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Trotz des Schildes, das verkündete: Diese Tür nicht schließen, war die Tür zum Herbarium zu. Margo klopfte. Nun komm schon Smith, ich weiß genau, daß du da drinnen bist. Sie klopfte wieder, diesmal etwas lauter, und hörte eine gereizte Stimme: »Moment, Moment, ich komme ja schon.«

Die Tür öffnete sich, und Bailey Smith, der alte Verwalter des Herbariums, setzte sich mit einem mächtigen, irritierten Seufzer wieder an seinen Schreibtisch und schaute weiter seine Post durch.

Margo trat entschlossen auf ihn zu. Bailey Smith schien seinen Job als eine Art Zumutung zu empfinden. Und wenn er dann endlich das tat, was man von ihm wollte, begann er zu schwätzen, und es war schwierig, ihn zum Schweigen zu bringen. Normalerweise hätte Margo ihm nur ein Anforderungsformular zukommen lassen und sich selber die Mühe des Suchens erspart, aber sie mußte für das nächste Kapitel ihrer Dissertation so schnell wie möglich die Kiribitu-Pflanzen untersuchen. Die Arbeit für Moriarty war noch immer nicht fertig, und außerdem hatte sie Gerüchte über einen weiteren schrecklichen Mord gehört, der möglicherweise dazu führen würde, daß das Museum für den Rest des Tages geschlossen wurde.

Bailey Smith summte vor sich hin und schien sie gar nicht wahrzunehmen.

»Mr. Smith!« rief Margo. »Ich brauche diese Pflanzen, bitte.« Sie legte eine Liste vor ihn auf den Tisch. »Und zwar gleich, sofern das möglich ist.«

Smith knurrte, erhob sich von seinem Stuhl und nahm mit langsamen Bewegungen die Liste, die er mißmutig überflog.

»Könnte eine Weile dauern, bis ich das Zeug finde. Wie wär’s mit morgen vormittag?«

»Bitte, Mr. Smith. Ich habe gehört, daß sie jeden Moment das Museum schließen können. Ich brauche diese Pflanzen wirklich dringend.«

Der alte Mann, der eine Chance auf etwas Tratsch witterte, wurde etwas freundlicher. »Schreckliche Geschichte«, sagte er und schüttelte den Kopf. »In meinen zweiundvierzig Jahren hier habe ich etwas Derartiges noch nicht erlebt. Aber ich kann nicht sagen, daß es mich überrascht«, fügte er mit einem bedeutungsvollen Nicken hinzu.

Margo wollte nicht, daß Smith ins Reden kam, und sagte deshalb nichts.

»Aber das sind nicht die ersten Morde hier im Museum, was ich so mitbekommen habe. Und es werden auch nicht die letzten sein.« Er drehte sich mit der Liste um und hielt sie sich direkt unter die Nase. »Was ist denn das? Muhlenbergia dunbarii? So was haben wir nicht.«

Dann hörte Margo eine Stimme hinter sich.

»Nicht die ersten? Was meinen Sie damit?«

Es war Gregory Kawakita, der junge Assistenzkurator, der sie am vergangenen Vormittag in den Aufenthaltsraum begleitet hatte. Margo hatte den Lebenslauf von Kawakita im Jahresbericht des Museums gelesen: Als Sohn reicher Eltern war er in jungen Jahren zum Waisen geworden und hatte seine Heimat Yokohama verlassen, um bei Verwandten in England aufzuwachsen. Nachdem er auf dem Magdalene College in Oxford studiert hatte, ging er nach Amerika aufs Massachusetts Institute of Technology, um seinen Doktor zu machen, und kam dann ans Museum, wo er die Stelle als Assistenzkurator bekam. Er war Frocks brillantester Protegé, was Margo ihm manchmal neidete. Aber für Margo paßte Kawakita eigentlich gar nicht zu Frock. Kawakita hatte ein instinktives Gefühl für Museumspolitik, und Frock war ein Außenseiter, ein Nestbeschmutzer. Trotz seiner Introvertiertheit war Kawakita zweifellos ein brillanter Wissenschaftler, der für Frock an einem Modell für genetische Mutation arbeitete, das außer den beiden niemand sonst völlig zu verstehen schien. Unter Frocks Führung entwickelte Kawakita einen Extrapolator, ein Computerprogramm, das den genetischen Code verschiedener Gattungen miteinander vergleichen und kombinieren konnte. Wenn die beiden ihre Daten auf dem Rechner des Museums laufen ließen, sank dessen Rechenleistung so dramatisch, daß manche spöttisch meinten, er laufe nur noch im »Taschenrechner-Modus«.

»Nicht die ersten was?« fragte Smith und sah Kawakita mit einem nicht gerade einladenden Gesichtsausdruck an.

Margo warf Kawakita einen warnenden Blick zu, aber der fuhr fort: »Sie sagten etwas davon, daß das nicht die ersten Morde hier waren.«

»Mußten Sie das tun, Greg?« stöhnte Margo mit leiser Stimme.

»Jetzt werde ich meine Pflanzen niemals kriegen.«

»Nein, das alles überrascht mich nicht«, fing Smith an. »Ich bin nun wirklich nicht abergläubisch«, fuhr er fort und lehnte sich an die Theke, »aber das ist nicht das erste Mal, daß eine Kreatur in diesem Museum herumschleicht. Zumindest sagt man so. Nicht, daß ich ein Wort davon glaube, natürlich nicht.«

»Eine Kreatur?« fragte Kawakita.

Margo trat ihm leicht gegen das Schienbein.

»Ich habe nur das wiederholt, was alle Leute sagen, Mr. Kawakita. Ich halte nichts davon, falsche Gerüchte in die Welt zu setzen.«

»Natürlich nicht«, sagte Kawakita und zwinkerte Margo zu. Smith starrte Kawakita mit einem schicksalsschwangeren Blick an. »Man sagt, daß das Monster schon lange Zeit im Keller des Museums lebt und sich von Ratten, Mäusen und Kakerlaken ernährt. Ist Ihnen noch nie aufgefallen, daß es im Museum weder Ratten noch Mäuse gibt? Aber es müßte eigentlich welche geben, überall sonst in New York gibt es ja schließlich weiß Gott genug davon. Aber nicht hier. Seltsam, finden Sie nicht auch?«

»Mir ist das noch nie aufgefallen«, sagte Kawakita, »aber ich werde es bestimmt nachprüfen.«

»Dann gab es einmal einen Forscher hier, der für irgendein Experiment Katzen züchtete«, fuhr Smith fort. »Sloane, glaube ich, hieß er, Dr. Sloane von der Abteilung für Verhaltensforschung. Eines Tages entkam ein gutes Dutzend von seinen Katzen. Und wissen Sie, was? Sie wurden niemals wiedergesehen. Einfach verschwunden. Ist das nicht irgendwie komisch? Zumindest eine oder zwei hätten doch wieder auftauchen können, oder?«

»Vielleicht sind sie fort, weil es hier keine Mäuse zu fressen gab«, sagte Kawakita.

Smith ging nicht darauf ein. »Manche Leute sagen, das Monster sei aus einem der Dinosauriereier ausgeschlüpft, die man aus der Mongolei mitgebracht hat.«

»Ich verstehe«, sagte Kawakita und unterdrückte ein Grinsen.

»Hier im Museum laufen Dinosaurier frei herum.«

Smith zuckte mit den Achseln. »Ich sage nur das, was ich gehört habe. Andere wiederum meinen, es wäre etwas, das die Wissenschaftler aus einem der Gräber geholt haben, die sie im Lauf der Jahre geplündert haben. Irgendein Kultgegenstand mit einem Fluch drauf. So wie der Fluch des Tutenchamun, Sie wissen schon. Und wenn Sie mich fragen, dann erhalten diese Burschen bloß ihren gerechten Lohn. Es ist mir egal, wie man das nennt, ob Archäologie oder Anthropologie oder Voodooologie, für mich ist das nichts weiter als simple Grabräuberei. Die Gräber ihrer eigenen Großeltern graben die nicht um, aber wenn es sich um das Grab von jemand anderem handelt, zögern die keinen Augenblick und holen sich die Schätze raus. Oder hab’ ich etwa nicht recht?«

»Vollkommen«, sagte Kawakita. »Aber was meinten Sie eigentlich damit, daß diese Morde nicht die ersten waren?«

Smith sah die beiden verschwörerisch an. »Also, wenn Sie irgend jemandem sagen, daß Sie diese Geschichte von mir gehört haben, dann werde ich das glatt abstreiten, aber vor etwa fünf Jahren ist hier etwas Seltsames passiert.« Er hielt einen Augenblick inne, als wolle er prüfen, ob er mit seiner Geschichte auch den gewünschten Erfolg erzielte. »Da gab es einen Kurator namens Morrissey oder Montana oder so ähnlich. Er hatte etwas mit dieser Amazonasexpedition zu tun, die völlig in die Hosen ging. Sie wissen schon, welche ich meine, die, bei der alle Teilnehmer ums Leben kamen. Nun, jedenfalls verschwand dieser Kurator spurlos von einem Tag auf den anderen, und niemand hat je wieder etwas von ihm gehört. Die Leute fingen zu reden an. Jemand hatte einen Wärter sagen hören, daß im Keller eine schrecklich verstümmelte Leiche gefunden worden sei.«

»Aha«, sagte Kawakita. »Und Sie meinen, daß das Museumsmonster diesen Kurator auf dem Gewissen hat.«

»Ich meine gar nichts«, antwortete Smith rasch. »Ich habe Ihnen bloß erzählt, was ich gehört habe, sonst nichts. Ich habe eine Menge Zeug von einer Menge Leute gehört, das kann ich Ihnen sagen.«

»Hat denn schon jemals jemand dieses – äh – Monster gesehen?« fragte Kawakita, der ein Grinsen jetzt nicht mehr ganz verbergen konnte.

»Aber natürlich. Ein paar Leute sogar. Kennen Sie den alten Carl Conover in der Schlosserei? Der sagt, daß er es vor drei Jahren gesehen hat, wie es unten im Keller um eine Ecke latschte. Hat es mit eigenen Augen gesehen, direkt vor ihm.«

»Wirklich?« fragte Kawakita. »Wie hat es denn ausgesehen?«

»Nun –« begann Smith, dann aber brach er ab. Selbst ihm war mittlerweile aufgefallen, daß Kawakita sich auf seine Kosten amüsierte. Das Gesicht des alten Mannes veränderte sich. »Ich würde sagen, es hat wohl ein bißchen wie Mr. Jim Beam ausgesehen, Dr. Kawakita«, sagte er.

Kawakita war leicht verwirrt. »Beam? Ich glaube nicht, daß ich ihn kenne –«

Bailey Smith lachte auf einmal schallend los, und Margo konnte sich nun ihrerseits ein Grinsen nicht ganz verkneifen. »Greg«, sagte sie, »ich glaube, daß Mr. Smith damit meint, Conover sei betrunken gewesen. Jim Beam ist eine Whiskymarke.«

»Verstehe«, sagte Kawakita steif. »Natürlich.«

All seine gute Laune war auf einmal verflogen. Er mag es wohl nicht, wenn man den Spieß umdreht und sich mit ihm einen Spaß erlaubt, dachte Margo. Er kann zwar gut austeilen, aber beim Einstecken ist er dafür um so schlechter.

»Nun, wie dem auch sei«, sagte Kawakita munter, »ich brauche ein paar Pflanzen.«

»Hey, Moment mal, ich war zuerst da«, protestierte Margo, als Kawakita seine eigene Liste auf die Theke legte. Der alte Mann warf einen Blick darauf und sah dann den Wissenschaftler an. »Wäre Ihnen übernächste Woche recht?« fragte er.