TEIL
DREI
Der auf allen vieren geht
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Kurz vor sieben Uhr bildete sich vor dem Westeingang des Museums ein wahres Knäuel von Taxen und Limousinen, deren elegant gekleidete Fahrgäste rasch ausstiegen. Die Männer in ihren Smokings sahen alle ziemlich gleich aus, aber die Frauen trugen die unterschiedlichsten Pelze zur Schau. Unter vom Wind gebeutelten Schirmen eilten sie auf dem roten Teppich die Treppe hinauf und versuchten sich, so gut es ging, vor dem strömenden Regen zu schützen, der die Gehsteige in Sturzbäche und die Rinnsteine in schäumende Flüsse verwandelt hatte.
Drinnen hallte die Große Rotunde, in der sonst zu dieser Stunde tiefe Stille herrschte, von Tritten tausender teurer Schuhe wider, die an den Topfpalmen vorbei über den Marmorboden in Richtung auf die Halle des Himmels gingen. Die Halle selbst war mit mächtigen, von violetten Scheinwerfern angestrahlten Bambusbüschen in großen Töpfen geschmückt. An den Stengeln des Bambus waren hängende Orchideen geschickt befestigt, die das Gefühl eines tropischen Gartens vermittelten.
Irgendwo im Inneren der Halle spielte eine Kapelle »New York, New York«. Eine ganze Armee von weißgekleideten Kellnern bewegte sich geschickt durch die Menge und balancierte große Silberplatten voller Champagnergläser und Hors d’œuvres. Gerade angekommene Gäste mischten sich unter die Wissenschaftler und die anderen Angestellten des Museums, die sich bereits an dem kostenlosen Essen gütlich taten. Blaues Scheinwerferlicht glitzerte auf langen, mit Pailletten bestickten Abendkleidern, Diamantenkolliers, goldenen Manschettenknöpfen und Diademen.
Praktisch über Nacht war die Eröffnung der Aberglaube-Ausstellung zu dem gesellschaftlichen Ereignis der New Yorker Schickeria geworden. Coming-out-Partys und Wohltätigkeitsessen wurden von der Chance, einmal mit eigenen Augen zu sehen, was hier eigentlich wirklich los war, auf die hinteren Plätze verwiesen. Obwohl man nur dreitausend Einladungen verschickt hatte, waren beim Museum fünftausend Zusagen eingegangen.
Smithback, der einen schlechtsitzenden Smoking mit breiten, spitzzulaufenden Revers trug und diesen Fauxpas auch noch mit einem gerüschten Hemd krönte, spähte in der Halle des Himmels umher und suchte nach bekannten Gesichtern.
An einem Ende des Raums hatte man ein großes Podium errichtet. An der Seitenwand daneben befand sich der sorgfältig dekorierte Eingang zur Ausstellung, der momentan noch verschlossen war und von zwei Polizisten bewacht wurde. Eine große Tanzfläche in der Mitte der Halle füllte sich rasch mit tanzenden Paaren. Als Smithback in die Halle trat, schlugen ihm sofort unzählige, oft schmerzhaft laut geführte Diskussionen entgegen.
»– kennen Sie Grant, diese neue Psycho-Historikerin? Nun, gestern taucht sie doch überraschend bei mir auf und erzählt mir, woran sie die ganze Zeit über gearbeitet hat. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Sie versucht zu beweisen, daß Heinrich der Vierte seine Untaten nach dem Zweiten Kreuzzug in Wirklichkeit in einem Dämmerzustand begangen haben soll, der durch akute Streßeinwirkung hervorgerufen wurde. Ich mußte mich wirklich zusammennehmen, um ihr nicht zu sagen, daß –«
»– und dann kam er doch tatsächlich mit der lächerlichen Idee daher, daß die Stabianischen Bäder nichts weiter als Pferdeställe waren! Dabei war der Mann noch nicht einmal in Pompeji! Er würde ja auch die Villa der Mysterien nicht von einer Pizza-Hut-Filiale unterscheiden können. Und doch besitzt er die Frechheit, sich Papyrologe zu schimpfen –«
»– Sie etwa meine neue Forschungsassistentin? Die mit den enormen Möpsen? Nun, gestern stand sie am Sterilisator und ließ ein Reagenzglas fallen, in dem ausgerechnet –«
Smithback atmete tief durch, stürzte sich tiefer in die Menge und versuchte, sich zu den Tischen mit den Hors d’œuvres durchzukämpfen. Das kann ja heiter werden, dachte er.
Vor den Türen zur Großen Rotunde beobachtete D’Agosta, wie in einem wahren Gewitter von Blitzlichtern wieder ein Prominenter hereinkam, ein etwas aufgedunsener, aber gutaussehender Bursche, flankiert von zwei mageren Frauen.
D’Agosta hatte sich einen Standplatz gewählt, von wo aus er ein Auge auf die Metalldetektoren und die vielen Leute werfen konnte, die jetzt durch den einzigen Eingang in die Halle des Himmels strömten. Der Boden der Rotunde war rutschig vom hereingetragenen Regenwasser, und an der Garderobe wurden jede Menge tropfender Schirme abgegeben.
In einer etwas entfernten Ecke hatte das FBI seinen vorgeschobenen Sicherheitsposten eingerichtet: Offensichtlich wollte Coffey für die Ereignisse des Abends einen Platz in der ersten Reihe haben. D’Agosta mußte lachen. Die FBI-Agenten hatten zwar versucht, möglichst unauffällig zu wirken, aber das Netz von Elektro-, Telefon-, Glasfaser- und Breitbandkabeln, das wie die Arme eines Oktopus von dem provisorisch eingerichteten Posten in alle Richtungen auseinanderlief, machte ihn in etwa so leicht übersehbar wie einen schlimmen Alkoholkater.
Grollender Donner ließ das große Gebäude leicht erzittern. Die Wipfel der Bäume an der Hudson River Promenade, deren Blätter gerade Knospen trieben, wurden vom Wind wie wild herumgepeitscht.
D’Agostas Funkgerät knisterte.
»Lieutenant, hier am Metalldetektor gibt es schon wieder Zoff.«
D’Agosta konnte hören, wie im Hintergrund eine schrille Stimme schrie: »Aber Sie müssen mich doch kennen!«
»Nehmen Sie sie auf die Seite«, befahl D’Agosta. »Wir müssen dafür sorgen, daß die Leute hereinkommen. Wer nicht durch den Metalldetektor gehen will, muß draußen bleiben, weil er sonst den Verkehr aufhält.«
Als D’Agosta sein Funkgerät wieder in sein Halfter am Gürtel zurücksteckte, kam Coffey mit dem Sicherheitschef im Schlepptau auf ihn zu. »Erstatten Sie Bericht!« verlangte er brüsk.
»Alle Leute sind auf ihren Posten«, sagte D’Agosta, nahm seine Zigarre aus dem Mund und untersuchte eingehend ihr feuchtes Ende. »Vier Polizisten in Zivil gehen ständig Streife durch die Party. Vier Männer in Uniform tun dasselbe zusammen mit Ihren Leuten außerhalb der abgeriegelten Zelle. Fünf weitere regeln draußen den Verkehr, und noch einmal fünf sind an den Metalldetektoren und bewachen den Eingang. Drinnen in der Halle habe ich weitere uniformierte Leuten, von denen mir zwei in die Ausstellung folgen werden, sobald diese eröffnet ist. Dann befindet sich einer meiner Leute im Computerraum, einer in der Sicherheitszentrale und einer –«
Coffey blinzelte. »Daß uniformierte Polizisten mit in die Ausstellung gehen, war aber nicht geplant.«
»Das ist eine ganz formlose Angelegenheit. Ich möchte nur, daß wir vier ganz vorn mit dabei sind, wenn die ersten Besucher durch die Ausstellung gehen. Sie wollten sie uns ja nicht noch vor der Eröffnung durchsuchen lassen, erinnern Sie sich noch?«
Coffey seufzte. »Na schön, tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber nicht wie eine gottverdammte Leibwache, verstanden? Ganz unauffällig und ohne den Weg zu irgendwelchen Ausstellungsstücken zu blockieren. Verstanden?«
D’Agosta nickte.
Coffey wandte sich an Ippolito: »Und wie steht es bei Ihnen?«
»Nun, Sir, alle meine Leute sind ebenfalls auf ihren Positionen. Genau dort, wo Sie sie haben wollten.«
»Gut. Meine Operationsbasis während der Eröffnungsfeier wird hier in der Rotunde sein. Danach werde ich meine Leute verteilen. Beim Rundgang durch die Ausstellung gehen Sie, Ippolito, mit D’Agosta ganz vorn mit. Halten Sie sich immer in der Nähe des Museumsdirektors und des Bürgermeisters auf. Sie wissen ja, wie man so was macht. Und Sie, D’Agosta, halten sich gefälligst im Hintergrund. Keine Heldenallüren, haben Sie mich verstanden? Vermasseln Sie sich bloß nicht Ihren letzten Tag hier.«
Waters stand im kühlen, von Neonröhren erleuchteten Computerraum und spürte vom Tragen der schweren Schrotflinte einen leichten Schmerz in der Schulter. Dies war ja wohl der langweiligste Auftrag, den er je bekommen hatte. Er sah hinüber zu dem Saftkopf – diesen Namen hatte er insgeheim dem Computerspezialisten neben sich gegeben –, der nun schon seit Stunden unaufhörlich auf einer Tastatur herumtippte. Dazwischen trank er ab und zu eine Cola-light. Waters schüttelte den Kopf. Morgen früh würde er als erstes D’Agosta bitten, ihn nicht mehr auf diesem Posten einzusetzen. Hier drinnen mußte man mit der Zeit ja verrückt werden.
Der Saftkopf kratzte sich am Hals und streckte sich.
»Langer Tag heute«, sagte er zu Waters.
»Und ob«, erwiderte dieser.
»Aber jetzt bin ich fast fertig. Sie können sich bestimmt nicht vorstellen, was dieses Programm hier alles kann.«
»Da haben Sie möglicherweise recht«, sagte Waters nicht allzu enthusiastisch.
Er sah auf die Uhr. Noch drei Stunden, dann wurde er abgelöst. »Da, sehen Sie mal.« Der Saftkopf drückte auf einen Knopf. Waters trat ein wenig näher an den Monitor heran und sah sich die Zeichen darauf an. Es war nichts weiter als ein paar Worte, irgendwelches unverständliche Kauderwelsch, von dem Waters annahm, daß es das Programm sein mußte.
Dann erschien auf einmal ein kleiner Käfer auf dem Bildschirm. Zuerst war er bewegungslos, dann streckte er seine grünen Beine und fing an, über den Schirm zu laufen. Kurz darauf erschien ein weiterer Käfer, der ebenfalls herumkrabbelte. Als die beiden Käfer sich bemerkten, gingen sie aufeinander zu und fingen an, wie wild zu vögeln.
Waters sah den Saftkopf an. »Was ist denn das, um Himmels willen?« fragte er.
»Sehen Sie weiter«, sagte der Saftkopf.
Einer der Käfer legte Eier, aus denen vier weitere Käfer ausschlüpften, die ebenfalls miteinander vögelten. Nach kurzer Zeit war der ganze Bildschirm voller Käfer, die nun begannen, die Buchstaben aufzufressen. In ein paar Augenblicken gab es kein einziges Wort mehr auf dem Monitor, sondern nur noch überall herumwimmelnde Käfer. Schließlich fingen die Käfer an, sich gegenseitig aufzufressen. Als sie damit fertig waren, war der Bildschirm nur noch schwarz.
»Nicht schlecht, was?« fragte der Saftkopf.
»Ja«, sagte Waters. »Und wofür ist das Programm gut?«
»Das ist nur –«, der Saftkopf blickte jetzt etwas verwirrt drein, »das ist ganz einfach ein cooles Programm, sonst nichts. Es ist eigentlich für nichts Bestimmtes da.«
»Und wie lange haben Sie gebraucht, um es zu schreiben?« fragte Waters.
»Zwei Wochen«, sagte der Saftkopf stolz und sog die Luft zwischen seinen Zähnen ein. »Natürlich nur in meiner Freizeit, ist doch klar.«
Der Saftkopf wandte sich wieder seinem Terminal zu und begann erneut zu tippen. Waters entspannte sich und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür. Über sich konnte er ganz leise die Musik der Tanzkapelle hören; das Schlagen der Trommeln, die dumpfen Vibrationen der Bässe und das Wimmern der Saxophone. Er glaubte sogar, die Geräusche von Hunderten von tanzenden Füßen hören zu können, die hoch über ihm über den Boden glitten. Und er mußte hier in diesem Irrenhaus aushalten, allein, mit niemandem außer einem Saftkopf, der wie ein Blöder auf seiner Tastatur herumhämmerte. Das äußerste an Abwechslung war, daß der Saftkopf aufstand und sich noch eine Cola-light holte.
Auf einmal hörte er ein Geräusch aus dem Elektroraum.
»Haben Sie das gehört?« fragte Waters.
»Nein«, antwortete der Saftkopf.
Längere Zeit war es wieder still, dann war recht deutlich ein dumpfer Schlag zu vernehmen.
»Was, zum Teufel, war das?« fragte Waters.
»Keine Ahnung«, sagte der Saftkopf. Er hörte mit dem Tippen auf und sah sich um. »Vielleicht sollten Sie mal nachsehen.«
Waters ließ die Hand über den glatten Kolben seiner Schrotflinte gleiten und sah hinüber zu der Tür in den Elektroraum. Vermutlich ist es nichts. Das letzte Mal, als ich mit D’Agosta drin war, war ja auch nichts. Eigentlich sollte er jetzt dort hineingehen und nachsehen. Natürlich konnte er immer Verstärkung aus der Sicherheitszentrale anfordern, die nur ein paar Türen weiter am selben Gang lag. Dort war doch sein Kumpel Garcia – oder nicht?
Auf einmal stand Waters der Schweiß auf der Stirn. Instinktiv wischte er ihn sich mit dem Ärmel ab. Aber er machte keine Bewegung in Richtung auf die Tür zum Elektroraum.