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Vom Labor aus hatte man einen weiten Blick auf den East River mit seinen Lagerhäusern und die heruntergekommenen Industrieanlagen von Long Island City. Lewis Turow stand am Fenster und beobachtete einen gewaltigen Schleppkahn voller Müll, der, begleitet von einem riesigen Möwenschwarm, hinaus aufs Meer gezogen wurde. Soviel Abfall produziert New York vermutlich in einer einzigen Minute, dachte er.
Turow wandte sich vom Fenster ab und seufzte. Er haßte New York, aber manchmal mußte man sich eben für das kleinere von zwei Übeln entscheiden. Bei ihm sah das so aus: Entweder mußte er die Stadt ertragen und konnte dafür in einem der besten gentechnischen Labors der Staaten arbeiten, oder er mußte sich mit irgendeiner zweitklassigen Klitsche begnügen, dürfte dafür aber irgendwo in einer netten, ländlichen Umgebung leben. Bisher hatte er sich für die Stadt entschieden, aber langsam war er mit seiner Geduld am Ende.
Turow hörte ein leises Piepen und gleich danach das Zischen eines schallgedämpften Laserdruckers. Die Ergebnisse wurden ausgedruckt. Ein weiteres Piepen zeigte an, daß der Druck beendet war. Der drei Millionen Dollar teure »Thinking Machine III Parallel Processing Computer«, der sich in einer Reihe von großen, grauen Gehäusen an der Wand des Raumes befand, war nun vollkommen still. Nur ein paar Leuchtdioden zeigten an, daß überhaupt noch etwas geschah. Dieser Computer war ein speziell auf den Zweck von DNS-Analysen und Genkartierung zugeschnittenes Modell. Einzig wegen dieser Maschine hatte Turow vor sechs Monaten mit der Arbeit in diesem Labor angefangen, das ihm einen Fünfjahresvertrag zur Arbeit am menschlichen Genom-Projekt angeboten hatte.
Er nahm das Papier aus dem Drucker und überflog es. Die erste Seite war eine Zusammenfassung der Ergebnisse, gefolgt von einer Aufstellung der in der Probe vorhandenen Nukleinsäuren. Als nächstes folgten Spalten mit Buchstaben, die Primsequenzen und die lokalisierten Gene der Zielgruppe zeigten.
Die Zielgruppe war in diesem Fall ungewöhnlich: Sie bestand aus großen Katzen. Man hatte ihn gebeten, auf Genübereinstimmung mit asiatischen Tigern, Jaguaren, Leoparden und Wildkatzen zu testen. Turow hatte aus eigenem Ermessen noch den Jagdleoparden mit dazugenommen, weil dessen genetisches Material recht gut erforscht war. Als Kontrollgruppe hatte man, wie üblich, den Homo sapiens genommen, um sicherzustellen, daß der Genvergleich exakt und die Probe in Ordnung war.
Turow überflog die Zusammenfassung:
Computerdurchlauf 3349A5 990
Probe: Gerichtsmedizinisches Labor, New York City ZUSAMMENFASSUNG
ZIELGRUPPE
Übereinstimmung |
Wahrscheinlichkeitsgrad |
|
Panthera leo |
5,5 |
4 % |
Panthera onca |
7,1 |
5 % |
Felis lynx |
4,0 |
3 % |
Felis rufa |
5,2 |
4 % |
Acinonyx jubatus |
6,6 |
4 % |
KONTROLLGRUPPE
Homo sapiens |
45,2 |
33 % |
Nun, das ist absoluter Bockmist, dachte Lewis Turow. Die Probe hatte viel mehr Übereinstimmungen mit der Kontrollgruppe als mit der Zielgruppe – was das genaue Gegenteil von dem war, was man eigentlich hätte erwarten sollen. Es gab nur eine vierprozentige Wahrscheinlichkeit, daß das genetische Material von einer großen Katze stammte, während es mit dreiunddreißigprozentiger Wahrscheinlichkeit auf einen Menschen hinwies.
Dreiunddreißig Prozent. Zwar immer noch ziemlich niedrig, aber wenigstens im Bereich des Möglichen.
Turows Neugier war geweckt. Bis jetzt hatte er nicht einmal gewußt, daß sein Labor für die Polizei arbeitete. Was, zum Teufel, ließ die bloß annehmen, daß es sich bei der Probe um die einer großen Katze handelte? fragte er sich.
Die Ergebnisse waren ein dicker Stapel von gut achtzig Seiten. Der Computer druckte die identifizierten Nukleotide der DNS in langen Reihen aus, wobei er die Spezies, die identifizierten und die unidentifizierten Gensequenzen angab. Turow wußte, daß die meisten Sequenzen nicht identifiziert sein würden, denn bisher gab es nur einen einzigen Organismus mit vollkommen kartierten Genen, und der war das E.-Kolibakterium.
C-G |
* |
G-T |
unidentifiziert |
G-G |
G-T |
* |
|
G-G |
Homo sapiens |
T-T |
* |
C-G |
T-T |
* |
|
A-T |
A-1 Allele |
T-T |
* |
T-G |
Markergen |
G |
* |
G-G |
C |
* |
|
T-T |
A1 |
C-C |
* |
A-A |
Polymorphismus |
C-T |
* |
A-A |
Beginn |
G-T |
* |
A-A |
* |
T-A |
* |
G-T |
* |
G-G |
* |
T-T |
* |
T |
* |
G-T |
* |
T |
* |
T-A |
– |
T |
|
A-T |
– |
||
T-T |
– |
||
G-T |
– |
||
C-C |
– |
||
C-G |
A1 Poly. Ende |
Turow überflog die Tabelle, dann nahm er den Stapel Papier mit hinüber zu seinem Schreibtisch. Er brauchte nur ein paar Tasten zu drücken, und schon hatte er über seine Sun SPARC-Station 10 Zugang zu vielen Tausenden von Gendaten. Wenn die Thinking Machine III die Information, die er suchte, nicht hatte, würde sie sich automatisch ins Internet einloggen und einen anderen Computer suchen, in dem sie möglicherweise zu finden waren.
Während er den Ausdruck einer genaueren Prüfung unterzog, runzelte Turow die Stirn. Es muß sich um eine kaputte Probe handeln, dachte er. Zuviel von der DNS ist unidentifizierbar.
A-A |
Unidentif. |
A-T |
Hemidactylus |
A-T |
– |
T |
turcicus |
A-T |
– |
C |
dto. |
A-T |
– |
T-C |
* |
A-T |
– |
C-C |
* |
A-T |
– |
T-G |
* |
T-T |
– |
G-G |
* |
T-G |
– |
G-G |
* |
G-G |
– |
G-G |
* |
A-A |
Hemidact. |
G-G |
* |
T-T |
turcicus |
G-G |
* |
T-G |
* |
G-G |
* |
G-C |
* |
G-G |
* |
G-T |
* |
G-G |
* |
T-G |
* |
G-G |
* |
C-A |
* |
G-G |
* |
A-C |
* |
G-G |
* |
Turow hörte auf, durch die Seiten zu blättern. Da war etwas wirklich Seltsames: Das Programm hatte ein großes Stück der DNS als zu einem Tier gehörend identifiziert, das Hemidactylus turcicus hieß.
Was, zum Teufel, ist denn das bitte? fragte sich Turow.
Die Datenbank biologischer Fachbezeichnungen klärte ihn auf:
GEBRÄUCHLICHER NAME: TÜRKISCHER GECKO
Wie bitte? dachte Turow und tippte: INFO
HEMIDACTYLUS TURCICUS: EUROPÄISCHER
HALBZEHENGECKO
URSPRÜNGLICH AUS NORDAFRIKA STAMMEND
HEUTE VERBREITET IN: FLORIDA, BRASILIEN, KLEINASIEN, NORDAFRIKA.
EINE MITTELGROSSE EIDECHSE AUS DER FAMILIE DER GECKOS, GEKKONIDAE. LEBT AUF BÄUMEN.
NACHTAKTIV.
HAT KEINE BEWEGLICHEN AUGENLIDER.
Turow brach das Datenbankprogramm ab, während die Informationen immer noch über den Schirm flimmerten. Das war ganz offensichtlich blanker Unsinn. Eidechsen-DNS und Menschen-DNS in einer Probe? Aber es war nicht das erste Mal, daß so etwas passiert war. Man konnte es wirklich nicht dem Computer anlasten. Die Prozedur war noch viel zu ungenau, und außerdem waren bisher nur winzige Bruchteile von den unendlich vielen DNS-Sequenzen aller existierenden Organismen überhaupt bekannt.
Turow ging die ausgedruckte Liste durch. Etwa fünfzig Prozent der Übereinstimmungen waren menschliche DNS – ein sehr niedriger Prozentsatz, wenn man davon ausging, daß die Probe von einem Menschen stammte, aber nicht gänzlich unmöglich, wenn es sich um eine beschädigte oder degenerierte Probe handelte. Und außerdem bestand ja immer die Möglichkeit, daß sie verschmutzt war. Eine oder zwei Zellen, die nicht hineingehörten konnten die ganze Computeranalyse durcheinanderbringen. Diese Möglichkeit kam Turow nun immer wahrscheinlicher vor. Was soll man von der New Yorker Polizei denn auch anderes erwarten? Sie konnte ja nicht einmal den Kerl einbuchten, der an der Ecke gegenüber von Turows Wohnhaus auf offener Straße Crack verkaufte.
Turow besah sich weiter den Ausdruck. Moment mal, hier war ja eine weitere lange Sequenz, die identifiziert werden konnte: Tarentola mauritanica. Er rief seine Datenbank wieder auf und gab den Namen ein. Auf dem Bildschirm erschien:
TARENTOLA MAURITANICA: MAUERGECKO
Jetzt reicht’s langsam, dachte Turow. Das muß ja wohl ein Witz sein. Er warf einen Blick auf den Kalender. Es war der erste April.
Turow begann zu lachen. Das war wirklich ein gelungener Scherz. Nein, also wirklich, so was hätte er dem alten Buchholtz gar nicht zugetraut. Nun, auch er, Turow, hatte Sinn für Humor. Und so fing er an, seinen Bericht zu schreiben:
Probe LA-33
Zusammenfassung: Probe wurde als Homo gekkopiens identifiziert. Gebräuchlicher Name: Geckomensch …
Als er mit dem Bericht fertig war, schickte er ihn gleich nach oben. Dann verließ er, immer noch vor sich hin kichernd, das Labor, um sich einen Kaffee zu holen. Er war stolz darauf, wie er diese Geschichte gemeistert hatte, und fragte sich, wo, um alles in der Welt, Buchholtz sich wohl die Gecko-Gene besorgt haben konnte.
Vermutlich werden solche Viecher im Zoogeschäft verkauft, dachte er. Er konnte Buchholtz direkt vor sich sehen, wie er im Ultrablender Zellproben von zwei oder drei Geckos mit ein paar Tropfen seines eigenen Blutes vermischt hatte. Na, dann wollen wir mal sehen, was Turow, unser Neuer, daraus macht, hatte er sich vermutlich dabei gedacht. Während Turow mit dem Kaffee im Aufzug nach oben fuhr, mußte er bei dieser Vorstellung laut auflachen. Als er wieder ins Labor kam, wartete dort bereits Buchholtz auf ihn, aber Buchholtz lachte nicht.