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D’Agosta, melden Sie sich!« brüllte Coffey noch einmal in sein Funkgerät. Er wartete, aber es tat sich nichts. »Mist.« Er schaltete um auf den Kanal der Sicherheitszentrale. »Was, zum Teufel, geht hier vor, Garcia?«

»Ich habe keine Ahnung, Sir«, antwortete Garcia nervös. »Ich glaube, Lieutenant D’Agosta hat gemeldet, daß in der Ausstellung eine Leiche –« Garcia verstummte eine Weile. »Sir, ich bekomme gerade die Meldung, daß in der Ausstellung eine Panik ausgebrochen ist. Die Wachleute sind –«

Coffey schnitt ihm das Wort ab und schaltete sich in die anderen Kanäle ein. »Die Leute sind nicht mehr zu halten!« krächzte es aus dem einen. »Eine Leiche, die mit Sicherheit ermordet wurde –« ertönte aus dem nächsten.

Der Agent schaltete wieder zurück zur Sicherheitszentrale. »Garcia, geben Sie eine Meldung an alle Einheiten durch: Sofort mit der Evakuierung sämtlicher Räume beginnen.« Dann drehte er sich so, daß er durch die Große Rotunde und das östliche Portal in die Halle des Himmels blicken konnte.

Er sah, wie durch die Menge dort ein sichtbarer Ruck lief und das Geplapper aus den vielen Mündern verstummte. Die Band spielte zwar immer noch, aber mit ihrer Musik mischten sich jetzt gedämpfte Schreie und das dumpfe Donnern rennender Füße. Die auf den Eingang der Ausstellung gerichtete Bewegung kam zum Erliegen, und die Menge drängte zurück in die Halle wie eine reflektierte Druckwelle. Man schrie wütend und verwirrt durcheinander, und Coffey glaubte, auch jemanden weinen zu hören. Dann stand die Menge einen Augenblick lang still.

Coffey knöpfte seine Jacke auf und wandte sich per Funk an die Agenten des vorgeschobenen Postens. »Leitet sofort Notmaßnahmen ein und seht zu, daß ihr die Menge in den Griff bekommt! Schwärmt aus!«

Plötzlich kam wieder Bewegung in die vielen Menschen, die nun begannen, zum Ausgang zu drängen. Aus der offenen Tür zur Ausstellung waren laute Schreie zu hören. Die Band wurde immer langsamer und hörte schließlich ganz auf zu spielen. Einen Augenblick später rannten die ersten Leute auf den Ausgang zur Großen Rotunde zu.

»Na los, auf deinen Posten, du Trantüte!« sagte Coffey und gab einem seiner Männer einen Stoß in den Rücken. »D’Agosta, hören Sie mich?«

Da die Menge bereits aus der Halle herausströmte, kollidierten Coffeys Agenten mit den vorwärtsdrängenden Menschen und wurden von ihnen zurückgedrängt. Coffey trat keuchend und fluchend ein paar Schritte vor der Mauer aus drängenden Leibern zurück.

»Es ist wie eine Flutwelle«, schrie einer seiner Männer, »wir kommen einfach nicht dagegen an!«

Plötzlich fingen die Lichter an zu flackern. Coffeys Funkgerät begann zu krächzen.

»Hier spricht Garcia. Hören Sie, Sir, hier in der Sicherheitszentrale ist die Hölle los. Die Kontrolltafel leuchtet wie ein Christbaum, und die Warnlämpchen an den Konsolen spielen verrückt!«

Coffey bewegte sich wieder nach vorn und kämpfte gegen die ihm entgegenströmende Menge an. Er hatte seine Agenten aus dem Blickfeld verloren. Die Lichter flackerten ein zweites Mal, und dann hörte er ein dumpfes Grollen aus der Richtung der Halle des Himmels. Coffey blickte nach oben und sah, wie sich die schwere Metalltür langsam von der Decke nach unten senkte.

»Garcia!« brüllte er in sein Funkgerät. »Die östliche Sicherheitstür kommt herunter! Schalten Sie sie ab! Holen Sie sie wieder nach oben, um Gottes willen!«

»Sir, nach den Kontrollampen zu schließen, müßte sie immer noch oben sein. Aber irgendwas ist hier unten nicht in Ordnung. Die ganzen Systeme sind –«

»Es ist mir scheißegal, was die Kontrollampen sagen. Die Tür kommt trotzdem runter!« Die in Panik fliehende Menge wirbelte ihn plötzlich herum. Die Schreie hörten nicht mehr auf, es war ein wehklagendes, durchdringendes Geräusch. So etwas hatte Coffey noch nie erlebt: Rauch, blinkende Notbeleuchtung, Menschen, die über andere Menschen trampelten und vor Panik verzerrte Gesichter hatten. Die Metalldetektoren waren umgeworfen worden, die Röntgengeräte zu Bruch gegangen, und Menschen in Smoking und Abendkleid stürzten hinaus in den strömenden Regen, wobei sie andere umrannten, über den roten Teppich stolperten und aufs tropfnasse Pflaster fielen. Coffey sah, wie draußen erst eines, dann mehrere Blitzlichter aufleuchteten.

»Verdammte Scheiße«, schrie er. Dann brüllte er ins Funkgerät: »Garcia, alarmieren Sie die Polizei draußen auf der Straße. Sie sollen für Ordnung sorgen und die Presse fortschaffen. Und tun Sie was, daß diese beschissene Tür nicht weiter runterkommt!«

»Wir tun, was wir können, Sir, aber alle Systeme sind ausgefallen. Das gesamte Stromnetz ist am Zusammenbrechen. Eigentlich dürften die Sicherheitstüren nicht davon betroffen sein, aber die Steuerung spricht nicht mehr an. Hier geht alles drunter und drüber –«

Ein Mann, der dicht an ihm vorbeidrängte, hätte Coffey um ein Haar umgeworfen, als Garcias Stimme aus dem Funkgerät rief: »Sir! Totaler Zusammenbruch des gesamten Systems!«

»Und was ist mit dem Notsystem, Garcia?« Coffey bahnte sich einen Weg zur Seite, wurde aber gegen die Wand gedrückt. Es hatte keinen Sinn, er konnte nicht gegen diese panisch flüchtende Menge ankämpfen und in die Halle hineingelangen. Die Stahltür war jetzt zur Hälfte heruntergefahren. »Holen Sie mir einen Techniker ans Gerät! Ich brauche den Code, um die Tür manuell bedienen zu können!«

Die Lichter flackerten ein drittes Mal, dann gingen sie ganz aus und tauchten die Rotunde schlagartig in Finsternis. Durch das Geschrei der Menschen konnte Coffey hören, wie sich mit ihrem gleichmäßigen Rumpeln die Tür gnadenlos weiter senkte.

 

Pendergast tastete mit der Hand an der rauhen Abschlußwand einer Sackgasse entlang und klopfte ab und zu mit den Knöcheln sanft dagegen. Im Dämmerlicht – die nackte Glühbirne an der Decke war kaputt – konnte er undeutlich erkennen, daß der Putz an der Wand an vielen Stellen abblätterte.

Pendergast öffnete seine Tasche und holte das gelbe Objekt heraus, das er aus seinem Schreibtisch mitgenommen hatte. Es war ein Bergmannshelm mit daran befestigter Lampe, die Pendergast jetzt einschaltete. Er neigte den Kopf und ließ den starken Lichtstrahl über die Wand vor ihm gleiten. Dann holte er die verknitterten Blaupausen aus der Tasche und betrachtete sie im Lichtkegel. Dann ging er, seine Schritte zählend, rückwärts. An einer bestimmten Stelle blieb er stehen, holte ein Taschenmesser aus der Hosentasche und kratzte mit der Klinge an der Wand herum. Ein etwa eßtellergroßes Stück Putz fiel herunter und gab den Blick auf die Spuren eines alten, zugemauerten Durchgangs frei.

Pendergast schrieb sich etwas in sein Notizbuch, trat aus der Sackgasse heraus und ging den Gang entlang, wobei er wiederum leise seine Schritte zählte. Er blieb vor einem Stapel zerbröckelnder Gipsplatten stehen, den er mit einem Ruck von der Wand fortzog. Das Zeug fiel mit einem lauten Krachen zusammen und wirbelte eine Wolke weißen Staubes auf. Dahinter entdeckte Pendergast im Licht seiner Helmlampe eine kleine, alte Tür, die tief unten in die Wand eingelassen war.

Erwartungsvoll drückte Pendergast gegen die Tür, aber sie bewegte sich nicht. Erst als er mit dem Fuß kräftig dagegentrat, flog sie mit einem lauten Quietschen auf. Hinter ihr führte ein enger Arbeitsschacht steil und schräg nach unten, wo er an der Decke des darunterliegenden Kellergeschosses endete. Pendergast konnte einen kleinen Bach sehen, der sich wie ein tintenschwarzes Band am Boden eines Ganges entlangschlängelte.

Pendergast zog die Tür wieder zu, machte einen Vermerk auf der Blaupause und ging weiter.

Plötzlich hörte er ein gedämpftes Rufen. »Pendergast! Hier ist Dr. Frock. Können Sie mich hören?«

Pendergast blieb stehen und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Er öffnete den Mund, um zu antworten, blieb dann aber wie angewurzelt stehen, weil ihm auf einmal ein seltsamer Geruch in die Nase stieg. Rasch trat er in einen Lagerraum, sperrte die Tür hinter sich zu und knipste das Licht seiner Helmlampe aus. In der Mitte der Tür befand sich ein kleines, schmutziges Fenster aus gesprungenem, von Metalldrähten durchzogenem Glas. Pendergast kramte ein Papiertaschentuch aus seiner Jackettasche, spuckte darauf und wischte damit die Scheibe einigermaßen sauber. Dann spähte er nach draußen. Pendergast hörte ein keuchendes Geräusch, wie von einem rasch und angestrengt atmenden Pferd, und sah, wie sich knapp über dem Boden ein großes, dunkles Etwas den Gang entlangbewegte. Der ekelhafte Geruch wurde stärker. Im schwachen Licht draußen auf dem Gang erblickte Pendergast einen muskulösen Rücken, der mit borstigen, schwarzen Haaren bewachsen war.

Ganz langsam zog Pendergast, der dabei rasch und flach durch die Nase atmete, seine 45er Anaconda aus dem Schulterhalfter. In der Dunkelheit ließ er seine Finger über die Trommel gleiten und überprüfte, ob alle Kammern geladen waren. Dann hielt er den Revolver mit beiden Händen auf die Tür gerichtet und ging langsam ein paar Schritte rückwärts. Als er sich von dem kleinen Fenster fortbewegte, verlor er die Gestalt draußen auf dem Gang aus den Augen, aber er wußte auch so, daß sie nicht weitergegangen war.

Pendergast hörte einen leisen Schlag gegen die Tür, gefolgt von einem Kratzen. Er faßte den Revolver noch fester und sah – oder glaubte zu sehen –, daß von außen langsam der Türgriff gedreht wurde. Ob nun verschlossen oder nicht, diese windige Tür würde das, was sich da draußen befand, nicht lange aufhalten können. Pendergast hörte noch einen gedämpften Schlag, dann war alles still.

Rasch ging er zur Tür und blickte aus dem Fenster. Der Gang schien leer zu sein. Mit einer Hand hielt er den entsicherten Revolver mit dem Lauf nach oben, während er die andere an den Türgriff legte. Er horchte angestrengt und zählte bis fünf. Dann sperrte er schnell die Tür auf, öffnete sie und trat hinaus in die Mitte des Gangs. Am anderen Ende stand eine dunkle Gestalt vor einer anderen Tür. Selbst in dem schwachen Licht konnte Pendergast erkennen, daß sie ein Vierbeiner war, der sich auf die Hinterläufe gestellt hatte. Als Pendergast sah, wie die Kreatur mit einer ihrer Vorderpfoten am Türknauf drehte, hätte er fast laut losgelacht. Da wurde das Licht im Gang plötzlich kurzzeitig schwächer, brannte gleich danach aber wieder normal hell weiter. Pendergast ließ sich auf ein Knie sinken, stützte den Revolver auf und zielte sorgfältig. Das Licht wurde abermals schwächer. Pendergast sah, wie die auf den Hinterbeinen sitzende Kreatur sich in seine Richtung drehte. Er zielte genau auf die Schläfe und atmete langsam aus. Dann betätigte er mit ruhiger Hand den Abzug.

Der Revolver brüllte auf, ein Blitz zuckte aus seiner Mündung, und Pendergast spürte den Rückstoß der schweren Waffe. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah er einen weißen Streifen über den Schädel der Kreatur laufen. Dann war die Gestalt um eine Ecke verschwunden, und der Gang war leer.

Pendergast wußte genau, was passiert war. Er hatte einen solchen weißen Streifen schon einmal am Schädel eines Bären gesehen, auf den er bei einer Jagd geschossen hatte. Damals war die Kugel vom Kopf des Bären abgeprallt, hatte einen Streifen Haut und Fell abgerissen und den weißen Schädelknochen freigelegt. Die Kreatur mußte einen verdammt harten Schädel haben, wenn der sorgfältig gezielte Schuß mit einer stahlummantelten .45er Kugel aus Chromlegierung davon abprallte wie die Erbse aus einer Kinderpistole. Pendergast sackte erschöpft nach vorn und ließ die Hand mit dem Revolver sinken, als das Licht zum dritten Mal flackerte und schließlich ganz erlosch.