MONTAG
4
Als Margo Green um die Ecke der Zweiundsiebzigsten Straße West ging, schien ihr die frühe Morgensonne voll ins Gesicht. Einen Augenblick lang blickte sie zwinkernd nach unten, dann warf sie ihre braunen Haare in den Nacken und überquerte die Straße. Das New York Museum of Natural History ragte mit seiner riesigen neuromanischen Fassade wie eine Burg vor ihr auf und reckte seine runden Türme und grünen Kupferdächer hoch über den Wipfeln einer Reihe von Gingko-Bäumen in den Himmel.
Margo ging die kopfsteingepflasterte Zufahrt zum Eingang für Mitarbeiter hinunter, vorbei an einer Laderampe und auf den mit Granit verkleideten Tunnel zu, der zu den Innenhöfen des Museums führte. Als sie aus dem Eingang intermittierendes Rotlicht zucken sah, wurde sie langsamer. In dem Innenhof am anderen Ende des Tunnels standen wild durcheinander Kranken- und Streifenwagen und ein Fahrzeug des Katastrophenschutzes.
Margo betrat den Tunnel und ging auf die gläserne Pförtnerloge zu. Normalerweise hockte Curly, der alte Wachmann, zu dieser frühen Stunde noch mit einer schon ganz schwarz gewordenen Calabashpfeife vor seinem dicken Bauch in einem Stuhl und döste. Heute aber stand er hellwach da. »Morgen, Frau Doktor«, sagte er und öffnete die Tür. Curly nannte praktisch jeden »Doktor«, vom Studenten bis hin zum Museumsdirektor, egal, ob sie diesen Titel wirklich trugen.
»Was ist denn hier los?« fragte Margo.
»Ich weiß nicht«, antwortete Curly. »Sie sind erst vor zwei Minuten hier reingefahren. Aber ich schätze, ich sollte heute mal besser Ihren Ausweis kontrollieren.«
Margo wühlte in ihrer Umhängetasche herum und fragte sich, ob sie ihn überhaupt dabei hatte. Seit Monaten hatte hier niemand mehr ihren Museumsausweis verlangt.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn überhaupt eingesteckt habe«, sagte sie und ärgerte sich, daß sie seit dem Winter ihre Tasche nicht mehr ausgeräumt hatte. Ihre Freunde in der Anthropologischen Abteilung hatten sie erst kürzlich im Scherz für die »schlampigste Tasche des Museums« geehrt.
Das Telefon in der Pförtnerloge klingelte, und Curly hob ab. Margo fand ihren Ausweis und hielt ihn ans Fenster, aber Curly beachtete sie nicht, sondern hörte mit weit aufgerissenen Augen zu.
Als er auflegte, sagte er kein Wort, aber der Schreck war ihm sichtlich in die Glieder gefahren.
»Nun?« fragte Margo. »Was ist passiert?«
Curly nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ist besser, wenn Sie das nicht wissen«, sagte er. Das Telefon klingelte abermals. Curly wirbelte herum und nahm den Hörer ab.
Margo hatte den alten Wachmann sich noch nie so schnell bewegen gesehen. Sie zuckte mit den Achseln, steckte den Ausweis wieder in ihre Tasche und ging weiter. Das nächste Kapitel ihrer Dissertation wurde bald fällig, und sie hatte keine Zeit zu verlieren. Die vergangene Woche hatte sie ohnehin abschreiben müssen – da war die Beerdigung ihres Vaters gewesen und all die Formalitäten und Telefongespräche. Sie hatte eine Menge nachzuholen.
Margo schritt über den kopfsteingepflasterten Hof und betrat das Museum durch den Mitarbeitereingang. Dann wandte sie sich nach rechts und eilte einen langen Gang entlang zur Anthropologischen Abteilung. Die Büros der festangestellten Mitarbeiter waren alle noch dunkel, was sie bis neun, halb zehn Uhr normalerweise auch bleiben würden. Als der Korridor einen scharfen Rechtsknick machte, blieb Margo stehen. Quer über den Gang spannte sich gelbes Plastikband, auf dem sie lesen konnte: »POLIZEI VON NEW YORK – TATORT – BETRETEN VERBOTEN«. Jimmy, ein Aufseher, der normalerweise die Halle mit dem peruanischen Gold bewachte, stand zusammen mit Gregory Kawakita, dem jungen stellvertretenden Kurator der Abteilung für Evolutionäre Biologie, vor der Absperrung.
»Was ist denn hier passiert?« fragte Margo.
»Ein Musterbeispiel für die Effizienz dieses Museums«, sagte Kawakita mit einem trockenen Grinsen. »Man hat uns ausgesperrt.«
»Mir haben sie nur gesagt, daß ich niemanden durchlassen darf«, sagte der Wärter nervös.
»Hören Sie, guter Mann«, sagte Kawakita. »Ich muß morgen einen wichtigen Vortrag vor der National Science Foundation halten und habe deshalb einen langen Tag vor mir. Wenn Sie mich jetzt bitte weitergehen lassen würden –«
Jimmy sah aus, als wäre es ihm nicht besonders wohl in seiner Haut. »Ich mache hier nur meinen Job, okay!«
»Na los, kommen Sie«, sagte Margo zu Kawakita. »Lassen Sie uns einen Kaffee trinken. Vielleicht weiß ja jemand von den anderen, was hier gespielt wird.«
»Erst muß ich noch auf die Toilette, falls ich eine finden kann, die noch nicht versiegelt ist«, antwortete Kawakita gereizt. »Ich treffe Sie dann im Aufenthaltsraum.«
Die Tür zum Aufenthaltsraum der Angestellten, die sonst immer sperrangelweit offen stand, war heute zu. Mit der Hand am Türknopf fragte sich Margo einen Moment, ob sie wohl auf Kawakita warten sollte. Aber dann öffnete sie entschlossen die Tür. Wenn sie erst mal auf den angewiesen war, dann war schon alles zu spät.
Zwei Polizisten drehten ihr den Rücken zu und unterhielten sich. »Wie oft ist das nun schon passiert? Das sechste Mal?« fragte einer mit einem Kichern.
»Ich habe nicht mitgezählt«, antwortete der andere. »Aber viel von seinem Frühstück dürfte er nicht mehr im Magen haben.« Als die beiden Polizisten zur Seite traten, konnte Margo in den Aufenthaltsraum blicken.
In dem großen, leeren Raum beugte sich jemand an der hinteren Wand über ein Spülbecken. Nach einer Weile richtete der Mann sich auf, wischte sich den Mund ab und drehte sich um. Margo erkannte ihn als Charlie Prine, den Konservator, der bei der Anthropologischen Abteilung einen sechsmonatigen Zeitvertrag bekommen hatte, um Objekte für die neue Ausstellung herzurichten. Sein Gesicht war aschfahl und ausdruckslos.
Einer der Polizisten hob seine Hand in Richtung Margo, mußte sich dann aber um sein Funkgerät kümmern, das auf einmal loskrächzte. Dann sagte er leise etwas zu seinem Kollegen, der Prine sanft in Richtung Tür schob.
Margo trat zur Seite und ließ die Gruppe passieren. Prine ging steif wie ein Roboter. Margo senkte instinktiv den Blick.
Prines Schuhe waren voller Blut.
Er blickte mit leeren Augen auf Margo und bemerkte, wo sie hinstarrte. Dann sah auch er an sich herab und blieb so abrupt stehen, daß der Polizist von hinten auf ihn auflief.
Prines Augen wurden groß und weiß. Er schluchzte und stöhnte in Panik auf, und die Polizisten mußten ihn packen und aus dem Raum schieben.
Margo lehnte sich an die Wand und versuchte, ihr wie rasend schlagendes Herz zu beruhigen, als Kawakita hereinkam, gefolgt von mehreren anderen. »Das halbe Museum ist abgesperrt«, sagte er kopfschüttelnd und goß sich eine Tasse Kaffee ein. »Niemand kommt mehr in sein Büro.«
Als hätte sie nur auf dieses Stichwort gewartet, plärrte die altersschwache Lautsprecheranlage des Museums plötzlich los: »ACHTUNG, ACHTUNG. ALLE ANGESTELLTEN, DIE NICHT VON DER POLIZEI ANDERSWO BENÖTIGT WERDEN, MÖCHTEN BITTE SOFORT IN DEN AUFENTHALTSRAUM KOMMEN.«
Margo und Kawakita setzten sich und sahen zu, wie immer mehr Kollegen in Zweier- oder Dreiergruppen hereinkamen. Hauptsächlich waren es Labortechniker und Assistenzkuratoren ohne festen Vertrag; für die wirklich wichtigen Leute war es noch zu früh. Margo betrachtete sie geistesabwesend. Kawakita sagte etwas, aber sie hörte nicht zu.
Innerhalb von zehn Minuten war der Raum voller Leute. Alle redeten durcheinander und waren wütend, weil sie nicht in ihre Büros durften. Man beschwerte sich, daß niemand irgend etwas erklärte, und lauschte mit schockiertem Gruseln jedem neuen Gerücht, das die Runde machte. Dies hier war mit Abstand das Aufregendste, was seit langem in diesem langweiligen, verstaubten Museum passiert ist.
Kawakita schüttete seinen Kaffee hinunter und verzog das Gesicht. »Was ist, werden Sie nun einen Blick auf das Sediment werfen oder nicht?« fragte er und sah Margo direkt in die Augen. »Was ist los, Margo, sind Sie auf einmal mit Stummheit geschlagen? Seit wir hier sitzen, haben Sie noch kein einziges Wort gesagt.«
Stockend erzählte Margo ihm ihr Erlebnis mit Prine. Kawakita verzog sein gutaussehendes Gesicht. »Mein Gott«, sagte er schließlich, »was meinen Sie wohl, daß passiert ist?«
Weil sein Bariton plötzlich durch den ganzen Raum zu schallen schien, bemerkte Margo, daß sämtliche andere Gespräche in dem Aufenthaltsraum verstummt waren. In der Tür stand ein kräftig gebauter Mann mit Halbglatze. Er trug einen schlechtsitzenden, braunen Anzug, aus dessen Jackettasche ein Handfunkgerät ragte. Zwischen den Zähnen des Mannes, der jetzt, gefolgt von zwei uniformierten Polizisten, langsam zwischen den Tischreihen hindurchschritt, steckte eine unangezündete Zigarre.
Als er vorn angekommen war, baute er sich breitbeinig vor den versammelten Angestellten auf, zog seine Hose hoch, nahm die Zigarre aus dem Mund und bohrte mit der Zunge ein Stückchen Tabak aus den Zähnen. Dann räusperte er sich laut und vernehmlich. »Würden Sie mir bitte für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit schenken«, begann er. »Ich fürchte, Sie werden es wohl noch eine Weile mit uns aushalten müssen.«
Von hinten im Raum erhob sich eine vorwurfsvolle Stimme: »Entschuldigen Sie bitte, Mr. – wie war doch Ihr Name?« Margo hob den Kopf und blickte in die Menge. »Das ist Freed«, flüsterte Kawakita ihr zu. Margo hatte schon von Frank Freed, dem leicht reizbaren Kurator der fischkundlichen Abteilung, gehört.
Der Mann im braunen Anzug sah Freed an. »Ich bin Lieutenant D’Agosta«, bellte er. »Von der New Yorker Polizei.«
Diese Antwort hätte wohl viele andere zum Verstummen gebracht, aber Freed, ein ausgezehrter Mann mit langen, grauen Haaren, zeigte sich unbeeindruckt. »Vielleicht«, sagte er mit sarkastischem Unterton, »hätten Sie die Güte, uns darüber aufzuklären, was hier eigentlich vor sich geht? Ich denke, wir haben ein Recht, zu erfahren –«
»Ich würde Sie ja gerne über alles informieren«, schnitt D’Agosta ihm das Wort ab, »aber momentan weiß ich selbst nicht mehr, als daß hier im Gebäude eine Leiche gefunden wurde, deren nähere Todesumstände wir gegenwärtig ermitteln. Wenn –«
Alle Anwesenden redeten plötzlich wild durcheinander. D’Agosta hob müde die Hand.
»Ich kann Ihnen nur sagen, daß die Mordkommission im Haus ist und daß die Untersuchungen laufen«, fuhr er mit lauter Stimme fort. »Ab sofort ist das Museum geschlossen. Momentan darf es niemand betreten und auch niemand verlassen. Wir hoffen, daß es sich hierbei nur um eine vorübergehende Maßnahme handeln wird.«
D’Agosta machte eine Pause. »Wenn es sich wirklich um einen Mord handeln sollte, dann gibt es die Möglichkeit – die Möglichkeit, habe ich gesagt –, daß sich der Täter noch immer im Gebäude aufhält. Wir möchten Sie lediglich bitten, eine oder zwei Stunden hierzubleiben, bis wir alles durchsucht haben. Ein Beamter wird später Ihre Personalien aufnehmen.«
In der verblüfften Stille, die dieser Ansprache folgte, verließ D’Agosta den Raum und schloß die Tür hinter sich. Einer der zurückgebliebenen Polizisten holte sich einen Stuhl und setzte sich demonstrativ vor die Tür. Langsam wurden die Gespräche wieder aufgenommen. »Soll das heißen, daß wir hier eingesperrt sind?« rief Freed. »Das ist ja ungeheuerlich.«
»Du meine Güte«, hauchte Margo. »Meinen Sie, daß Prine der Mörder ist?«
»Schrecklich, nicht wahr?« sagte Kawakita. Er stand auf und ging hinüber zu der Kaffeemaschine, wo er sich mit einer energischen Handbewegung die letzten Tropfen aus der Kanne einschenkte. »Aber nicht mal halb so schrecklich wie die Vorstellung, daß ich morgen womöglich unvorbereitet meinen Vortrag halten muß.«
Margo wußte, daß junge Überflieger wie Kawakita niemals wirklich unvorbereitet waren.
»Ein gutes Image ist heutzutage einfach alles«, fuhr Kawakita fort. »Mit Wissenschaft allein läßt sich so gut wie kein Forschungsauftrag mehr an Land ziehen.«
Margo nickte mechanisch. Sie hörte Kawakita, hörte das Gemurmel der vielen Stimmen um sie herum, aber nichts von alledem schien ihr wichtig. Sie mußte ständig an das Blut auf Prines Schuhen denken.