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Garcia schaute zu, wie der Strahl von Allens Taschenlampe langsam über die toten Kontrollpulte schweifte. Nesbitt, der eigentlich Dienst an den Monitoren hatte, hing am mit Kaffeeflecken übersäten »Panikpult« in der Mitte des Raumes herum. Neben ihm saßen Waters und ein dürrer, unsympathisch aussehender Programmierer aus dem Computerraum. Sie hatten vor zehn Minuten an der Tür der Sicherheitszentrale geklopft und die drei Männer drinnen fast zu Tode erschreckt. Jetzt saß der Programmierer still in der Dunkelheit, knabberte an den Fingernägeln herum und schniefte ab und zu. Waters hatte seinen Dienstrevolver auf den Tisch gelegt und ließ ihn nervös herumwirbeln.

»Was war das?« fragte Waters plötzlich und hielt den Revolver mitten in der Drehung an.

»Was meinst du?« fragte Garcia mürrisch.

»Ich dachte, ich hätte draußen im Gang gerade ein Geräusch gehört«, sagte Waters und schluckte geräuschvoll. »Als wäre jemand vorbeigegangen.«

»Ach, du hörst doch immer irgendwas, Waters«, sagte Garcia.

»Deshalb hocken wir ja auch alle seit Stunden im Dunklen herum.«

Es folgte eine kurze, ungute Stille.

»Bist du sicher, daß du Coffey richtig verstanden hast?« fing Waters dann wieder an. »Wenn dieses Ding das Sondereinsatzkommando ausradiert hat, kann es sich doch mit Leichtigkeit auch uns schnappen.«

»Denk nicht dran«, sagte Garcia. »Und rede um Himmels willen nicht mehr davon. Das ist drei Stockwerke über uns passiert.«

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Coffey uns hier drinnen einfach unserem Schicksal überläßt –«

»Waters, wenn du nicht augenblicklich den Mund hältst, dann schicke ich dich zurück in den Computerraum.«

Waters verstummte und fing wieder an, mit seiner Achtunddreißiger zu spielen.

»Funk doch Coffey noch mal an«, sagte Allen zu Garcia. »Wir müssen hier raus, und zwar schnell.«

Garcia schüttelte langsam den Kopf. »Das hat keinen Sinn. Ich hatte vorhin schon den Eindruck, als wäre er kurz vor dem Durchdrehen gewesen. Vielleicht war das alles etwas zu viel für ihn. Ich schätze, wir müssen es hier noch eine Weile aushalten.« »Wer ist denn der Vorgesetzte von Coffey?« bohrte Allen nach.

»Gib mir doch mal das Funkgerät.«

»Auf keinen Fall. Die Notbatterien sind fast leer.«

Allen wollte protestieren, hörte dann aber abrupt auf und sagte: »Ich rieche etwas.«

Garcia setzte sich auf. »Ich auch.« Dann nahm er so langsam wie in einem Alptraum seine Schrotflinte in die Hand.

»Das ist das Monster!« schrie Waters laut. Die Männer sprangen fast gleichzeitig auf. Stühle wurden umgeworfen und fielen klappernd zu Boden. Ein Rumpeln, gefolgt von einem Fluch, zeigte an, daß jemand gegen eine Tischkante gerannt war. Bruchteile von Sekunden später zerschellte mit ohrenbetäubendem Krachen ein Monitor auf dem Boden. Garcia packte das Funkgerät.

»Coffey! Das Monster ist hier!« schrie er hinein.

An der Tür hörte er ein Kratzen, dann rüttelte jemand laut am Türknauf. Garcia spürte, wie ihm eine warme Flüssigkeit die Schenkel hinunterfloß und begriff, daß sich seine Blase entleert hatte. Plötzlich wölbte sich die Tür nach innen, und unter einem wuchtigen Stoß begann das Holz zu splittern. In der Dunkelheit hinter sich hörte Garcia, wie einer der Männer laut zu beten begann.

»Haben Sie das gehört?« flüsterte Pendergast.

Margo leuchtete den Gang entlang. »Ja.«

Um die Ecke war deutlich das Geräusch von splitterndem Holz zu vernehmen.

»Es bricht eine der Türen auf!« sagte Pendergast. »Wir müssen es auf uns aufmerksam machen.« Dann rief er laut: »Hey!«

Margo packte Pendergast am Arm. »Aber rufen Sie nichts, was das Monster nicht verstehen soll«, zischte sie.

»Miß Green, ich glaube nicht, daß das die richtige Zeit für einen Witz ist«, fauchte Pendergast. »Außerdem versteht es bestimmt kein Englisch.«

»Das kann man so nicht sagen. Natürlich gehen wir ein Risiko ein, wenn wir den Daten aus dem Extrapolator vertrauen. Aber das Wesen hat ein hochentwickeltes Gehirn und hält sich wahrscheinlich bereits seit Jahren im Museum auf. Da kann es schon sein, daß es ab und zu ein paar Worte aufgeschnappt und sich gemerkt hat. Auf jeden Fall sollten wir kein Risiko eingehen.«

»Wie Sie wollen«, flüsterte Pendergast. Dann sagte er laut: »Wo sind Sie? Können Sie mich hören?«

»Ja!« rief Margo. »Aber ich habe mich verlaufen! Helfen Sie mir! Hallo, ist da sonst noch jemand?«

»Das muß es gehört haben«, sagte Pendergast leise. »Jetzt können wir nur noch warten.« Er kniete sich hin und hielt die Fünfundvierziger mit beiden Händen schußbereit vor sich. »Leuchten Sie mit der Taschenlampe an die Ecke des Ganges und bewegen Sie den Strahl hin und her, als suchten Sie nach dem richtigen Weg. Wenn ich das Wesen sehe, gebe ich Ihnen ein Zeichen. Dann schalten Sie die Grubenlampe an und halten sie auf das Wesen gerichtet, ganz gleichgültig, was geschieht. Wenn es wütend ist – wenn es jetzt nur noch aus Rache Jagd macht –, dann müssen wir es mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln stoppen. Wir haben nur gute dreißig Meter Gang zur Verfügung, dann müssen wir es geschafft haben. Wenn es so schnell laufen kann, wie Sie gesagt haben, dann braucht die Kreatur für diese Entfernung höchstens ein paar Sekunden. Sie dürfen also nicht zögern und auf gar keinen Fall in Panik geraten.«

»Ein paar Sekunden«, sagte Margo. »Ich habe schon verstanden.«

 

Garcia kniete vor den Monitoren, die Wange am Kolben seiner Schrotflinte, deren Lauf in die Dunkelheit zielte. Vor ihm waren undeutlich die Umrisse des Türrahmens zu erkennen. Hinter Garcia stand Waters, den Revolver schußbereit. »Wenn es hereinkommt, schießt du drauf, solange du Munition hast«, sagte Garcia. »Ich habe nur noch acht Schuß. Die versuche ich mir so einzuteilen, daß du mindestens einmal nachladen kannst, bevor es uns erreicht. Und mach die Taschenlampe aus, oder willst du dem Monster unsere Position verraten?«

Die anderen in der Sicherheitszentrale – Allen, der Programmierer und Nesbitt – kauerten an der hinteren Wand unter der jetzt dunklen Kontrolltafel für das Sicherheitssystem.

Waters zitterte am ganzen Körper. »Das Ding hat ein Sondereinsatzkommando ausgelöscht«, sagte er mit bebender Stimme.

Wieder warf sich etwas gegen die Tür, die krachend aus den Angeln platzte. Waters schrie auf und rannte nach hinten, wobei seine Waffe polternd zu Boden fiel.

»Komm sofort zurück, Waters, du verdammter Feigling!«

Garcia hörte das schreckliche Geräusch von Knochen, die gegen Metall prallten. Waters mußte sich wohl beim Sprung unter einen der Tische furchtbar den Kopf angehauen haben. »Haltet es auf!« schrie er. »Laßt es nicht zu mir kommen.«

Garcia zwang sich, wieder zu der Tür zu sehen, und versuchte, seine Flinte ruhig zu halten. Als sich das Wesen ein weiteres Mal gegen die Tür warf, schlug Garcia sein ekelerregender Geruch mit voller Wucht entgegen. Eigentlich wollte er gar nicht sehen, was sich da gewaltsam Zugang zu dem Raum zu verschaffen versuchte, er hätte am liebsten die Augen zugemacht. Er fluchte und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Auf einmal ging ihm unvermittelt ein alter Kinderreim im Kopf herum, den ihm seine Mutter vor vielen Jahren beigebracht hatte:

Bist du still, du böses Kind

hörst du auf, so laut zu schrei’n?

Still, sonst könnte es gut sein,

daß Bonaparte kommt geschwind

Und er schlägt dich, und er schlägt dich

und er schlägt dich gleich zu Brei

und er brät dich, und er brät dich,

brät dich wie ein Spiegelei.

Als Garcia bemerkte, daß er das Lied laut vor sich hin sang, hörte er sofort damit auf. Er horchte in den Raum. Alles war still, bis auf Waters Schluchzen.

 

Margo leuchtete mit der Taschenlampe den Gang entlang und versuchte, den Strahl so zu bewegen, als suche jemand nach einem Ausgang. Das Licht huschte über die Wände und den Boden und wurde von den Schaukästen matt zurückgeworfen. Margos Herz klopfte ihr bis zum Hals, und ihr Atem ging in kurzen, abgehackten Stößen.

»Hilfe!« rief sie noch einmal. »Wir haben uns verlaufen!« Ihre Stimme kam ihr ungewöhnlich heiser vor.

Von um die Ecke waren jetzt keine Geräusche mehr zu hören. Vermutlich stand die Kreatur still und horchte. »Hallo?« rief Margo, die sich dazu überwinden mußte. »Ist da jemand?«

Ihre Stimme hallte von den Wänden des Gangs wider und verlor sich in der Stille. Margo wartete und starrte angestrengt ins Halbdunkel.

In der Entfernung, wo der Strahl der Taschenlampe nicht mehr hinreichte, schälte sich langsam ein schwarzer Umriß aus der Dunkelheit. Er kam ein paar Schritte näher, dann blieb er stehen. Das Wesen hob den Kopf und ließ ein seltsam feucht klingendes Schnüffeln hören.

»Noch nicht!« flüsterte Pendergast.

Der Schatten schob sich noch ein wenig weiter um die Ecke.

Das Schnüffeln wurde lauter, und dann stach Margo der Gestank, der den Gang entlanggeweht kam, in die Nase.

Das Monster tat einen weiteren Schritt auf sie zu.

»Noch nicht!« flüsterte Pendergast abermals.

 

Garcias Hand zitterte so sehr, daß er kaum auf den Sprechknopf des Funkgeräts drücken konnte.

»Coffey!« zischte er. »Coffey, um Himmels willen! Hören Sie mich?«

»Hier ist Agent Slade in der vorderen Kommandozentrale. Wer spricht da?«

»Garcia aus der Sicherheitszentrale«, sagte Garcia, der flach und rasch atmete. »Wo ist Coffey? Wo ist Coffey?«

»Special Agent Coffey ist momentan nicht zu sprechen. Ich habe vorübergehend die Leitung der Operation übernommen, bis der Regionalleiter eintrifft. Agent Coffey ist mit dem Stellvertretenden Bürgermeister auf dem Weg hierher. Wie ist die Lage bei Ihnen?«

»Wie die Lage bei uns ist?« Garcia lachte verzweifelt. »Wir stecken bis über beide Ohren in der Scheiße, das ist unsere Lage. Das Monster ist vor der Tür. Es bricht sie auf. Schicken Sie uns jemand zur Hilfe, ich flehe Sie an!«

»Mist!« war Slades Stimme aus dem Lautsprecher zu hören.

»Warum hat man mir nichts davon gesagt?« Garcia hörte, wie jemand Slade etwas zuflüsterte. »Garcia?« sagte der Special Agent dann. »Haben Sie eine Waffe?«

»Was nützt schon eine Schrotflinte gegen dieses Ding?« flüsterte Garcia, den Tränen nahe. »Da bräuchte man schon eine Panzerfaust oder etwas Ähnliches. Helfen Sie uns, bitte!«

»Hören Sie, Garcia, ich bin gerade dabei, wieder etwas Ordnung in die Operation zu bringen. Hier in der Kommandozentrale geht es drunter und drüber. Halten Sie noch einen Augenblick lang aus. Wie soll das Monster überhaupt durch die Tür der Sicherheitszentrale kommen? Die ist doch aus Metall, oder etwa nicht?«

»Sie ist aus Holz, Slade, da hat man wohl wieder am falschen Ende gespart!« sagte Garcia, dem jetzt die Tränen die Wangen herunterliefen.

»Aus Holz? Was ist das nur für ein Saustall hier? Garcia, jetzt hören Sie mir mal genau zu. Selbst wenn wir jetzt gleich jemanden ins Museum schicken würden, könnten die Leute frühestens in zwanzig Minuten bei Ihnen sein.«

»Bitte –«

»Sie müssen mit der Situation selbst fertig werden. Ich weiß nicht, was bei Ihnen los ist, Garcia, aber Sie müssen sich jetzt zusammennehmen. Wir holen Sie raus, sobald wir können. Bis dahin müssen Sie Ruhe bewahren, und wenn das Monster kommt, zielen Sie –«

Garcia sank zu Boden, und sein Finger glitt vom Knopf des Funkgeräts. Es war hoffnungslos. Sie waren alle verloren.