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Smithback warf seine Notizbücher auf den Tisch seiner Lieblingslesenische in der Bibliothek. Er seufzte schwer und quetschte sich hinter den kleinen Tisch, stellte seinen Laptop darauf und schaltete die kleine Leselampe ein. Er war nur einen Steinwurf von dem eichenholzgetäfelten Lesesaal mit seinen roten Lederstühlen und dem offenen Kamin aus Marmor entfernt, in dem in den letzten hundert Jahren kein Feuer mehr gebrannt hatte. Aber Smithback zog die kleinen, abgewetzten Lesenischen dem großen Saal vor. Am liebsten mochte er die, die tief in den Bücherregalen verborgen lagen, wo er Dokumente und Manuskripte, die er sich auf nicht ganz legalen Wegen zeitweise »besorgt« hatte, in aller Ruhe durchsehen oder auch mal eine Runde schlafen konnte.

Die Sammlung des Museums an aktuellen, alten und seltenen Büchern über Naturgeschichte war beispiellos. Es hatte im Lauf der Jahre so viele Nachlässe und Privatsammlungen geschenkt bekommen, daß der Katalog praktisch immer hoffnungslos dem wahren Bestand hinterherhinkte. Dennoch kannte Smithback die Bibliothek besser als manche der Bibliothekare und konnte sich in Rekordzeit sensationelle Informationen verschaffen.

Jetzt saß er mit geschürzten Lippen da und dachte nach. Moriarty war ein sturer Bürokrat, und aus Kawakita hatte Smithback auch nichts herausholen können. Sonst kannte er leider niemanden, der ihm Zugang zur Katalogdatenbank der Sammlungen verschaffen konnte. Aber vielleicht gab es ja noch mehr Wege als nur den einen, um dieses Rätsel zu lösen.

Im Katalog für Mikrofilme begann er, sich durch den Index der New York Times zu arbeiten. Er fing an mit dem Jahr 1985 und ging zuerst nach vorne, dann zurück bis 1975. Aber er fand nichts, genausowenig wie in den wichtigsten Zeitschriften für Anthropologie und Naturgeschichte.

Dann sah er sich die alten Ausgaben der museumsinternen Zeitschrift an, ob dort vielleicht etwas über die Expedition zu finden war. Auch nichts. Im Who is Who des Museums von 1985 fand er zwar eine zwei Zeilen lange Biographie von Whittlesey, aber die sagte ihm auch nicht mehr, als er ohnehin schon gewußt hatte.

Der Kerl ist ja besser versteckt als der Schatz im Silbersee, knurrte er leise.

Smithback stellte die Bände langsam wieder ins Regal zurück und sah sich um. Dann ging er, nachdem er ein paar Seiten aus seinem Notizbuch gerissen hatte, unbekümmert zum Tisch der diensttuenden Bibliothekarin, allerdings nicht, ohne sich vorher vergewissert zu haben, daß er dieser noch nicht bekannt war.

»Ich muß die nur rasch wieder zurück ins Archiv bringen«, sagte er und zeigte der Bibliothekarin die Blätter aus seinem Notizbuch.

Sie zwinkerte ihn ein wenig verwirrt an. »Sind Sie neu hier?« »Ich komme aus der Wissenschaftsbibliothek. Bin erst letzte Woche hierher versetzt worden. Wir wechseln ab und zu, wissen Sie.« Smithback schenkte ihr ein Lächeln, von dem er hoffte, daß es freundlich und echt wirkte.

Sie runzelte unsicher die Stirn, als das Telefon auf ihrem Tisch zu läuten begann. Die Bibliothekarin zögerte, dann hob sie ab und gab Smithback ein Klemmbrett und einen Schlüssel an einer langen, blauen Kordel. »Unterschreiben Sie hier«, sagte sie, während sie die Sprechmuschel mit der Hand bedeckte.

Die Archive der Bibliothek lagen hinter einer unscheinbaren grauen Tür in einer abgelegenen Ecke hinter den Regalen. Smithback spielte in mehrerlei Hinsicht ein gewagtes Spiel.

Aber wenigstens war er schon einmal hiergewesen, und zwar ganz offiziell. Er wußte, daß der Hauptteil des Museumsarchivs sich anderswo befand und daß die Teile des Archivs, die in der Bibliothek untergebracht waren, sehr spezifisch waren. Aber noch etwas anderes bereitete ihm Sorgen. Er schloß die Tür und fing an, die Etiketten auf den in Regalen gestapelten Schachteln zu lesen.

Als er ein Regal abgeschritten hatte und sich eben das nächste vornehmen wollte, blieb er stehen. Vorsichtig griff er nach oben und holte eine Schachtel herunter, auf der stand: Transportbelege: Luftfracht. Er ging in die Hocke und blätterte rasch die darin enthaltenen Papiere durch.

Dabei ging er bis 1975 zurück. Enttäuscht sah er alles noch einmal durch. Nichts.

Als er die Schachtel wieder hinaufstellte, fiel sein Blick auf eine zweite: Ladepapiere, 19701990. Er konnte nicht mehr als höchstens fünf Minuten riskieren.

Als er fast den ganzen Stapel durchgeblättert hatte, hielt er inne. »Hab ich dich«, flüsterte er und zog ein fleckiges Stück Papier heraus. Aus seiner Jackentasche holte er ein kleines Diktiergerät und sprach leise die relevanten Daten und Orte hinein: Belém; Hafen von New Orleans; Brooklyn. Die Strella de Venezuela – Stern von Venezuela. Seltsam, dachte er. Lag ganz schön lange in New Orleans, das Schiff.

 

»Sie machen ja einen ziemlich zufriedenen Eindruck«, sagte die Bibliothekarin, während sie den Schlüssel wieder zurück in die Schreibtischschublade legte.

»Schönen Tag noch«, flötete Smithback und trug sich auf dem Klemmbrett wieder aus. »Sebastian Melmoth, Ein: 11 Uhr 10, Aus: 11 Uhr 25

 

Zurück im Mikrofilmkatalog überlegte Smithback: Er wußte, daß die Zeitung in New Orleans einen ziemlich komischen Namen hatte, der irgendwie vorsintflutlich klang – richtig, Times-Picayune, so hieß sie.

Rasch suchte er sie im Katalog. Da war sie ja: Times-Picayune, 1840 bis heute.

Smithback legte die Mikrofilmrolle von 1987 in die Maschine. Als er sich dem Oktober näherte, drehte er immer langsamer, bis er schließlich stoppte. Eine große Schlagzeile sprang ihm vom Bildschirm des Lesegerätes in die Augen.

»Ach du meine Güte«, hauchte er.

Jetzt wußte er ganz genau, warum Whittleseys Kisten so lange in New Orleans geblieben waren.