31
Tödliche Stille herrschte im Büro des Direktors, in dem Mrs. Lavinia Rickman auf einem Lehnstuhl aus weinrotem Leder saß. Durch die Doppelverglasung der Turmfenster drang nicht einmal der Verkehrslärm von der Straße zwei Stockwerke weiter unten herein. Wright selbst saß an seinem riesigen Schreibtisch aus Mahagoni, der ihn direkt klein wirken ließ. Hinter ihm blickte ein Porträt, das Sir Joshua Reynolds von Ridley für A. Davis, den Gründer des Museums, gemalt hatte, düster von der Wand.
Dr. Ian Cuthbert hatte sich auf einem Sofa an der gegenüberliegenden Wand niedergelassen und beugte sich, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, nach vorn. Sein Tweedanzug hing lose um seinen mageren Körper. Cuthbert, der ohnehin ziemlich humorlos und leicht reizbar war, blickte an diesem Nachmittag besonders finster drein.
Schließlich brach Wright das Schweigen.
»Heute nachmittag hat er schon zweimal angerufen«, blaffte er Cuthbert an. »Ich kann ihm nicht ewig aus dem Weg gehen. Früher oder später wird er einen Riesenaufstand machen, weil du ihm den Zugang zu diesen Kisten verweigerst. Womöglich hängt er dann diese Mbwun-Sache auch noch an die große Glocke. Aber auf jeden Fall wird es Streit geben, soviel ist gewiß.«
Cuthbert nickte. »Na und, dann gibt es eben Streit. Im Moment ist doch bloß wichtig, daß wir Zeit gewinnen. Wenn die Ausstellung erst einmal eröffnet ist, von der Presse gelobt wird und wir vierzigtausend zahlende Besucher am Tag haben, kann Frock von mir aus so lange Stunk machen, wie er nur will.«
Wieder waren alle lange still.
»Ich will mich zwar hier nicht zum Propheten aufspielen«, ergriff Cuthbert nach einer Weile das Wort, »aber wenn sich erst mal die ganze Aufregung gelegt hat, wird das Museum einen großen Anstieg der Zuschauerzahlen zu verzeichnen haben, dessen bin ich mir sicher. Die Gerüchte um diesen Fluch sind momentan zwar möglicherweise lästig, aber wenn der Mörder erst mal gefaßt ist, kommen die Leute massenweise ins Museum, um die Mbwun-Figur mit eigenen Augen zu sehen und dabei wohlig zu erschaudern. Ab dem Moment wird der Fluch für uns zum Bombengeschäft. Ich sage dir, Henry, wir hätten es gar nicht besser einfädeln können.«
Wright sah seinen Stellvertreter stirnrunzelnd an. »Wer sagt dir denn, daß es sich bei dem Fluch bloß um Gerüchte handelt? Vielleicht ist ja doch mehr dahinter, sieh dir doch bloß mal die Katastrophen an, die dieser häßlichen kleinen Figur um den halben Erdball gefolgt sind.« Er lachte nervös.
»Das meinst du doch nicht ernst«, sagte Cuthbert.
»Ich sage dir, was ich ernst meine«, fauchte Wright. »Ich will nicht, daß du dich Frock gegenüber jemals wieder so aufführst. Der Mann hat Freunde in wichtigen Positionen. Wenn er denen etwas von der Sache erzählt – nun, du weißt ja, wie schnell sich solche Sachen herumsprechen. Alle Welt wird denken, daß du bewußt wichtige Informationen zurückhältst und daß du die Morde im Museum dazu benützt, um mehr Besucher in die Ausstellung zu locken. Und was wäre das dann für eine Publicity, he?«
»Du hast ja recht«, sagte Cuthbert mit einem eisigen Lächeln. »Aber ich darf dich wohl daran erinnern, daß unsere ganze Diskussion sowieso umsonst ist, wenn die Ausstellung nicht fristgerecht eröffnet wird. Wenigstens so lange muß Frock an die kurze Leine gelegt werden. Jetzt läßt er schon andere Leute die Schmutzarbeit für sich machen. Einer von ihnen hat vor einer Stunde sogar versucht, sich in die Sicherheitszone zu schleichen.«
»Wer war das?« wollte Wright wissen.
»Der Wachmann da unten hat die Sache leider völlig versaut«, antwortete Cuthbert. »Er weiß nur, daß der Mann mit Vornamen Bill hieß.«
»Bill?« fragte Rickman und setzte sich auf.
»Ja, ich glaube, das war der Name«, antwortete Cuthbert und wandte sich der Direktorin für Öffentlichkeitsarbeit zu. »Heißt so nicht auch der Journalist, der das Buch über die Ausstellung schreibt? Der Mann arbeitet doch für Sie, nicht wahr? Haben Sie ihn denn auch richtig unter Kontrolle? Ich habe gehört, daß er überall eine Menge unbequemer Fragen stellen soll.«
»Vollkommen«, entgegnete Rickman mit einem breiten Grinsen. »Wir hatten zwar anfänglich unsere Probleme miteinander, aber jetzt tanzt er brav nach meiner Pfeife. Wenn du die Quellen kontrollierst, hast du auch den Journalisten unter Kontrolle, sage ich immer.«
»Er tanzt also nach Ihrer Pfeife?« fragte Wright. »Warum mußten Sie dann heute vormittag Gott und der Welt per Computerrundschreiben diese merkwürdige Nachricht zukommen lassen und den Leuten einschärfen, nicht mit Fremden zu reden?« Mrs. Rickman hob rasch ihre Hand mit den rotlackierten Fingernägeln. »Um Smithback brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«
»Das möchte ich auch schwer hoffen«, sagte Cuthbert. »Sie waren von Anfang an in dieser Sache mit drinnen, Lavinia. Es liegt also auch in Ihrem Interesse, daß Ihr Journalist nicht in der schmutzigen Wäsche herumwühlt.«
Aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage knisterte es, und die Stimme von Wrights Sekretärin sagte: »Mr. Pendergast möchte Sie sprechen, Sir.«
»Schicken Sie ihn rein«, sagte Wright und warf den beiden anderen einen ärgerlichen Blick zu. »Sehen Sie, da haben wir den Salat.«
Dann erschien Pendergast, der eine Zeitung unter den Arm geklemmt hatte, in der Tür und blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen.
»Mein Gott, ist das ein Anblick!« sagte er. »Vielen Dank, daß Sie mich gleich empfangen haben, Dr. Wright. Es ist mir ein Vergnügen, Dr. Cuthbert. Und Sie müssen Lavinia Rickman sein, habe ich recht, Madam?«
»Ja«, antwortete Rickman mit einem gezwungenen Lächeln.
»Mr. Pendergast«, sagte Wright, der sich ebenfalls ein höfliches Lächeln abrang, »nehmen Sie doch bitte irgendwo Platz.«
»Vielen Dank, Doktor, aber ich bleibe lieber stehen.« Pendergast ging hinüber zu dem großen Kamin und lehnte mit vor der Brust gekreuzten Armen dagegen.
»Sind Sie gekommen, um uns einen Bericht abzustatten? Sie wollen uns doch sicherlich über eine Verhaftung informieren.« »Nein«, sagte Pendergast. »Es tut mir leid, aber Verhaftung kann ich keine melden. Offen gestanden, Dr. Wright, haben wir noch keine allzu großen Fortschritte gemacht. Auch wenn Mrs. Rickman den Zeitungen offensichtlich andere Informationen zukommen läßt.«
Er zeigte ihnen die Schlagzeile der Zeitung: IM FALL DER »MUSEUMSMONSTER-MORDE« STEHT VERHAFTUNG KURZ BEVOR.
Eine Weile sagte niemand etwas. Pendergast faltete die Zeitung wieder zusammen und legte sie auf den Kaminsims.
»Was haben Sie denn für ein Problem?« fragte Wright. »Offen gestanden, ich verstehe nicht ganz, warum Sie für diesen Fall so viel Zeit brauchen.«
»Wir haben viele Probleme, wie Sie ohne Zweifel wissen«, sagte Pendergast. »Aber ich bin eigentlich nicht hier, um Sie über den Stand unserer Ermittlungen zu informieren. Es genügt, wenn ich Sie daran erinnere, daß ein gefährlicher Serienmörder immer noch hier im Museum frei herumläuft. Wir haben keinen Grund zu der Annahme, daß er mit dem Morden aufgehört hat. Soweit wir wissen, ereignen sich die Morde immer nachts, das heißt, nach fünf Uhr nachmittags. Als der mit der Leitung des Einsatzes betraute Agent muß ich Sie leider informieren, daß die von uns verordnete Sperrstunde so lange in Kraft bleibt, bis der Mörder gefaßt ist. Und zwar ohne Ausnahmen.«
»Aber die Eröffnung –« heulte Rickman auf.
»Die Eröffnung müssen Sie wohl oder übel verschieben. Vielleicht für eine Woche, möglicherweise auch für einen Monat. Ich kann Ihnen da nichts versprechen, fürchte ich. Es tut mir wirklich leid.«
Wright erhob sich mit aschfahlem Gesicht. »Sie haben doch gesagt, daß die Eröffnung termingerecht stattfinden könne, falls es keine neuen Morde gäbe. So lautete unsere Vereinbarung.«
»Ich habe keine Vereinbarung mit Ihnen getroffen, Doktor«, sagte Pendergast sanft. »Leider sind wir heute der Ergreifung des Mörders noch nicht näher als am Wochenanfang.« Er deutete auf die Zeitung auf dem Kaminsims. »Schlagzeilen wie diese wiegen die Leute in falscher Sicherheit und lassen sie unvorsichtig werden. Vermutlich würde deshalb die Eröffnung auch sehr gut besucht sein. Aber Tausende von Menschen nach Einbruch der Dunkelheit hier im Museum –« Pendergast schüttelte den Kopf. »Ich habe keine andere Wahl.«
Wright starrte den Agenten ungläubig an. »Bloß weil Sie nicht in der Lage sind, Ihren Mörder zu fassen, können Sie doch nicht von uns verlangen, daß wir die Eröffnung verschieben und dem Museum irreparablen Schaden zufügen. Das werde ich auf keinen Fall zulassen.«
Pendergast begab sich ungerührt in die Mitte des Raums. »Verzeihen Sie, Dr. Wright, offensichtlich habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Ich bin nicht hier, um Sie um Ihre Erlaubnis zu fragen, ich wollte Sie lediglich von meiner Entscheidung in Kenntnis setzen.«
»Okay«, sagte der Direktor mit zitternder Stimme. »Ich verstehe. Weil Sie in Ihrem Job versagt haben, wollen Sie jetzt in den meinen hineinpfuschen. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was eine Verschiebung der Eröffnung für unsere Ausstellung bedeuten würde? Können Sie erahnen, was das auf die Öffentlichkeit für einen Eindruck machen würde? Nein, Agent Pendergast, das werde ich nicht erlauben.«
Pendergast sah Wright müde an. »Alle unberechtigten Personen, die nach fünf Uhr im Museum angetroffen werden, werden verhaftet und einer Verletzung von Paragraph 303 a wegen belangt: ›Unberechtigtes Betreten eines Tatorts‹. Das ist eine Ordnungswidrigkeit. Im Wiederholungsfall allerdings wird es als Behinderung der Justiz gewertet. Und das ist eine Straftat, Dr. Wright. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Mir ist momentan nur eines klar. Nämlich daß ich Sie ersuchen muß, dieses Büro so schnell wie möglich zu verlassen«, sagte Wright mit erhobener Stimme. »Bitte gehen Sie jetzt.«
Pendergast nickte. »Schönen Tag noch, Herrschaften.« Dann drehte er sich um und ging schweigend hinaus.
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, blieb Pendergast einen Augenblick im Vorzimmer stehen und zitierte mit Blick zur Tür:
»Und so zum Liebsten flücht ich mich voll Scham
und dreifach gibt mir Übel, was es nahm.«
»Was war denn das?« fragte Wrights Sekretärin und hörte mit dem Kaugummikauen auf.
»Shakespeare«, antwortete Pendergast und ging zum Aufzug.
Drinnen im Büro griff Wright mit zitternden Händen zum Telefon.
»Was, zum Teufel, machen wir jetzt?« explodierte Cuthbert. »So ein blöder Scheißbulle kann uns doch nicht einfach aus unserem eigenen Museum werfen.«
»Sei ruhig, Cuthbert«, sagte Wright. Dann sprach er in den Hörer. »Verbinden Sie mich sofort mit dem Gouverneur!«
Während er warten mußte, war alles still. Wright blickte über den Hörer hinweg zu Cuthbert und Rickman und hatte Mühe, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. »Es ist höchste Zeit, daß ich meine Beziehungen spielen lasse«, sagte er. »Wir werden ja sehen, wer hier das letzte Wort hat: irgendein degenerierter Albino aus dem Süden oder der Direktor des drittgrößten Museums der Welt.«