museum … nein, auch keine Bären … Namen kann ich Ihnen nicht nennen … Wie sollte ich diese Frage wohl beantworten können? … Die Pressekonferenz ist jetzt vorbei … Ich habe gesagt, die Pressekonferenz ist vorbei … Ja, natürlich arbeiten wir auf allen Gebieten mit der Polizei zusammen … Nein, ich sehe keinen Grund dafür, warum wir die Eröffnung der neuen Ausstellung verschieben sollten. Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, daß die Ausstellung ›Aberglaube‹ pünktlich eröffnet werden wird … Wir haben ausgestopfte Löwen, das ist richtig, aber wenn Sie damit andeuten wollen, daß … Sie wurden vor fünfundsiebzig Jahren in Afrika geschossen, Himmel noch mal! Der Zoo? Wir haben keinerlei Verbindungen zum Zoo … Ich werde Ihnen auf weitere Suggestivfragen dieser Art keine Antwort mehr geben … Könnten die Herren von der Washington Post bitte zu schreien aufhören? … Die Polizei befragt die Wissenschaftler, die die Leichen gefunden haben, aber über den Verlauf dieser Gespräche weiß ich nichts … Nein, ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen, außer, daß wir alles in unserer Macht Stehende tun … Ja, es ist tragisch, natürlich ist es das …«
Die Gruppe der Presseleute löste sich auf und strömte an Wright vorbei in die eigentlichen Räume des Museums.
Als sie fort waren, wandte sich Wright ärgerlich an seinen Sicherheitschef. »Wo, zum Teufel, war denn die Polizei?« hörte Margo ihn fauchen. Als er sich umdrehte, sagte er über die Schulter: »Wenn sie Mrs. Rickman sehen, dann sagen Sie ihr, sie soll sofort in mein Büro kommen.« Mit diesen Worten verließ er die Große Rotunde.