30
Fünf Minuten später nahm Margo in ihrem mehrere Stockwerke weiter unten gelegenen Büro das Telefon ab und wählte eine Nummer. Smithback war ziemlich gut gelaunt, und nachdem Margo ihm von Moriartys Wiederbelebung der gelöschten Magazindatei und – etwas weniger detailliert – von der Unterredung in Frocks Büro erzählt hatte, wurde er sogar richtiggehend fröhlich.
Margo hörte, wie er vergnügt vor sich hinkicherte. »Na, habe ich in bezug auf Rickman nicht recht gehabt? Läßt einfach Beweise verschwinden. Jetzt werde ich das Buch so schreiben wie ich will, oder –«
»Das werden Sie nicht wagen, Smithback«, warnte ihn Margo.
»Das habe ich nicht für Ihren persönlichen Rachefeldzug getan. Wir kennen die Geschichte von und in diesem Tagebuch nicht und haben jetzt auch keine Zeit, uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir müssen an den Inhalt dieser Kisten gelangen, und dafür haben wir nur ein paar Minuten Zeit.«
»Okay, okay«, antwortete Smithback. »Wir treffen uns im Gang vor der Abteilung für Insektenkunde. Bin schon unterwegs.«
»Ich hätte nie gedacht, daß Frock ein so radikaler Bursche ist«, sagte Smithback. »Meine Achtung vor dem alten Knaben ist mächtig gestiegen.« Er ging gerade mit Margo eine lange, eiserne Treppe hinunter. Sie hatten einen Umweg gewählt, weil sie damit die Kontrollpunkte umgehen konnten, die die Polizei an allen Aufzügen eingerichtet hatte.
»Haben Sie den Schlüssel und die Kombination zur Hand?« fragte er, als sie unten angekommen waren. Margo holte die Sachen aus ihrer Umhängetasche und folgte ihm.
Sie schaute rasch in beiden Richtungen den Korridor entlang. »Sie wissen doch, daß der Gang vor der Sicherheitszone kleine erleuchtete Nischen hat, oder? Sie gehen voraus, und ich komme etwas später nach. Sagen Sie dem Wachmann, Sie bräuchten mehr Licht, um das Formular zu lesen, und ziehen Sie ihn in eine dieser Nischen. Dann müssen Sie dafür sorgen, daß er mir ein paar Minuten lang den Rücken zudreht, bis ich die Tür aufgemacht habe und hineingegangen bin. Beschäftigen Sie ihn, egal womit. Ihnen wird schon was einfallen, Sie sind ja nicht auf den Mund gefallen.«
»Für Sie tue ich doch alles«, sagte Smithback spöttisch. Er drehte sich auf dem Absatz um und verschwand um eine Ecke.
Margo wartete und zählte bis sechzig. Dann zog sie sich ein Paar Latexhandschuhe an und ging los.
Bald hörte sie Smithbacks Stimme, die lautstark und überzeugend protestierte. »Dieses Formular ist vom Leiter der Abteilung persönlich unterschrieben! Wollen Sie etwa behaupten, daß –«
Margo schob vorsichtig den Kopf um die Ecke. Etwa fünfzehn Meter weiter entfernt befand sich eine Abzweigung, die zu einer Polizeiabsperrung führte. Ein paar Meter dahinter war die Tür zum Sicherheitsbereich, und der Wachmann stand nur wenige Meter entfernt davon. Er drehte Margo den Rücken zu und hielt Smithbacks Formular in der Hand.
»Es tut mir leid, Sir«, hörte sie ihn sagen, »aber so was muß erst von der Zentrale abgesegnet werden –«
»Sie sehen nicht genau hin«, entgegnete Smithback. »Nehmen Sie es doch mit hinüber ins Licht, dort können Sie es viel besser lesen.«
Sie bewegten sich den Gang entlang auf eine Nische zu, die etwas weiter entfernt von Margo war. Als sie darin verschwunden waren, ging Margo um die Ecke und eilte leise den Gang entlang. An der Tür zur Sicherheitszone steckte sie den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn um und drückte sanft gegen die Tür. Sie ging in geölten Angeln geräuschlos auf. Margo spähte um die Ecke, um zu sehen, ob sie allein war. Da der dunkle Raum leer zu sein schien, machte sie leise die Tür hinter sich zu.
Ihr Herz schlug rasend schnell, und das Blut pochte ihr in den Ohren. Sie hielt den Atem an und tastete nach dem Lichtschalter. Links und rechts vor ihr befanden sich die Lagerräume. An der dritten Tür rechts klebte ein gelbes Schild mit der Aufschrift »SPURENSICHERUNG«. Margo nahm Frocks Zettel zur Hand und machte sich am Zahlenschloß dieser Tür zu schaffen. Sechsundfünfzig – hundertzwei – siebenundsiebzig – dreiundzwanzig. Verdammt noch mal, dachte sie, in welche Richtung muß ich dieses Rad drehen? Sie atmete tief durch und fing an.
Nachdem sie es ein paarmal vergeblich probiert hatte, erinnerte sich Margo an den Spind, in dem sie auf der Highschool immer ihre Oboe eingeschlossen hatte. Bei der zweiten und dritten Nummer mußte man in dieselbe Richtung drehen. Rechts, links, wieder links, dann rechts –
Margo hörte ein Klicken. Sie griff nach der Klinke und drückte sie herunter. Die Tür ging auf.
Drinnen konnte sie die Kisten als dunkle Schatten an der Wand sehen. Sie schaltete das Licht ein und sah auf die Uhr. Drei Minuten waren vergangen.
Jetzt mußte sie wirklich rasch arbeiten. An einer der größeren Kisten entdeckte sie Splitter und Spuren einer gewaltsamen Öffnung, und sie spürte, wie ihr der kalte Schweiß den Rücken hinunterlief. Die Spuren und Splitter ließen Margo erschaudern. Sie kniete sich vor die kleinere Kiste, nahm den Deckel ab und griff mit beiden Händen in die als Packmaterial verwendeten Pflanzenfasern, um es nach den darin enthaltenen Gegenständen zu durchsuchen.
Mit einer Hand stieß sie auf etwas Hartes und zog es heraus. Es war ein kleiner, flacher Stein, in den seltsame Muster eingeritzt waren. Nicht allzu vielversprechend. Dann holte sie ein paar Jadestücke heraus, die vermutlich als Lippenschmuck gedient hatten, dann Pfeilspitzen aus Feuerstein und ein Blasrohr mit ein paar Pfeilen, an deren Spitzen eine schwärzliche Substanz eingetrocknet war. Gut, daß ich mich an denen nicht verletzt habe, dachte Margo. Noch immer hatte sie nichts zutage gefördert, was sich mitzunehmen gelohnt hätte. Sie wühlte sich tiefer in die Kiste. In der nächsten Schicht befand sich eine kleine, zugedrehte Pflanzenpresse, eine mit bizarren Einritzungen verzierte, beschädigte Schamanenrassel und eine wunderschöne Stoffdecke mit eingewebten Federn.
Einem Impuls folgend steckte Margo die Pflanzenpresse, an der immer noch ein paar Fasern des Packmaterials hingen, in ihre Tasche, ebenso eine der Steinscheiben und die Rassel.
In der unteren Schicht fand sie ein paar Tongefäße, in denen sich kleine, verschrumpelte Reptilien befanden. Die Gefäße waren sehr farbenprächtig, aber nichts Außergewöhnliches.
Sechs Minuten waren nun verstrichen. Margo richtete sich auf und lauschte. Jeden Augenblick erwartete sie, die Schritte des zurückkehrenden Wachmannes zu hören. Aber noch war alles ruhig.
Hastig legte Margo die restlichen Gegenstände zurück in die Kiste und stopfte das Packmaterial drumherum. Als sie den Deckel zur Hand nahm, bemerkte sie, daß das Leinen, mit dem er innen ausgeschlagen war, an einer Stelle lose war. Sie zog es noch weiter vom Holz ab, und ein von Wasser wellig gewordener Umschlag glitt heraus. Margo steckte den Umschlag zu den Sachen in ihrer Tasche.
Acht Minuten. Es war keine Zeit mehr.
Zurück im Vorraum horchte sie und versuchte, sich aus den gedämpften Geräuschen, die von draußen hereindrangen, etwas zusammenzureimen. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt.
»Ich verlange, daß Sie mir sofort Ihre Dienstnummer nennen«, schimpfte Smithback laut.
Margo hörte nicht, was der Wachmann antwortete. Sie glitt durch die Tür und zog sie leise hinter sich ins Schloß. Dann streifte sie sich rasch die Handschuhe ab und stopfte sie in ihre Tasche. Sie richtete sich auf, strich sich ihre Kleider glatt und ging an der Nische vorbei, in der Smithback und der Wachmann standen.
Als sie auf der Höhe der beiden war, drehte sie sich um. Der Wachmann blickte sie mit hochrotem Gesicht an.
»Ach, da sind Sie ja, Bill«, sagte Margo, deren Gedanken rasten, und hoffte, daß der Wachmann sie nicht aus der Tür zur Sicherheitszone hatte kommen sehen. »Komme ich zu spät? Waren Sie schon drin?«
»Dieser Bursche da will mich nicht hineinlassen«, beschwerte sich Smithback.
»Jetzt hören Sie mal«, sagte der Wachmann und wandte sich wieder an Smithback, »ich habe es Ihnen schon hundertmal gesagt, und ich sage es Ihnen nicht noch einmal. Dieses Formular muß erst ordnungsgemäß von der Zentrale gegengezeichnet werden, bevor ich Sie da hineinlassen kann, okay?« Sie hatten es geschafft.
Margo blickte hinter sich den Gang entlang. In weiter Entfernung sah sie eine große, schlanke Gestalt, die rasch näherkam. Ian Cuthbert.
Margo packte Smithback am Arm. »Wir müssen los. Erinnern Sie sich denn nicht mehr an unseren Termin? Die Sammlungen können wir uns ja auch ein andermal ansehen.«
»Sie haben recht. Natürlich«, plapperte Smithback frohgemut. »Ich werde mich um diese Sache hier später kümmern«, sagte er zu dem Wachmann. Als sie den Gang ein paar Meter entlanggegangen waren, zog Margo Smithback in eine Nische.
»Los, verstecken Sie sich hinter diesen Schränken da«, flüsterte sie.
Von ihrem Versteck aus hörten sie Cuthberts Schritte den Gang entlangkommen. Dann blieb er stehen, und seine laute Stimme hallte durch den Korridor.
»Hat gerade irgend jemand versucht, in die Sicherheitszone zu gelangen?« fragte er.
»Ja, Sir. Da war ein Mann, der hinein wollte. Und dann kam eine Frau dazu. Gerade sind sie gegangen.«
»Wer?« wollte Cuthbert wissen. »Waren es die Leute, mit denen Sie eben gesprochen haben?«
»Ja, Sir. Der Mann hatte ein Formular dabei, das aber nicht gegengezeichnet war. Also habe ich ihn nicht hineingelassen.«
»Sie haben ihn nicht hineingelassen?«
»Richtig, Sir.«
»Wer hat das Formular ausgestellt? Frock?«
»Ja, Sir. Dr. Frock.«
»Hat dieser Mann Ihnen seinen Namen genannt?«
»Ich glaube, er heißt Bill. Den Namen der Frau weiß ich nicht, aber –«
»Bill? Bill? Das ist ja wirklich phantastisch. Das erste, was Sie von den Leuten verlangen müssen, ist ihr Ausweis.«
»Tut mir leid, Sir. Er war so hartnäckig und behauptete immer, es sei –«
Aber Cuthbert stapfte bereits verärgert zurück. Seine Schritte wurden langsam leiser.
Smithback nickte Margo zu, die sich den Staub von den Kleidern klopfte. Sie traten in den Gang hinaus.
»Hey, Sie da!« rief der Wachmann. »Kommen Sie her, ich muß Ihre Ausweise überprüfen! Warten Sie!«
Smithback und Margo sprinteten los, rannten um eine Ecke und eine breite Betontreppe hinunter.
»Wo laufen wir hin?« keuchte Margo.
»Keine Ahnung.«
Als sie auf dem unteren Treppenabsatz angelangt waren, spähte Smithback vorsichtig einen Gang entlang. Dann öffnete er eine Tür, auf der stand: »Säugetiere. Abteilung Primaten.«
Drinnen rangen sie nach Atem. Der Raum war still und kühl. Als Margos Augen sich an das düstere Licht gewöhnt hatten, bemerkte sie die ausgestopften Gorillas und Schimpansen, die wie Soldaten in Reih und Glied dastanden, und die Fellbündel, die in hölzernen Regalen lagen. In einem anderen Regal befanden sich Hunderte von Primatenschädeln.
Smithback horchte eine Weile angestrengt an der Tür. Dann wandte er sich an Margo. »Nun zeigen Sie mal, was Sie gefunden haben«, sagte er.
»Nicht viel«, sagte Margo schwer atmend. »Ein paar ziemlich unbedeutende Gegenstände, die ich mitgenommen habe. Aber dann ist mir noch das hier in die Hände gefallen«, sagte sie und kramte in ihrer Umhängetasche herum. »Er steckte im Deckel der kleineren Kiste.«
Der nicht zugeklebte Umschlag trug lediglich die Aufschrift: »An R. H. Montague, New York Museum of Natural History.«
In das vergilbte Schreibpapier war ein merkwürdiges Wappen mit zwei Pfeilen eingeprägt. Während Smithback ihr über die Schulter lugte, hielt Margo das Blatt sorgfältig ins Licht und fing an zu lesen.
Oberlauf des Xingú
17. Sept. 1986
Montague,
ich habe mich entschlossen, Carlos mit der letzten Kiste zurückzuschicken und die Suche nach Crocker allein weiterzuführen. Carlos ist vertrauenswürdig, und ich will nicht riskieren, daß die Kiste verlorengeht, falls mir etwas zustoßen sollte. Besonders solltest du die Schamanenrassel und die anderen Ritualobjekte beachten. Sie scheinen einzigartig zu sein. Die kleine Holzfigur aber, die ich in einer verlassenen Hütte hier in der Nähe gefunden habe, ist der Beweis für das, wonach ich gesucht habe. Schau dir bloß die übertrieben großen Krallen an, die reptilischen Merkmale, die Haltung des Tieres, die darauf hindeutet, daß es auf zwei Beinen geht. Die Kothoga existieren, und die Mbwun-Legende scheint keine bloße Erfindung zu sein.
Alle meine Aufzeichnungen befinden sich in meinem Tagebuch –