VIER WOCHEN SPÄTER

62

Als Margo in Frocks Büro kam, waren Pendergast und D’Agosta bereits da. Pendergast betrachtete gerade etwas, das auf dem niedrigen Tisch lag, während Frock angeregt auf ihn einredete. D’Agosta ging rastlos im Büro auf und ab. Er wirkte gelangweilt und nahm dieses oder jenes Ding in die Hand, nur um es gleich wieder auf seinen Platz zurückzustellen. Der Latexabguß der Kralle lag wie ein Briefbeschwerer des Grauens auf Frocks Schreibtisch, und der Zuckerguß eines großen Kuchens in der Mitte des Raums, den Frock für Pendergasts Abschiedsfeier spendiert hatte, begann unter den warmen Strahlen der Sonne schon etwas zu schmelzen.

»Als ich das letzte Mal unten in New Orleans war, habe ich dort ganz vorzügliche Langusten mit Gumboschoten gegessen«, sagte Frock und packte Pendergast am Ellenbogen.

»Ah, Margo!« Frock drehte sich um. »Kommen Sie herein, sehen Sie mal.«

Margo ging quer durch das Zimmer hinüber zu den beiden Männern. In der Stadt war nun endgültig der Frühling angebrochen, und durch die großen Fenster konnte sie den weiten, blauen Hudson auf seinem Lauf nach Süden in der Sonne glitzern sehen. Auf der Uferpromenade liefen in einer langen Reihe die Jogger.

Auf dem niedrigen Tisch lag neben Frocks fossilen Fußabdrücken aus der Kreidezeit ein großer Abguß von den Füßen der Kreatur. Frock fuhr die Vertiefungen in dem Stein mit der Hand liebevoll nach. »Wenn schon nicht aus derselben Familie, so doch ganz bestimmt aus derselben Ordnung«, sagte er. »Und daß die Kreatur fünf Zehen an den Hinterläufen hatte, ist eine weitere Verbindung zur Mbwun-Figur.«

Margo sah genauer hin und fand, daß sich die beiden Abdrücke nicht im geringsten ähnelten.

»Konvergierende Evolution vielleicht?« schlug sie vor.

Frock sah sie an. »Das wäre möglich. Aber um das genau zu sagen, bräuchte es Jahre gewissenhaftester Untersuchungen.« Er verzog das Gesicht. »Und das ist ja nun leider nicht mehr möglich, seit uns die Regierung die Überreste des Wesens weggenommen hat. Gott weiß, wozu sie die wohl benötigt.«

Margo nickte. In dem Monat seit der Ausstellungseröffnung hatte sich die Öffentlichkeit, die zunächst schockiert und ungläubig auf die Katastrophe und ihre Ursache reagiert hatte, langsam an die Tatsache gewöhnt, daß eine seltsame Kreatur für die Morde im Museum verantwortlich gewesen war.

In den ersten beiden Wochen waren die Spalten sämtlicher Zeitungen noch voll von Geschichten über das Monster gewesen, wobei die unterschiedlichen Aussagen der Überlebenden gehörig für Verwirrung gesorgt hatten. Der einzige Gegenstand, der die kontroverse Diskussion hätte beenden können – der Kadaver der Kreatur –, war in einem großen, weißen Transporter der Regierung weggebracht und seither nicht wieder gesehen worden. Selbst Pendergast sagte, daß er nichts über seinen Verbleib wisse. Dann wandte sich die Presse der menschlichen Seite der Tragödie zu, den Prozessen, die auf den Hersteller des Sicherheitssystems zukamen und, wenn auch nicht im selben Ausmaß, auf die Polizei und das Museum selbst. Das Time-Magazin brachte eine Titelstory zum Thema: »Wie sicher sind unsere nationalen Institutionen?«

In den letzten Tagen allerdings hatten die Kommentatoren begonnen, das Wesen als eine singuläre Erscheinung zu betrachten: ein Rudiment, wie die Dinosaurier-Fische, die Hochseefischer ab und zu in ihren Netzen zu Tage förderten. Langsam ließ das öffentliche Interesse an der Katastrophe nach. Die Überlebenden der Eröffnungsparty wurden nicht mehr zu Talk-shows eingeladen, die geplante Comicstrip-Serie in den Samstagvormittagsausgaben einer Tageszeitung war wieder abgesetzt worden, und die Museumsmonster-Actionfiguren standen unverkauft in den Regalen der Spielwarengeschäfte herum.

Frock blickte in die Runde. »Verzeihen Sie, ich habe meine Pflichten als Gastgeber sträflich vernachlässigt. Möchte vielleicht jemand einen Sherry haben?«

»Nein, danke«, murmelten die meisten.

»Nur wenn Sie ein Seven-Up zum Verdünnen haben«, sagte D’Agosta. Pendergast schaute D’Agosta strafend an.

D’Agosta nahm den Latexabguß der Kralle von Frocks Schreibtisch und hielt ihn hoch. »Sieht ziemlich übel aus«, sagte er.

»Außergewöhnlich übel sogar«, gab Frock ihm recht. »Sie ist teils von einem Reptil, teils von einem Primaten. Ich möchte Sie nicht mit technischen Einzelheiten langweilen – das überlasse ich Greg Kawakita, dem ich die Daten, die wir haben, zur Analyse gegeben habe –, aber es scheint so, als hätten die reptilischen Gene der Kreatur die Kraft, Geschwindigkeit und Muskelmasse gegeben. Die Primatengene hingegen verliehen eine hohe Intelligenz und machten das Wesen möglicherweise endotherm – das heißt, zu einem Warmblüter. Alles in allem eine ziemlich furchterregende Kombination.«

»Ist mir klar«, sagte D’Agosta und legte den Abguß wieder hin. »Aber was für eine Art von Vieh war es denn nun?«

»Mein lieber Freund«, kicherte Frock, »wir haben einfach noch nicht genügend Daten, um zu sagen, was das Wesen genau war. Und da es sich bei dieser Kreatur offenbar um die letzte ihrer Art handelte, werden wir das womöglich niemals erfahren. Wir haben kürzlich eine Satellitenaufnahme des Tepui bekommen, von dem das Wesen herstammte. Dort ist so gut wie alles zerstört. Die Pflanze, von der sich das Wesen ernährte, die wir übrigens Lilicea mbwunensis getauft haben, wurde für alle Zeiten ausgerottet, denn der Bergbau hat die Sümpfe um das Tepui herum total verseucht, und davon, daß die Hochfläche am Anfang mit Napalm bombardiert wurde, um sie von Pflanzen und Tieren zu säubern, will ich erst gar nicht reden. Nirgendwo anders im Regenwald wurden bisher vergleichbare Kreaturen beobachtet. Normalerweise finde ich solche Umweltzerstörung entsetzlich, in diesem speziellen Fall aber hat sie die Welt möglicherweise vor einem furchtbaren Unheil bewahrt.« Frock seufzte. »Als vorbeugende Maßnahme – und gegen meinen ausdrücklichen Rat, das möchte ich betonen –, hat das FBI alle Fasern des Packmaterials und sämtliche Pflanzenproben der Whittlesey-Expedition vernichtet. Also kann man davon ausgehen, daß die Pflanze nun wirklich ausgestorben ist.«

»Woher wissen wir denn, daß das Wesen das letzte seiner Art war?« fragte Margo. »Könnte es nicht irgendwo noch ein weiteres davon geben?«

»Das ist nicht allzu wahrscheinlich«, antwortete Frock. »Dieses Tepui war eine ökologische Insel – ein in jeder Hinsicht einzigartiger Ort, wo Pflanzen und Tiere über Millionen von Jahren eine genau aufeinander abgestimmte Biosphäre gebildet hatten.«

»Und hier im Museum gibt es ganz bestimmt keine weitere Kreatur«, sagte Pendergast und kam nach vorn. »Mit Hilfe der alten Blaupausen aus dem Stadtarchiv waren wir in der Lage, die unteren Keller Zentimeter für Zentimeter zu durchsuchen. Wir haben dabei jede Menge Dinge von Interesse für Architekten und Stadtarchäologen gefunden, aber keine weitere Spur von einer Kreatur.«

»Als dieses Wesen starb, sah es so traurig aus«, sagte Margo.

»So einsam, daß es mir fast ein wenig leid tat.«

»Es war einsam«, sagte Frock. »Einsam und verloren. Viertausend Meilen weit entfernt von seiner Heimat im Dschungel, mußte es den letzten Überbleibseln der Pflanze hinterherjagen, die sein Lebenselixier war und seine Schmerzen linderte. Aber das Wesen war auch sehr böse, sehr gefährlich und fürchterlich zäh. Bevor sie den Kadaver abtransportierten, konnte ich noch mindestens zwölf Einschußlöcher zählen.«

Die Tür ging auf, und Smithback kam herein. In der einen Hand hielt er theatralisch einen großen, braunen Umschlag vor sich, in der anderen trug er eine Magnumflasche Champagner. Er zog ein paar Seiten Papier aus dem Umschlag und hielt sie mit seinem langen Arm für alle sichtbar in die Höhe.

»Das ist ein Vertrag für ein Buch, Freunde!« sagte er grinsend. D’Agosta blickte finster drein, nahm den Abguß der Klaue vom Schreibtisch und wandte sich ab.

»Der Verleger ist auf alle meine Forderungen eingegangen und hat meinen Agenten damit zu einem reichen Mann gemacht«, krähte Smithback.

»Und Sie selbst bestimmt ebenfalls«, knurrte D’Agosta, der aussah, als wolle er mit der Klaue auf den Journalisten losgehen.

Smithback räusperte sich dramatisch. »Ich habe mich entschlossen, mit der Hälfte meiner Tantiemen einen Fond zur Unterstützung von Officer John Baileys Familie einzurichten.«

D’Agosta wandte sich an Smithback. »Nun hören Sie aber auf«, sagte er.

»Nein, wirklich. Die Hälfte meiner Tantiemen. Aber natürlich erst, nachdem mein Vorschuß abgegolten ist«, fügte er eilig hinzu.

D’Agosta wollte auf Smithback zutreten, blieb dann aber abrupt stehen. »Meine Unterstützung haben Sie, wenn Sie daran gehen, das Buch zu schreiben«, sagte er leise, wobei sein Unterkiefer unbeholfen zuckte.

»Danke, Lieutenant, die kann ich gut gebrauchen.«

»Seit gestern heißt das ›Danke, Captain‹«, bemerkte Pendergast trocken.

»Captain D’Agosta?« fragte Margo. »Dann sind Sie also befördert worden?«

D’Agosta nickte. »Und angeblich mit vollem Recht, wie mir der Polizeipräsident in einer blumigen Ansprache versicherte.« Er deutete mit dem Finger auf Smithback. »Aber was Sie über mich schreiben, möchte ich lesen, bevor es in Druck geht, verstanden?«

»Hey, Moment mal«, sagte Smithback, »es gibt da so etwas wie ein journalistisches Ethos, dem ich –«

»Quatsch«, sagte D’Agosta heftig.

»Das wird bestimmt eine aufregende Zusammenarbeit«, flüsterte Margo zu Pendergast. Dieser nickte.

Es klopfte leise an der Tür, und Greg Kawakita streckte aus dem Vorzimmer seinen Kopf herein. »Oh, tut mir leid, Dr. Frock, Ihre Sekretärin hat mir gar nicht gesagt, daß Sie Gäste haben. Wir können uns die Ergebnisse ja auch später ansehen.«

»Unsinn!« rief Frock. »Kommen Sie rein, Gregory. Mr. Pendergast, Captain D’Agosta, das ist Gregory Kawakita. Er ist der Autor des Extrapolationsprogrammes, das uns ein so genaues Bild von der Kreatur geliefert hat.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Pendergast. »Ohne Ihr Programm wäre wohl heute keiner von uns mehr am Leben.« »Vielen Dank, aber eigentlich ist das Programm Dr. Frocks Idee gewesen«, sagte Kawakita bescheiden und schaute auf den Kuchen. »Ich habe bloß das getan, was er mir gesagt hat. Außerdem gab es ja auch eine Menge Informationen, die der Extrapolator Ihnen nicht gesagt hat. Daß die Augen nach vorne blickten, zum Beispiel.«

»Der Erfolg hat Sie zu bescheiden gemacht, Greg«, sagte Smithback. »Nun, jedenfalls«, fuhr er, an Pendergast gewandt, fort, »habe ich noch ein paar Fragen an Sie. Diesen Champagner hier gibt es nämlich nicht gratis, müssen Sie wissen.« Er sah den FBI-Agenten erwartungsvoll an. »Wessen Leichen haben wir in der Höhle des Monsters denn nun wirklich gefunden?«

Pendergast zuckte kaum merklich mit den Achseln. »Ich schätze, das kann ich Ihnen wohl ohne Einschränkungen sagen – obwohl das nicht veröffentlicht werden darf, bevor es nicht offiziell bekanntgegeben wurde. Außerdem sind bisher erst fünf der acht Leichen identifiziert worden. Zwei von ihnen waren Landstreicher, die sich vermutlich vor der Winterkälte im Keller des Museums verkrochen hatten. Eine weitere Leiche war die eines ausländischen Touristen, dessen Namen wir auf der Vermißtenliste von Interpol gefunden haben. Und dann war da noch die von George Moriarty, dem Assistenten von Ian Cuthbert.«

»Der arme George«, flüsterte Margo. Wochenlang hatte sie es vermieden, an Moriartys letzte Augenblicke, an seinen Todeskampf mit der Kreatur zu denken. So sterben zu müssen und dann wie ein Stück Rindfleisch an einen Haken gehängt zu werden –

Pendergast wartete einen Augenblick, bevor er fortfuhr. »Die fünfte Leiche wurde anhand des Zahnbildes vorläufig als ein Mann namens Montague identifiziert, ein Angestellter des Museums, der vor einigen Jahren spurlos verschwand.«

»Montague«, sagte Frock. »Dann stimmten die Gerüchte also doch.«

»Ja«, sagte Pendergast. »Es sieht so aus, als hätte die Verwaltung des Museums – also Wright, Rickman und Cuthbert, möglicherweise auch Ippolito – schon seit längerem vermutet, daß sich etwas im Keller des Museums herumtrieb. Als man eine große Blutlache im alten Keller fand, ließen sie sie beseitigen, ohne die Polizei zu verständigen. Auch als kurz danach Montagues Verschwinden bekannt wurde, taten diese Leute noch immer nichts, um den Vorfall aufzuklären. Sie hatten vermutlich Grund zur Annahme, daß die Kreatur irgendwie mit der Whittlesey-Expedition in Verbindung stehen mußte. Warum sonst hätte Cuthbert die Kisten in die Sicherheitszone bringen lassen sollen? Im nachhinein betrachtet, war das eine schrecklich dumme Entscheidung, die eigentlich all die Morde überhaupt erst verursacht hat.«

»Da haben Sie recht«, sagte Frock und fuhr mit seinem Rollstuhl wieder zum Schreibtisch. »Jetzt, wo wir wissen, daß das Wesen hochintelligent war, wissen wir auch, daß es verhindern wollte, daß seine Anwesenheit im Museum bekannt wurde. Vermutlich hat es seine gewalttätige Natur jahrelang unterdrückt, um nicht entdeckt zu werden und in den Kellern überleben zu können. Als das Wesen hier im Museum ankam, war es vor lauter Verzweiflung total wild und hat wohl deshalb Montague getötet, als es ihn eines Tages über den Kisten mit den Pflanzenfasern fand. Aber danach wurde es vorsichtig. In den Kisten hatte es einen Vorrat an Nahrung, zumindest solange, wie das Packmaterial reichte. Vermutlich schränkte es seinen Konsum ein, schließlich kamen die Hormone in den Fasern ja in einer sehr hohen Konzentration vor. Dazu besserte das Wesen nebenbei ganz unauffällig seinen Speisezettel auf, indem es in den Kellern Ratten jagte. Ab und zu riß auch mal eine Katze aus der Abteilung für Verhaltensforschung aus, und ein, zwei Mal geriet anscheinend auch ein bedauernswerter Mensch auf der Suche nach einem trockenen Schlafplatz zu tief in die geheimen Gänge des Museums. Aber weil das Wesen immer sorgfältig darauf bedacht war, daß seine Beutezüge niemandem auffielen, konnte es mehrere Jahre so gut wie unbemerkt im unteren Keller überleben.« Frock rutschte knarzend in seinem Rollstuhl herum.

»Und dann passierte es. Die Kisten wurden fortgebracht und in der Sicherheitszone eingeschlossen. Erst bekam die Kreatur Hunger, dann packte sie die schiere Verzweiflung. Vielleicht wurde sie auch von einer mörderischen Wut gepackt auf diejenigen, die ihr seine Pflanzen weggenommen hatten – menschliche Wesen, deren Gehirne einen, wenn auch unzureichenden, Ersatz für diese Fasern boten. Als die Wut in ihm übermächtig wurde, begann die Kreatur, diese anderen Wesen zu töten. Und dann gab es kein Halten mehr. Sie tötete immer wieder.«

Frock tupfte sich mit dem Taschentuch die Stirn ab. »Aber dieses Wesen verlor nicht vollständig den Verstand«, fuhr er fort. »Denken Sie nur daran, wie es die Leiche des Polizisten in der Ausstellung versteckt hat. Obwohl sein Blutdurst geweckt war und seine Gier nach den Fasern fast übermächtig wurde, war es noch in der Lage, zu erkennen, daß die Morde eine für es höchst unwillkommene Aufmerksamkeit bedeuten mußten. Vielleicht hatte es die Leiche von Beauregard ebenfalls in seinen Bau schleppen wollen, aber vermutlich war das ein zu schwieriges Unterfangen. Die Ausstellung befand sich ja weit außerhalb seiner gewohnten Jagdgründe, und so versteckte es die Leiche statt dessen an Ort und Stelle. Schließlich war es hauptsächlich auf die Hypothalamusdrüse scharf, der Rest war lediglich Fleisch für ihn.«

Margo erschauderte.

»Ich habe mich schon mehr als einmal gefragt, warum das Monster wohl in die Ausstellung gegangen ist«, sagte Pendergast.

Frock hob den Zeigefinger. »Das habe ich auch. Und ich glaube, ich kenne den Grund dafür. Denken Sie mal dran, Mr. Pendergast, was sonst noch in der Ausstellung war.«

Pendergast nickte bedächtig. »Natürlich. Die Mbwun-Figur.«

»Genau«, sagte Frock. »Die Figur war ein Abbild des Wesens selbst. Und sie war seine einzige Verbindung zu einer Heimat, die das Wesen für immer verloren hatte.«

»So weit, so gut«, sagte Smithback, »Aber wie konnten Wright und Cuthbert wissen, daß das Ding etwas mit der Whittlesey-Expedition zu tun hatte?«

»Das, glaube ich, kann ich Ihnen beantworten«, sagte Pendergast. »Sie wußten nämlich, warum das Schiff, das die Kisten von Belém nach New York brachte, so lange aufgehalten worden war – und zwar auf demselben Weg, wie Sie es auch herausgefunden haben, Mr. Smithback.«

Smithback wirkte auf einmal nervös. »Nun, ich –«, begann er. »Und außerdem haben Wright und die beiden anderen Whittleseys Tagebuch gelesen. Als dann auch noch Montague verschwand, dem man aufgetragen hatte, den Inhalt der Kisten zu katalogisieren, und eine Blutpfütze in der Nähe der Kisten entdeckt wurde, brauchte man kein Hellseher zu sein, um zwei und zwei zusammenzuzählen. Und außerdem« – Pendergasts Miene verfinsterte sich – »hat mir dies alles Cuthbert mehr oder weniger bestätigt. Natürlich nur, soweit er dazu in der Lage war.«

Frock nickte. »Die drei haben einen schrecklichen Preis bezahlt. Henry und Lavinia sind tot, und Cuthbert ist im Irrenhaus – das ist wirklich unbeschreiblich schlimm.«

»Stimmt«, sagte Kawakita. »Aber es ist ein offenes Geheimnis, daß Sie damit der oberste Anwärter für den Posten des Museumsdirektors sind.«

So was kann ja nur von Kawakita kommen, dachte Margo.

Frock schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, daß man ihn mir anbieten wird, Gregory. Wenn sich die Aufregung erst einmal gelegt hat, werden ganz realistische Überlegungen wieder die Oberhand gewinnen. Ich bin im Kollegenkreis viel zu umstritten für einen Direktorenposten, und außerdem bin ich auch gar nicht scharf darauf. Ich habe hier viel zuviel neues Material, als daß ich mein nächstes Buch noch länger auf die lange Bank schieben könnte.«

»Eines wußten Dr. Wright und die anderen allerdings nicht«, fuhr Pendergast fort, »niemand hier wußte das übrigens, und das war die Tatsache, daß die Kreatur in New Orleans nicht zum ersten Mal getötet hat. In Belém geschah ein ähnlicher Mord, und zwar in dem Lagerhaus, in dem die Kisten zum Weitertransport untergebracht gewesen waren. Das habe ich erfahren, als ich die Morde an Bord des Frachters untersuchte.«

»Dann war Belém wohl die erste Zwischenstation des Monsters auf dem Weg nach New York«, sagte Smithback. »Ich schätze, das rundet die Geschichte irgendwie ab.« Er führte Pendergast hinüber zum Sofa. »Gibt das eigentlich auch Aufschluß darüber, was aus Whittlesey geworden ist, Mr. Pendergast?«

»Es dürfte ziemlich wahrscheinlich sein, daß die Kreatur ihn getötet hat«, sagte Pendergast. »Sagen Sie, Dr. Frock, könnte ich jetzt vielleicht ein Stück von diesem Kuchen haben?«

Smithback hielt seinen Arm fest. »Woher wissen Sie das?« fragte er.

»Daß es Whittlesey umgebracht hat? Das vermuten wir deshalb, weil wir ein Souvenir von ihm in der Höhle der Kreatur gefunden haben.«

»Im Ernst?« Smithback riß sein Diktiergerät aus der Tasche.

»Bitte, stecken Sie das wieder weg, Mr. Smithback. Ja, es war etwas, das Whittlesey offenbar um den Hals getragen hat, ein goldenes Medaillon in Form zweier gekreuzter Pfeile.«

»Also dasselbe Wappen, das auch auf den Einband seines Tagebuchs geprägt war!« sagte Smithback.

»Und als Briefkopf auf dem Brief war, den er an Montague geschrieben hat!« ergänzte Margo.

»Beides ist richtig. Es handelt sich dabei um das Familienwappen der Whittleseys. Wir fanden das Medaillon, oder sagen wir besser, einen Teil davon, im Bau der Kreatur. Warum dieses Wesen es vom Amazonas bis hierher mitgeschleppt hat, werden wir wohl nie erfahren.«

»Wir haben noch andere Gegenstände in dem Bau gefunden«, sagte D’Agosta, der sich gerade ein Stück Kuchen in den Mund gesteckt hatte, kauend. »Das Wesen hatte eine regelrechte Sammlung davon.«

»Was denn, zum Beispiel?« fragte Margo, trat an eines der großen Fenster und blickte hinunter auf die Stadt.

»Dinge, die Sie dort niemals vermutet hätten. Autoschlüssel, zum Beispiel, eine Menge Münzen und Wertmarken für die U-Bahn, sogar eine schöne, goldene Taschenuhr. Weil ein Name eingraviert war, konnten wir ihren Besitzer ausfindig machen. Dem war die Uhr vor Jahren bei einem Museumsbesuch von einem Taschendieb gestohlen worden.« D’Agosta zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist der Taschendieb eine von den nicht identifizierten Leichen, vielleicht finden wir ihn aber auch nie.«

»Die Kreatur hatte die Uhr an einem Nagel an der Wand seines Baus aufgehängt«, sagte Pendergast. »Offensichtlich mochte sie schöne Dinge. Ein weiteres Anzeichen von Intelligenz, würde ich sagen.«

»Sind denn alle gefundenen Gegenstände im Museum gestohlen worden?« fragte Smithback.

»Soweit wir das sagen können, schon«, antwortete Pendergast. »Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß die Kreatur das Museum verlassen konnte – oder wollte.«

»Nein?« sagte Smithback. »Und was ist mit dem Ausgang, zu dem Sie D’Agosta per Funk führen wollten?«

»Den hat er auch ohne mein Zutun gefunden«, sagte Pendergast nur. »Glück muß man haben.«

Smithback stellte D’Agosta eine weitere Frage, und Pendergast ergriff die Gelegenheit, um aufzustehen und sich ein Stück Kuchen zu holen. »Es ist wirklich sehr nett von Ihnen, Dr. Frock, daß Sie diese Party für mich veranstalten«, sagte er, als er mit einem Teller in der Hand zurückkam.

»Nun, schließlich haben Sie uns allen das Leben gerettet«, sagte Frock. »Da kann man schon mal einen kleinen Kuchen springen lassen, um Ihnen Lebewohl zu sagen.«

»Dann fürchte ich, daß ich mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in diese Party eingeschlichen habe«, meinte Pendergast.

»Wie das?« fragte Frock.

»Möglicherweise gehe ich nämlich nicht für immer aus New York fort. Sie müssen wissen, daß der Posten des hiesigen FBI-Direktors neu vergeben werden soll.«

»Und Coffey wird es nun ja wohl nicht mehr werden«, stellte Smithback mit einem hämischen Grinsen fest.

Pendergast schüttelte den Kopf. »Der arme Mr. Coffey«, sagte er. »Ich hoffe bloß, daß ihm seine neue Stelle drunten in Texas gefällt. Nun, jedenfalls hat der Bürgermeister offensichtlich an unserem Captain D’Agosta hier einen wahren Narren gefressen, und daher rechne ich mir gute Chancen auf den Posten aus.«

»Dann gratuliere ich«, rief Frock.

»Es ist noch nicht sicher«, wehrte Pendergast ab, »und außerdem weiß ich noch nicht, ob ich wirklich hier oben bleiben will. Auch wenn die Stadt zweifelsohne einiges für sich hat.«

Er stand auf und trat ans Fenster, wo Margo noch immer hinunter auf den Hudson und die grünen Hügel der Palisades blickte.

»Und was haben Sie jetzt vor, Margo?« fragte er.

Sie drehte sich um zu ihm. »Ich habe mich entschlossen, am Museum zu bleiben, bis ich meine Dissertation zu Ende geschrieben habe.«

Frock lachte. »In Wirklichkeit war es so, daß ich sie nicht gehen lassen wollte«, sagte er.

Margo lächelte. »Ich habe ein Angebot von der Columbia Universität bekommen. Nächstes Jahr kann ich dort Assistenzprofessorin werden. An der Columbia hat auch mein Vater studiert. Also muß ich meinen Doktor machen, verstehen Sie?«

»Das sind ja tolle Neuigkeiten!« sagte Smithback. »Die müssen wir heute beim Abendessen feiern.«

»Beim Abendessen? Heute?«

»Im Café des Artistes um sieben Uhr«, sagte er. »Hören Sie, Sie müssen einfach kommen. Ich bin jetzt ein weltberühmter Schriftsteller, oder zumindest werde ich bald einer werden. Aber der Champagner wird ja warm«, fuhr er fort und griff nach der Flasche.

Alle standen um Smithback herum, während Frock Gläser aus dem Schrank holte. Smithback richtete die Flasche an die Decke und ließ den Korken knallen.

»Worauf sollen wir trinken?« fragte D’Agosta, als die Gläser gefüllt waren.

»Auf mein Buch«, sagte Smithback.

»Auf Special Agent Pendergast und eine glückliche Heimreise«, sagte Frock.

»Auf das Andenken von George Moriarty«, sagte Margo leise.

»Auf George Moriarty.«

Sie waren alle still.

»Gott sei mit uns allen«, tönte Smithback dann, und Margo rammte ihm spielerisch den Ellenbogen in die Rippen.