54

Smithback richtete die Taschenlampe nach vorn, aber ihr Strahl schien die Dunkelheit kaum durchdringen zu können. D’Agosta ging, den Revolver in der Hand, ein paar Schritte vor ihm her. Das niedrige Gewölbe des Stollens schien kein Ende zu nehmen, und dunkles Wasser floß an ihnen vorbei in die Dunkelheit. Entweder führte der Stollen immer noch nach unten, oder der Wasserspiegel war weiter angestiegen, dachte Smithback, der die Strömung jetzt schon an seinen Oberschenkeln spürte.

Er drehte sich zu D’Agosta um, dessen derbes, grimmig dreinblickendes Gesicht noch immer von Baileys Blut verschmiert war.

»Ich kann nicht mehr weiter«, beklagte sich jemand von hinten, und gleich darauf konnte Smithback die Stimme des Bürgermeisters hören – es war eine perfekte Politikerstimme, fand er, die in beruhigendem und vertrauenerweckendem Ton jedermann das sagte, was er gerne hören wollte. In einer Situation wie dieser war er Gold wert. Smithback blickte sich verstohlen nach den niedergeschlagenen Leuten um. Es waren schlanke, juwelengeschmückte Frauen in ihren langen Abendkleidern, Geschäftsmänner um die Fünfzig in arg mitgenommenen Smokings und ein Häufchen Yuppies aus den großen Geschäftsbanken und Börsenmaklerfirmen an der Wall Street. Smithback kannte ihre Gesichter mittlerweile auswendig und hatte jedem einzelnen von ihnen im Geiste schon einen Namen und einen Beruf zugewiesen. Da stapften sie nun, reduziert auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, grün von Algen und Wasserschleim, durch einen dunklen Tunnel, in dem eine entsetzliche Kreatur gnadenlos Jagd auf sie machte.

Smithback hatte ebensoviel Angst wie alle anderen auch, aber bisher hatte er sich seinen klaren Verstand bewahren können. Als ihm bewußt geworden war, daß die Gerüchte über das Museumsmonster grausige Wirklichkeit waren, hatte er einen Augenblick lang eine eiskalte, fast panikartige Furcht verspürt. Jetzt aber, müde und naß wie er war, hatte er weniger Angst vor dem Sterben als davor, nicht mehr lange genug am Leben zu bleiben, um sein Buch fertigschreiben zu können. Er fragte sich, ob er mutig, geldgierig oder schlicht und einfach dumm war. Was immer auch zutreffen mochte, eines wußte er genau: Wenn er das hier unten überlebte, dann war er ein gemachter Mann. Buchpräsentationsparty im teuersten Nobelrestaurant, jede Menge prominenter Gäste und ein ausführliches Feature in den Abendnachrichten. Niemand konnte diese Story so schreiben wie er, denn keiner der anderen Journalisten hatte sie am eigenen Leib miterlebt. Die Talkshows würden sich um ihn reißen, und in allen Medien würde man ihn wie einen Helden feiern. Er, William Smithback Junior war dem Monster ganz allein, nur mit einer Taschenlampe bewaffnet, gegenübergestanden, während D’Agosta hinter ihm das Schloß aufgeschossen hatte. Er, Smithback, hatte den Einfall gehabt, mit der Taschenlampe die Tür zu blockieren. Er war Lieutenant D’Agostas rechte Hand in diesen dramatischen Stunden.

»Leuchten Sie doch mal da oben links hin«, holte D’Agostas Stimme ihn aus seinen Gedanken, und Smithback kam dem Befehl sofort nach. Da war nichts.

»Ich dachte, es hätte sich was bewegt«, murmelte D’Agosta.

»Muß wohl ein Schatten gewesen sein.«

Bitte, lieber Gott, dachte Smithback, laß mich meinen Erfolg noch erleben.

»Bilde ich mir das nur ein, oder wird das Wasser wirklich tiefer?« fragte er D’Agosta.

»Es wird tiefer, und es fließt schneller«, antwortete dieser. »Und außerdem verzweigt sich der Tunnel vor uns schon wieder. Pendergast hat mir nicht gesagt, wie wir weitergehen sollen.« »Das hat er nicht?« Smithback hatte auf einmal ein äußerst flaues Gefühl im Magen.

»Ich hätte ihn von der zweiten Abzweigung aus wieder anfunken sollen«, sagte D’Agosta. »Aber ich habe mein Funkgerät irgendwo auf der anderen Seite der Tür verloren.«

Smithback spürte einen stärkeren Schwall Wasser von hinten und hörte gleichzeitig einen Schrei und ein Platschen.

»Nichts passiert«, sagte der Bürgermeister, als Smithback mit der Taschenlampe nach hinten leuchtete. »Jemand ist hingefallen. Die Strömung wird immer stärker.«

»Wir dürfen denen nicht sagen, daß wir nicht wissen, wie es weitergeht«, sagte Smithback flüsternd zu D’Agosta.

 

Margo riß die Tür zur Sicherheitszone auf, sah vorsichtig in den Gang hinein und nickte Pendergast zu. Der Agent ging rasch hinein und zog das Bündel hinter sich her.

»Schließen Sie es im Lagerraum mit den Whittlesey-Kisten ein«, sagte Frock. Wir müssen das Wesen so lange hier drin halten, daß wir die Tür hinter ihm zumachen können. Margo öffnete den Lagerraum, während Pendergast mit dem Bündel ein verschlungenes Muster auf den Boden vor dem Raum zeichnete. Als er fertig war, legten sie das Bündel in den Lagerraum mit den Kisten und verschlossen die Tür.

»Schnell!« drängte Margo, »auf die andere Seite des Ganges!« Sie ließen die Haupttür zur Sicherheitszone offen und gingen in den Lagerraum für Elefantenknochen auf der anderen Seite des Ganges. Das kleine Fenster in der Tür war offensichtlich schon vor langer Zeit kaputtgegangen und durch ein Stück Pappendeckel ersetzt worden. Margo öffnete die Tür mit Frocks Schlüssel, und Pendergast schob den Rollstuhl in den Lagerraum. Margo schaltete Pendergasts Taschenlampe auf kleine Stufe und legte sie auf den Schließarm außen an der Tür, wobei sie den schwachen Lichtstrahl hinüber auf die Sicherheitszone richtete. Dann stach sie mit einem Kugelschreiber ein kleines Loch in den Pappendeckel vor dem Fenster, sah sich noch einmal im Gang um und ging hinein zu den anderen.

Der Lagerraum war groß, stickig und voller Elefantenknochen. Die meisten Skelette waren auseinandergenommen, ihre großen Knochen lagen aufeinandergestapelt wie überdimensionale Holzscheite in den dunklen Regalen. In einer Ecke des Raums stand ein zusammengesetztes Skelett wie ein düsterer Käfig aus Knochen, aus dem zwei gebogene, weiß schimmernde Stoßzähne hervorragten.

Pendergast verschloß die Tür und schaltete die Bergarbeiterlampe auf seinem Helm aus. Der Lagerraum lag nun in völliger Dunkelheit. Durch das Loch in dem Pappendeckel hatte Margo einen guten Blick auf die offene Tür der Sicherheitszone.

»Sehen Sie auch mal«, sagte sie zu Pendergast und ging einen Schritt zurück.

Pendergast trat an das Guckloch. »Ausgezeichnet«, sagte er, nachdem er kurze Zeit hinausgesehen hatte. »Solange die Batterien der Taschenlampe durchhalten, ist das die perfekte Falle.« Er trat von der Tür zurück. »Wieso wußten Sie eigentlich so genau, daß es diesen Raum hier gibt?« fragte er neugierig. Margo lachte schüchtern. »Als Sie uns am Mittwoch in die Sicherheitszone brachten, sah ich das Schild, auf dem ›Dickhäuter‹ stand und wunderte mich, daß man einen Elefantenschädel überhaupt durch diese schmale Tür bringen konnte.« Sie trat wieder vor. »Ich übernehme die Wache«, sagte sie. »Und Sie halten Ihre Waffe für alle Fälle schußbereit.«

In der Dunkelheit hinter ihnen räusperte sich Frock und fragte:

»Mr. Pendergast?«

»Ja?«

»Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie so etwas frage, aber wie gut können Sie eigentlich mit diesem Revolver umgehen?«

»Vor dem Tod meiner Frau«, antwortete der Agent, »war ich jeden Winter mehrere Wochen auf Großwildjagd in Ostafrika und der Mongolei. Meine Frau war eine passionierte Jägerin.« »Ach so«, sagte Frock erleichtert. »Diese Kreatur ist zwar bestimmt recht schwer zu erlegen, aber völlig unmöglich ist es meiner Meinung nach nun auch wieder nicht. Ich war wegen meines Leidens nie selbst auf der Jagd, aber dennoch könnte ich Ihnen vielleicht helfen, die Kreatur zur Strecke zu bringen.« »Leider bin ich mit diesem Revolver hier ein wenig gehandikapt«, sagte Pendergast. »Er hat zwar für eine Handfeuerwaffe eine ziemlich hohe Durchschlagskraft, aber man kann ihn natürlich nicht mit einem richtigen Jagdgewehr vergleichen. Es wäre mir allerdings eine große Hilfe, wenn Sie mir sagen könnten, wo das Wesen Ihrer Meinung nach am verwundbarsten sein dürfte.«

»Nach den Computerergebnissen können wir annehmen, daß es sehr kräftig gebaute Knochen hat. Wie Sie ja bereits festgestellt haben, sind Schüsse auf seinen Kopf praktisch wirkungslos. Aber auch mit einem Treffer im oberen Schulterbereich oder der Brust kann man es vermutlich nicht töten, denn dort dürfte die Kugel mit ziemlicher Sicherheit in den starken Muskeln und Knochen steckenbleiben, bevor sie ins Herz dringen kann. Wenn Sie es allerdings seitlich erwischen könnten, wäre es eventuell möglich, knapp unterhalb seiner Vorderbeine ins Herz zu treffen, aber auch nur dann, wenn die Rippen nicht so stark ausgebildet sind wie die restlichen Knochen der Kreatur. Wenn ich so richtig darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluß, daß wohl keines seiner lebenswichtigen Organe sonderlich verwundbar sein dürfte. Sicher, wenn Sie ihm einen Bauchschuß verpassen, geht es möglicherweise auf lange Sicht gesehen daran ein, aber bestimmt nicht, bevor es sich bitterlich an Ihnen gerächt hat.«

»Auch nicht gerade ein beruhigender Gedanke«, sagte Pendergast.

Frock fuhr in der Dunkelheit rastlos mit seinem Rollstuhl hin und her. »Blöde Geschichte, das gebe ich selber zu.«

Eine Weile sagte niemand etwas. Dann meldete sich Pendergast wieder zu Wort: »Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit.«

»Und die wäre?« fragte Frock neugierig.

»Vor ein paar Jahren haben meine Frau und ich in Tansania Buschböcke gejagt. Wie so oft waren wir ohne Träger unterwegs und hatten zudem als einzige Waffen nur leichte Jagdgewehre dabei. Da griff uns auf einmal aus dem Unterholz am Ufer eines Flusses ein großer Kaffernbüffel an, der ein paar Tage zuvor vermutlich von einem Wilderer angeschossen worden war. Diese Büffel sind wie Maultiere, sie vergessen nie, was man ihnen angetan hat, und Menschen mit Gewehren unterscheiden sich in ihren Augen nicht allzusehr voneinander.«

Margo fand es irgendwie irreal und absurd, hier in der Dunkelheit auf die Ankunft einer alptraumhaften Kreatur zu warten und dabei Pendergast zuzuhören, wie der in seiner gemächlichen Art eine Jagdgeschichte zum besten gab.

»Normalerweise erlegt man so einen Büffel mit einem Schuß in den Schädel knapp unterhalb der Hörneransätze«, sagte Pendergast. »Aber dazu war das Kaliber unserer Gewehre einfach zu schwach. Und so wandte meine Frau, die eine bessere Schützin als ich war, die einzige Taktik an, die einem Jäger in einer solchen Situation noch bleibt. Sie kniete nieder und schoß den Büffel langsam zusammen.«

»Was meinen Sie mit Zusammenschießen?«

»Man gibt dabei keinen tödlichen Schuß ab, sondern zielt auf die Fesseln, die Vorderbeine, die Knie und versucht, so viele Knochen kaputtzuschießen, daß das Tier sich nicht mehr fortbewegen kann.«

»Verstehe«, sagte Frock.

»Diese Methode hat nur einen Haken«, sagte Pendergast.

»Und der wäre?«

»Man muß dazu ein verdammt guter Schütze sein. Präzises Zielen ist dabei das A und O. Man muß ganz ruhig und gefaßt bleiben und immer zwischen zwei Herzschlägen abdrücken – und das, während ein wildes Tier frontal auf einen zugerast kommt. Damals hatten wir beide gerade genügend Zeit, um jeweils vier Schüsse abzugeben. Ich machte den Fehler, auf die Brust zu schießen, und merkte erst, nachdem ich zweimal getroffen hatte, daß die Kugeln in den dicken Muskeln dort einfach steckenblieben. Erst dann zielte ich auf die Beine. Ein Schuß ging vorbei, und der andere war ein Streifschuß, der keinen Knochen brach.« Pendergast schüttelte den Kopf. »Es war eine erbärmliche Vorstellung.«

»Und wie ging die Sache aus?« fragte Frock.

»Meine Frau schoß auch viermal und landete drei Treffer, mit denen sie dem Büffel beide vorderen Mittelfußknochen und ein vorderes Schienbein zerschmetterte. Der Büffel fiel hin, überschlug sich und blieb ein paar Meter vor uns liegen. Er war zwar noch am Leben, dafür aber bewegungsunfähig. Schließlich gab ich ihm aus nächster Nähe den Gnadenschuß.«

»Ich wünschte, Ihre Frau wäre jetzt hier«, sagte Frock.

Pendergast schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich auch.«

Danach sagte längere Zeit niemand mehr etwas.

»Nun gut«, ergriff Frock schließlich wieder das Wort. »Jetzt weiß ich, was Sie von mir wissen wollen. Wenn Sie die Kreatur bewegungsunfähig schießen wollen, sollten Sie ein paar Eigenheiten ihres Körperbaus mit ins Kalkül ziehen. Die obere hintere Körperpartie bis hinunter zum Mittelfußknochen dürfen Sie dabei getrost vergessen, denn die ist durch Hornplatten oder Schuppen bestimmt sehr gut geschützt.«

»Verstehe.«

»Sie müßten also ziemlich tief zielen, auf die Phalanx prima oder secunda.«

»Also praktisch auf die Zehen«, sagte Pendergast.

»Ja. Bei einem Pferd wären das die Fesseln. Zielen Sie knapp unter das unterste Gelenk, das scheint mir noch am verwundbarsten zu sein.«

»Das genau zu treffen dürfte aber äußerst schwierig sein. Praktisch unmöglich, wenn das Wesen direkt auf mich zukommt.«

»Das Problem ist«, sagte Frock, »daß es sich möglicherweise auf die Hinterbeine stellen und, wie ein Bär oder ein fleischfressender Dinosaurier, kurze Strecken auf zwei Beinen hinter sich bringen kann. Sie müssen also mindestens ein Hinterbein kaputtschießen.«

Einen Augenblick war alles ruhig. Margo blickte weiter durch ihr Guckloch, sah aber nichts.

»Nun denn«, sagte Frock, »ich glaube, daß die Vorderbeine des Wesens etwas verwundbarer sein dürften. Der Extrapolator hat sie als etwas weniger robust beschrieben. Die Fußwurzelknochen, die Mittelfußknochen und die Knie müßte man eigentlich mit einem direkten Treffer zerschmettern können.«

»Nun, das sind alles ziemliche Meisterschüsse, die Sie da von mir verlangen, Dr. Frock«, sagte Pendergast. »Wie oft müßte ich denn treffen, um die Kreatur bewegungsunfähig zu schießen?«

»Das ist schwer zu sagen. Aber beide Vorderbeine und mindestens ein hinteres müßten es schon sein, fürchte ich. Und selbst dann könnte es sich wohl noch kriechend vorwärtsbewegen.« Frock mußte husten. »Meinen Sie, daß Sie das schaffen könnten?«

»Um überhaupt eine Chance zu haben, bräuchte ich, wenn das Wesen mich angreift, mindestens hundertfünfzig Meter freies Schußfeld. Am besten wäre es natürlich, wenn ich ihm den ersten Treffer verpassen könnte, solange es mich noch nicht entdeckt hätte. Das würde es von Anfang an etwas langsamer machen.«

Frock dachte einen Augenblick lang nach. »Das Museum hat eine Reihe von langen, geraden Gängen, die drei- bis vierhundert Meter lang sind. Unglücklicherweise sind jetzt die meisten davon durch diese verdammten Sicherheitstüren in zwei Hälften geteilt. Aber dennoch glaube ich, daß es in Zelle zwei zumindest einen noch ganz durchgehenden Gang geben müßte. Er ist im ersten Stock, in Sektion achtzehn, direkt neben dem Computerraum.«

Pendergast nickte. »Ich werde es mir merken, für den Fall, daß unser Plan schiefgeht.«

»Still! Ich höre etwas!« zischte Margo.

Frock und Pendergast verstummten. Pendergast trat näher an die Tür heran.

»Ich habe gerade am Ende des Ganges einen Schatten gesehen«, flüsterte Margo.

Wieder waren sie alle lange still. Margo konnte das leise Klicken hören, mit dem Pendergast seinen Revolver entsicherte.

»Es ist da«, hauchte Margo. »Ich kann es sehen.« Dann flüsterte sie noch viel leiser: »O mein Gott!«

»Gehen Sie von der Tür weg«, hauchte Pendergast Margo ins Ohr.

Sie trat einen Schritt zurück und traute sich kaum zu atmen. »Was macht es?« flüsterte sie.

»Es ist an der Tür zum Sicherheitsbereich stehengeblieben«, antwortete Pendergast ruhig. »Ist ganz kurz drinnen gewesen und gleich wieder herausgekommen. Jetzt sieht es sich um und schnüffelt in der Luft herum.«

»Wie sieht es aus?« fragte Frock in dringlichem Ton.

Pendergast zögerte einen Moment, bevor er antwortete. »Diesmal sehe ich es besser. Es ist groß und breit. Warten Sie, jetzt dreht es sich zu mir her – Gütiger Gott, das ist ja ein gräßlicher Anblick – das Gesicht ist ganz flach – kleine, rote Augen. Am Oberkörper ein dünner Pelz. Genau wie bei der Figur von Mbwun. Moment – einen Moment mal – es kommt hier herüber.«

Margo bemerkte, daß sie bis an die Wand zurückgewichen war. Ein schnüffelndes Geräusch war durch die Tür zu hören, gefolgt von dem verrotteten, ekelhaften Geruch. Margo glitt zu Boden. In der Dunkelheit schien das Licht von Pendergasts Taschenlampe draußen im Gang wie ein winziger, weit entfernter Stern durch das Guckloch herein. Sternenlicht, sagte eine leise Stimme in Margos Kopf.

Und dann fiel ein Schatten auf das Guckloch, und alles war auf einmal stockdunkel.

Etwas drückte sich weich gegen die Tür, deren altes Holz knarzte. Der Türknauf wurde herumgedreht, dann folgte eine lange Stille. Auf einmal gellte ein scharfes Knacken durch den Raum, als sich die Kreatur mit voller Wucht gegen die Tür warf. Die Stimme in Margos Kopf verschaffte sich auf einmal Gehör. »Schalten Sie Ihre Helmlampe an, Pendergast!« platzte sie heraus. »Los, leuchten Sie dem Monster direkt ins Gesicht!«

»Wovon sprechen Sie überhaupt?«

»Es ist doch nachtaktiv, erinnern Sie sich? Vielleicht kann es Licht nicht ausstehen.«

»Da könnte was dran sein!« rief Frock.

»Bleiben Sie zurück!« befahl Pendergast. Margo hörte ein leises Klicken, und das grelle Licht der Bergarbeiterlampe erhellte den Raum. Einen Augenblick lang mußte Margo die Augen schließen, und als sie sie wieder öffnete, sah sie, daß Pendergast sich auf den Boden gekniet und seinen Revolver auf die Tür gerichtet hatte, die jetzt voll im Lichtkegel seiner Helmlampe lag.

Mit einem knirschenden Geräusch wölbte sich die obere Hälfte des Türblatts so weit nach innen, daß sie mit einem lauten Knall zerbarst.

Pendergast blieb ruhig knien und zielte über den Lauf des Revolvers hinweg.

Mit lautem Krachen gab jetzt der Rest der Tür nach und schwang an seinen verbogenen Angeln nach innen. Margo preßte sich so fest an die Wand, daß ihre Wirbelsäule aus Protest knackte. Sie hörte, wie Frock einen gleichermaßen erstaunten wie erschrockenen Schrei ausstieß. Das Wesen blieb geblendet in der Tür stehen, während seine monströse Gestalt von dem gebündelten Licht grell angeleuchtet wurde. Dann schüttelte es den Kopf, gab ein kehliges Brüllen von sich und verschwand.

»Bleiben Sie, wo Sie sind«, rief Pendergast und trat vorsichtig über die Trümmer der Tür hinweg hinaus in den Gang. Gleich darauf hörte Margo einen Schuß, dem unmittelbar ein zweiter folgte. Dann war alles still. Es schien Margo eine Ewigkeit zu dauern, bis Pendergast zurückkam. »Es ist im Treppenhaus am Ende des Ganges verschwunden und nach oben gelaufen.«

Pendergast zeigte auf den Boden des Ganges. Eine dünne Spur aus roten Tropfen führte den Gang entlang und um die Ecke. »Das ist Blut«, sagte Frock und beugte sich ächzend nach vorne. »Sie haben es also getroffen!«

Pendergast zuckte mit den Achseln. »Schon möglich. Aber dann war ich nicht der erste. Sehen Sie, daß es hier zwei von diesen Blutspuren gibt? Lieutenant D’Agosta oder einer seiner Leute muß das Monster schon vor uns verwundet, aber nicht außer Gefecht gesetzt haben. Es konnte noch erstaunlich schnell weglaufen.«

Margo sah Frock an. »Warum ist es denn nicht in unsere Falle gegangen?«

Frock erwiderte ihren Blick. »Wir haben es hier mit einem Wesen von hochentwickelter Intelligenz zu tun.«

»Wollen Sie damit sagen, daß es unseren Plan durchschaut hat?« fragte Pendergast mit einem leicht skeptischen Unterton. »Wären Sie denn auf diese Falle hereingefallen, Pendergast?« Der FBI-Agent war still. »Vermutlich nicht«, sagte er nach einer Weile.

»Nun«, sagte Frock, »wir haben offensichtlich die Intelligenz dieses Wesens unterschätzt. Wir müssen aufhören, von ihm als von einem dummen Tier zu reden. Es kann sich in puncto Intelligenz offensichtlich mit einem Menschen messen. Wenn es stimmt, daß die Leiche in der Ausstellung richtiggehend versteckt war, dann ist dem Wesen vermutlich bewußt, daß man es jagt und daß es deshalb sein Opfer nicht offen herumliegen lassen darf. Außerdem –« Frock zögerte einen Augenblick. »Außerdem glaube ich, daß wir es hier mit mehr als dem simplen Verlangen nach einem Hormon zu tun haben. Das ist möglicherweise für den Augenblick sogar befriedigt, schließlich hat dieses Wesen heute abend ja genügend Menschen den Hypothalamus aus dem Kopf gefressen. Aber man hat auf dieses Wesen geschossen und es dabei auch verletzt. Denken Sie an Ihre Geschichte mit dem Büffel, und glauben Sie mir: Das Wesen ist nun nicht mehr bloß gierig auf sein Hormon, sondern darüber hinaus auch noch furchtbar wütend

»Und deshalb ist es jetzt losgezogen, um seinen Durst nach Rache zu stillen«, sagte Pendergast ruhig.

Frock bewegte sich nicht. Erst nach einer Weile nickte er kaum wahrnehmbar.

»Aber hinter wem ist es jetzt her?« fragte Margo.

Keiner der beiden antwortete ihr.