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Als Margo in die Große Rotunde kam, ging es zu wie in einem Taubenschlag: Ständig kamen Leute herein, schüttelten ihre tropfnassen Regenschirme aus und schwatzten aufgeregt, in kleinen und großen Gruppen zusammenstehend, miteinander, wobei ihr Geschnatter sich mit dem Stimmengebrodel mischte, das etwas weiter entfernt aus der Halle des Himmels drang. Margo schob Frock zu einer Absperrung aus roter Samtkordel neben den Metalldetektoren, wo ein Polizist Wache stand. Die Halle des Himmels dahinter war in gelbes Licht getaucht, und ein riesiger Leuchter an der Decke schickte Regenbogen in den Raum.

Die beiden zeigten dem Polizisten ihre Museumsausweise, der daraufhin die rote Kordel aushängte und sie passieren ließ, nicht ohne vorher jedoch Margos Umhängetasche zu inspizieren. Im Vorbeigehen bemerkte Margo, daß der Polizist ihr einen komischen Blick zuwarf. Als sie daraufhin an sich hinabblickte, stellte sie fest, daß sie immer noch Jeans und Pullover anhatte.

»Beeilung!« rief Frock. »Nach vorn, zu den Referenten. Es sieht so aus, als wollten sie jeden Moment anfangen.«

Das Podium mit dem Rednerpult befand sich am anderen Ende der Halle vor dem Eingang zur Ausstellung. Die handgeschnitzten Türen, über denen aus Knochen geformte Lettern das Wort ABERGLAUBE bildeten, wurden von einer massiven Kette versperrt. Beiderseits der Tür standen hölzerne Stelen, die an große Totempfähle oder Säulen aus einem heidnischen Tempel erinnerten. Margo sah, daß Wright und Cuthbert oben auf dem Podium fröhlich mit dem Bürgermeister plauderten, während ein Tontechniker die letzten Handgriffe an den Mikrofonen vornahm. Hinter ihnen stand Ippolito inmitten einer Gruppe von Hilfskräften und gestikulierte, während er in sein Funkgerät sprach, wütend jemandem zu, den Margo nicht sehen konnte. Die Lautstärke in der Halle war fast unerträglich.

»Entschuldigen Sie!« bellte Frock, und die Leute rückten widerwillig zur Seite.

»Sehen Sie sich bloß all die Menschen an«, rief er nach hinten zu Margo. »Die Halle muß voller Lockstoffe für die Kreatur sein, daß sie der Versuchung bestimmt nicht widerstehen kann.«

Frock deutete nach einer Seite. »Sehen Sie – da ist Gregory!« Er winkte zu Kawakita, der mit einem Glas in der Hand am Rand der Tanzfläche stand.

Der Assistenzkurator bahnte sich einen Weg zu ihnen. »Da sind Sie ja, Dr. Frock. Man hat Sie schon überall gesucht. Gleich geht die Feier los.«

Frock packte Kawakita am Arm. »Gregory!« rief er. »Sie müssen uns helfen! Die Veranstaltung muß sofort abgesagt und das Museum auf der Stelle evakuiert werden.« »Wie bitte?« fragte Kawakita. »Soll das ein Witz sein?« Er schaute erst Margo, dann Frock fragend an.

»Greg«, sagte Margo so laut, daß sie den allgemeinen Lärm übertönte. »Wir haben herausgefunden, was die Morde begangen hat. Es ist kein Mensch, sondern ein Tier, eine der Wissenschaft bisher vollkommen unbekannte Kreatur. Ihr Extrapolationsprogramm hat uns dabei geholfen, sie zu identifizieren. Dieses Geschöpf ernährt sich von den Fasern, die als Packmaterial in den Kisten der Whittlesey-Expedition waren. Wenn es die nicht bekommt, braucht es den menschlichen Hypothalamus als Ersatz dafür. Wir glauben, daß es regelmäßig seine Dosis an Hormonen braucht und –«

»Moment, Moment. Langsam, bitte, Margo. Wovon sprechen Sie überhaupt?«

»Verdammt noch mal, Gregory!« donnerte Frock los. »Wir haben jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. Wir müssen dafür sorgen, daß diese Halle sofort evakuiert wird!«

Kawakita trat einen Schritt zurück. »Dr. Frock, bei allem gebührenden Respekt –«

Frock packte Kawakitas Arm noch fester und sagte langsam und deutlich: »Gregory, hören Sie mir bitte genau zu. In diesem Museum läuft eine entsetzliche, höchst gefährliche Kreatur frei herum. Sie hat den Drang zu töten, und sie wird es heute abend wieder tun. Wir müssen die Leute hier herausschaffen.«

Kawakita trat einen weiteren Schritt zurück und sah nach vorn zum Podium. »Tut mir leid«, sagte er durch das Stimmengewirr. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, aber wenn Sie mein Extrapolationsprogramm für einen schlechten Scherz mißbraucht haben –« Er wand seinen Arm aus Frocks Griff. »Ich denke wirklich, daß Sie jetzt nach vorn fahren sollten, Dr. Frock. Man wartet dort auf Sie.«

»Greg –« versuchte Margo zu sagen, aber Kawakita war bereits ein paar Schritte weitergegangen und sah die beiden erwartungsvoll an.

»Los, nach vorn zum Podium!« befahl Frock. »Wright kann es tun. Er kann dafür sorgen, daß die Halle evakuiert wird.« Plötzlich hörten sie einen Trommelwirbel, gefolgt von einer Fanfare.

»Henry!« rief Frock und fuhr mit dem Rollstuhl auf die freie Fläche vor dem Podium. »Henry, hören Sie mir zu! Wir müssen sofort die Halle evakuieren!«

In diesem Augenblick endete der Fanfarenstoß, und Frocks letzte Worte ertönten direkt in die darauf folgende Stille.

»Im Museum treibt eine mörderische Kreatur ihr Unwesen!« rief Frock so laut, daß es alle hören konnten.

In der Menge erhob sich ein nervöses Gemurmel. Diejenigen, die Frock am nächsten standen, traten zurück, sahen sich an und flüsterten sich leise etwas zu.

Wright sah Frock böse an, während sich Cuthbert aus der Gruppe löste. »Frock!« zischte er. »Was, in drei Teufels Namen, machen Sie bloß?« Er sprang vom Podium und eilte auf den Rollstuhl zu.

»Was ist denn bloß mit Ihnen los? Sind Sie jetzt komplett verrückt geworden?« fragte er in einem bösen Flüsterton.

Frock zog Cuthbert heran und senkte die Stimme. »Ian, hier im Museum schleicht eine gefährliche Kreatur herum. Ich weiß, daß wir uns nicht immer grün waren, aber bitte, vertrauen Sie mir jetzt. Sagen Sie Wright, daß wir die Leute hier herausschaffen müssen. Und zwar sofort!«

Cuthbert sah Frock durchdringend an. »Ich weiß nicht, wie Sie sich das vorstellen«, sagte der Schotte. »Und was hier gespielt wird, weiß ich noch viel weniger. Vielleicht ist das ein verzweifelter Versuch, in letzter Minute die Ausstellung zu sabotieren und mich der Lächerlichkeit preiszugeben. Aber ich will Ihnen mal eines sagen, Frock: Noch einen solchen Ausfall von Ihrer Seite, und ich werde Sie von Mr. Ippolito gewaltsam hinausbringen lassen. Außerdem werde ich dafür sorgen, daß Sie nie wieder einen Fuß in dieses Museum setzen.«

»Ian, ich flehe Sie an –«

Cuthbert drehte sich um und ging wieder zurück zum Podium.

Margo legte Frock eine Hand auf die Schulter. »Lassen Sie«, sagte sie ruhig. »Sie werden uns nicht glauben. Ich wünschte, George Moriarty wäre hier und könnte uns helfen. Eigentlich müßte er ja irgendwo sein, schließlich ist es ja seine Ausstellung. Aber ich habe ihn bisher noch nirgendwo gesehen.«

»Was sollen wir bloß machen?« fragte Frock, der vor lauter Enttäuschung zitterte. Die Gäste in ihrer Nähe nahmen ihre Unterhaltungen wieder auf, sie hielten den Vorfall offensichtlich für eine Art gelungenen Scherz.

»Ich finde, wir sollten Pendergast suchen«, sagte Margo. »Er ist der einzige mit genügend Machtbefugnis, um jetzt noch etwas zu unternehmen.«

»Der wird uns auch nicht glauben«, sagte Frock frustriert.

»Vielleicht nicht sofort«, entgegnete Margo und drehte den Rollstuhl herum. »Aber er wird uns wenigstens anhören. Wir müssen uns beeilen –«

Hinter ihnen gab Cuthbert der Band ein Zeichen, und ein weiterer Trommelwirbel ertönte. Dann trat er ans Rednerpult, breitete die Arme aus und sagte:

»Ladies and Gentlemen! Ich habe die große Ehre, Ihnen den Direktor des New York Museum of Natural History vorzustellen, Mr. Henry A. Wright!«

Margo blickte sich um und sah, wie Wright lächelnd ans Rednerpult trat und der Menge zuwinkte.

»Herzlich willkommen!« rief er ins Mikrofon. »Willkommen, Freunde des Museums, liebe Mitbürger von New York und Gäste aus aller Welt! Ich begrüße Sie aufs herzlichste zur Eröffnung der größten Ausstellung, die es in diesem Museum jemals zu sehen gab!« Wrights Worte hallten, von der Lautsprecheranlage verstärkt, durch den ganzen Saal. Donnernder Applaus stieg zum Deckengewölbe.

»Lassen Sie uns in der Kommandozentrale anrufen«, sagte Margo. »Die müssen wissen, wo Pendergast ist. Draußen in der Rotunde sind ein paar Telefone.«

Während sie Frock zum Ausgang schob, konnte sie Wrights Stimme aus den Lautsprechern dröhnen hören: »Diese Ausstellung befaßt sich mit unserem innersten Glauben, der uns allen innewohnenden Urangst, mit den hellen und den dunklen Seiten der menschlichen Seele …«