EPILOG

63

Long Island City, sechs Monate später

Das Kaninchen zuckte zusammen, als die Nadel in seinen Schenkel drang. Kawakita sah zu, wie das dunkle Blut langsam in die Spritze floß.

Dann setzte er das Kaninchen behutsam wieder zurück in den Käfig und trug das Blut hinüber zu den drei Testzentrifugen. Er öffnete die erste davon und ließ das Blut in kleine Glasröhrchen laufen, die er danach in den Halter der Zentrifuge stellte. Nachdem er den Deckel geschlossen hatte, betätigte er den Schalter der Zentrifuge und hörte zu, wie sie zu rotieren begann und damit das Blut des Tieres in seine einzelnen Komponenten zerlegte.

Kawakita lehnte sich auf seinem hölzernen Stuhl zurück und ließ die Blicke durch das Labor schweifen. Es war staubig und schlecht beleuchtet, aber das war ihm ganz recht so. Kawakita wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erwecken.

Am Anfang hatte er es nicht leicht gehabt. Zunächst hatte er geeignete Räumlichkeiten finden und die benötigte Ausrüstung zusammentragen müssen. Und es mußte auch die Miete bezahlt werden. Es war einfach unglaublich, wieviel die Leute heutzutage für ein heruntergekommenes Lagerhaus in Queens verlangten. Die meisten Schwierigkeiten aber hatte Kawakita der Computer bereitet. Da er sich keinen kaufen konnte, hatte er sich per Modem in den Computer einer Institution einschleichen müssen. Nach langen, fruchtlosen Versuchen war es ihm schließlich gelungen, den großen Hauptrechner am Sokolov College für Medizin zu knacken. Dort konnte er sein Extrapolationsprogramm laufen lassen, ohne dabei großartig aufzufallen.

Kawakita spähte durch das verstaubte Fenster hinunter in den Verkaufsraum. Die hohe Halle war dunkel und fast leer; nur die Aquarien auf ihren Metallgestellen an der gegenüberliegenden Wand warfen einen schwachen, grünlichen Schimmer über den Boden. Selbst hier oben konnte Kawakita das blubbernde Geräusch der Filteranlagen hören. An die zwei Dutzend dieser Aquarien hatte er bereits aufgestellt, und bald würde er noch mehr davon brauchen. Aber Gott sei Dank war Geld in zunehmendem Maße kein Problem mehr für ihn.

Es ist schon erstaunlich, dachte Kawakita, daß die einfachsten Lösungen oft auch die elegantesten sind. Ist man erst einmal draufgekommen, liegt alles vollkommen klar auf der Hand. Aber gerade diese Fähigkeit, eine solche einfache Lösung zu erkennen, war es ja, was einen genialen Wissenschaftler von einem lediglich begabten unterschied.

Das Mbwun-Rätsel war das beste Beispiel dafür. Er, Kawakita, war der einzige, der die richtige Lösung dafür gefunden hatte, und er würde es auch sein, der diese Lösung schließlich beweisen würde.

Das Heulen der Zentrifuge bekam einen etwas tieferen Ton, und bald begann eine rote Lampe langsam zu blinken, die verkündete, daß die Maschine ihre Arbeit getan hatte. Kawakita stand auf, öffnete den Deckel und holte die Röhrchen heraus. Das Kaninchenblut hatte sich in seine drei Komponenten aufgeteilt: oben schwamm das durchsichtige Serum, in der Mitte war eine dünne Schicht weißer Blutkörperchen zu sehen, und ganz unten in dem Röhrchen befanden sich die roten Blutkörperchen. Kawakita nahm mit einer Pipette sorgfältig das Serum auf und plazierte einzelne Tropfen davon in Testschälchen, in die er noch diverse Reagenzflüssigkeiten und Enzyme gab.

Die Flüssigkeit in einem der Testschälchen nahm eine violette Farbe an.

Kawakita lächelte. So einfach war das.

Alles hatte damit begonnen, daß Frock und Margo auf der Eröffnungsparty der Ausstellung wirres Zeug von einem Wesen geredet hatten. Erst im nachhinein, als er vom Strom der anderen hysterischen Gäste hinaus auf den Riverside Drive gespült worden war, hatte Kawakita begriffen, was sie damit gemeint haben könnten, und seine anfängliche Skepsis hatte sich rasch in echte Faszination verwandelt. Dann, nachdem sich alles ein wenig beruhigt hatte, hatte er begonnen, über die Kreatur und alles, was mit ihr zusammenhing, ernsthaft nachzudenken. Als Frock dann später verkündet hatte, das Rätsel sei gelöst, hatte das Kawakitas Neugier erst so richtig geweckt. Vielleicht, das mußte er der Fairneß halber zugeben, hatte er auch ein wenig mehr Abstand zu der Sache als die Leute, die in jener grauenvollen Nacht zusammen mit der Kreatur im stockfinsteren Museum eingeschlossen gewesen waren. Aus welchem Grund auch immer, Frocks Erklärungen hatten jedenfalls etliche Unstimmigkeiten beinhaltet, die seltsamerweise niemandem aufgefallen waren.

Niemandem, außer Kawakita.

Er war schon immer ein sehr gewissenhafter Forscher gewesen, der bei seiner Arbeit zwar vorsichtig, aber doch getrieben von unersättlicher Neugier vorgegangen war. Diese Kombination war ihm bereits in Oxford und in seiner Anfangszeit am Museum sehr zugute gekommen, und jetzt profitierte er abermals davon. Seine Vorsicht hatte ihn ins Extrapolatorprogramm einen Routineschritt einbauen lassen, der sämtliche über die Tastatur getätigten Eingaben in einem Protokoll festhielt. Einerseits hatte er das zur Datensicherung bei den in der Anfangsphase recht häufigen Abstürzen des Programms getan, andererseits hatte es ihn aber auch interessiert, was andere mit seinem Programm so alles anstellten.

So war es nur natürlich, daß er sich angesehen hatte, was Frock und Margo vom Extrapolator hatten wissen wollen.

Kawakita hatte dazu lediglich die richtigen Tasten drücken müssen, und schon hatte das Programm ihm jede Frage, die Frock und Margo damals eingetippt hatten, ebenso auf den Schirm gezaubert wie die Ergebnisse, die ihnen der Extrapolator dazu geliefert hatte.

Und diese Daten waren es dann auch gewesen, die ihn auf den Weg zur wirklichen Lösung des Mbwun-Rätsels gebracht hatten. Auch Frock und Margo war diese Lösung zum Greifen nahe gewesen, sie hätten dem Programm bloß die richtigen Fragen stellen müssen. Da sie das nicht getan hatten, war ihnen eine geradezu umwerfende Entdeckung entgangen.

Es klopfte leise an der Tür zum Lagerhaus. Kawakita stand auf und ging, ohne einen Augenblick zu zögern, mit fast lautlosen Schritten die Treppe hinunter zum Eingang der dämmrigen Halle.

»Wer ist da?« flüsterte er mit heiserer Stimme.

»Ich bin’s, Tony«, sagte die Stimme.

Kawakita schob den schweren Riegel zur Seite, öffnete die Tür und ließ eine Gestalt eintreten.

»Dunkel hier drin«, sagte der Mann. Er war klein und drahtig und rollte beim Gehen mit den Schultern. Nervös blickte er sich in dem Raum um.

»Lassen Sie das Licht aus und folgen Sie mir!« sagte Kawakita scharf.

Sie gingen ans andere Ende der Lagerhalle. Dort stand ein langer Tisch, über dem ein paar Infrarotstrahler von der Decke hingen. Auf der Tischplatte waren Pflanzenfasern zum Trocknen ausgebreitet. Kawakita nahm ein wenig davon und wog sie auf einer Präzisionswaage, die ebenfalls auf dem Tisch stand, genauestens ab.

Dann steckte er die Fasern in ein kleines Plastiksäckchen und blickte seinen Besucher erwartungsvoll an. Der Mann griff in die Hosentasche und zog ein Bündel abgegriffener Geldscheine hervor, die Kawakita rasch zählte. Es waren fünf Zwanziger. Er nickte und gab dem Mann das Plastiksäckchen. Kaum hatte dieser es in seinen Händen, wollte er es gierig aufreißen.

»Nicht hier!« sagte Kawakita scharf.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich der Mann und ging, so rasch er es in dem halbdunklen Raum konnte, zur Eingangstür.

»Versuchen Sie es doch einmal mit einer etwas höheren Dosis«, schlug Kawakita vor. »Und tauchen Sie die Fasern vorher in kochendes Wasser, das erhöht die Konzentration. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie die Ergebnisse recht zufriedenstellend finden werden.«

Der Mann nickte. »Zufriedenstellend«, wiederholte er, als wolle er sich das Wort langsam auf der Zunge zergehen lassen.

»Am Dienstag habe ich dann wieder was für Sie«, sagte Kawakita.

»Danke«, flüsterte der Mann und ging.

Kawakita schloß die Tür und schob den Riegel vor. Er hatte einen langen Tag hinter sich und fühlte sich hundemüde, aber dennoch versetzte ihn der Anbruch der Nacht in eine Art freudige Erregung. In letzter Zeit hatte Kawakita die Stunden, in denen die Geräusche der Stadt nachließen und die Dunkelheit so vieles verbarg, richtiggehend lieben gelernt.

Nachdem er all das nachvollzogen hatte, was Margo und Frock mit Hilfe seines Programms herausgefunden hatten, war es ihm auf einmal wie Schuppen von den Augen gefallen. Er hatte dann nur noch eine der Fasern finden müssen, was sich allerdings als eine ziemlich schwierige Aufgabe herausgestellt hatte. Die Sicherheitszone war bis auf den letzten Quadratzentimeter penibel saubergemacht worden, und die Kisten waren, nachdem alle in ihnen verpackten Gegenstände herausgenommen worden waren, zusammen mit dem gesamten Verpackungsmaterial und Whittleseys Pflanzenpresse verbrannt worden. Auch das Labor, in dem Margo früher gearbeitet hatte, hatte man gründlichst gereinigt. Aber niemand hatte daran gedacht, Margos Umhängetasche zu säubern, die in der gesamten anthropologischen Abteilung für ihre geradezu legendäre Unordnung berühmt war. Erst Margo selbst hatte sie einige Tage nach der Katastrophe als eine Art Vorsichtsmaßnahme in den Verbrennungsofen des Museums geworfen, aber da hatte sich Kawakita die Faser schon längst herausgeholt gehabt.

Danach allerdings hatten Kawakitas Mühen erst so richtig begonnen. Eine seiner Hauptschwierigkeiten war gewesen, aus einer einzigen Faser eine neue Pflanze entstehen zu lassen. Es hatte all seines Wissens in Botanik und Genetik und seiner gesamten Energie bedurft, so daß Kawakita unbezahlten Urlaub auf unbestimmte Zeit hatte nehmen müssen, um sich voll und ganz auf diese Aufgabe konzentrieren zu können. Seine Hoffnungen auf eine reguläre Kuratorenstelle am Museum hatte er damit begraben müssen, aber das war ihm gleichgültig. Und dann, vor knappen fünf Wochen, war ihm der große Durchbruch gelungen. Er erinnerte sich noch genau an das Triumphgefühl, das in ihm hochgestiegen war, als er das erste grüne Knötchen auf dem Nährboden in der kleinen Glasschale entdeckt hatte. Und jetzt wuchs in seinen Tanks bereits eine reiche Ernte von Pflanzen heran, die alle mit dem seltsamen, fünfundsechzig Millionen Jahre alten Reovirus infiziert waren.

Die Pflanze hatte sich perverserweise als eine sehr attraktive Art von Seerose herausgestellt, die fast ständig üppige Blüten mit großen, roten, von vielen kleinen Äderchen durchzogenen Blütenblättern und hellgelben Staubgefäßen trug. Das Virus aber kam am konzentriertesten in den faserigen Stengeln vor. Momentan erntete Kawakita zwei Pfund Fasern pro Woche und hoffte, seine Produktion rasch um ein Vielfaches steigern zu können.

Die Kothoga müssen alles über diese Pflanze gewußt haben, dachte Kawakita. Was ihnen ursprünglich wie ein Segen vorgekommen war, hatte sich schließlich als ein Fluch für sie herausgestellt. Sie hatten versucht, die Macht der Pflanze in den Griff zu bekommen und waren dabei kläglich gescheitert. In den alten Legenden wurde das sehr gut beschrieben: Der Teufel hatte seinen Teil des Handels nicht eingehalten, und Mbwun, das Kind des Teufels, war Amok gelaufen und hatte sich gegen seine Herren gewandt. Und nichts hatte ihn wieder unter Kontrolle bringen können.

Kawakita aber würde das nicht passieren. Die Tests mit dem Kaninchenserum waren der Beweis dafür, daß er den richtigen Weg zum Erfolg beschritten hatte.

Das letzte Mosaiksteinchen zu seiner Theorie hatte ihm dieser D’Agosta geliefert, als er auf der Abschiedsparty für den FBIAgenten erwähnt hatte, daß man Julian Whittleseys Amulett mit dem Doppelpfeil im Bau der Kreatur gefunden habe. Es sei der Beweis dafür, hatten sie gesagt, daß das Monster Whittlesey umgebracht habe. Ein Beweis war das Amulett tatsächlich. Aber nicht für das, was sie dachten!

Es war der Beweis dafür, daß Whittlesey das Monster gewesen war.

Kawakita erinnerte sich genau an den Tag, an dem alles für ihn auf einmal einen Sinn ergeben hatte. Damals war ihm die Erkenntnis wie eine Offenbarung direkt aus dem Himmel vorgekommen. Die Kreatur, das Museumsmonster, Der auf allen vieren geht, war Whittlesey! Und den Beweis dafür konnte Kawakitas Extrapolationsprogramm erbringen. Kawakita hatte nur menschliche DNS und die DNS des Virus durch den Extrapolator jagen und die sich aus der Mischung ergebende Lebensform berechnen lassen müssen.

Der Computer hatte ihm daraufhin ein perfektes Bild der Kreatur ausgegeben: Der auf allen vieren geht.

Das Reovirus in der Pflanze, das möglicherweise ziemlich unverändert seit dem Mesozoikum existierte, hatte erstaunliche Eigenschaften. Wenn es in genügend hoher Konzentration auftrat, konnte es die morphologischen Eigenschaften des von ihm infizierten Wirtsorganismus grundlegend verändern.

In den dunkelsten, abgeschiedensten Regionen des Regenwaldes gab es bestimmt noch viele, bisher unentdeckte Pflanzen, deren Entdeckung für so manchen Wissenschaftler die Krönung seines Lebenswerks bedeuten würde. Kawakita aber war einem noch viel sensationelleren Geheimnis des Dschungels auf die Spur gekommen: Indem Whittlesey dort die Fasern der mit dem Reovirus infizierten Pflanze gegessen hatte, hatte er sich in Mbwun verwandelt.

Mbwun – dieses Wort benützten die Kothoga für die wundervolle, aber auch furchteinflößende Pflanze – und für die Kreaturen, zu denen diejenigen wurden, die davon aßen. Kawakita glaubte, die geheime Religion der Kothoga nun weitgehend verstehen zu können. Die Pflanze war für sie ein Fluch, den sie gleichermaßen fürchteten, wie auch für ihre Zwecke auszunützen verstanden. Durch die mit Hilfe der Pflanze erzeugten Kreaturen konnten sie ihre Feinde in Schach halten, allerdings um den Preis, daß diese Monstren gleichzeitig eine ständige Bedrohung für die Kothoga selbst darstellten. Vermutlich hielten sie sich immer nur eine Kreatur, denn mehrere wären zu gefährlich gewesen. Der Mbwun-Kult mußte sich wohl hauptsächlich um Anbau und Ernte der Pflanze gedreht haben. Die heiligste aller Zeremonien aber dürfte für die Kothoga zweifelsohne die Erschaffung einer neuen Kreatur gewesen sein, die damit begann, daß irgendein bedauernswerter Mensch mit den Fasern der Pflanze zwangsernährt wurde. Anfänglich war vermutlich eine große Menge an Fasern nötig, um durch die sich ständig erhöhende Konzentration des Virus im Körper des Opfers dessen Verwandlung in Gang zu bringen. Wenn die Transformation erst einmal abgeschlossen war, brauchte das Opfer nur noch geringere Mengen der Fasern – und natürlich eine normale Zufuhr an eiweißhaltiger Nahrung. Wenn diese Menge dann allerdings nicht regelmäßig eingenommen wurde, drohten der neuerschaffenen Kreatur enorme Schmerzen, ja Geisteskrankheit, weil ihr Körper dann nämlich versuchte, die Verwandlung wieder rückgängig zu machen. Natürlich hätte niemand diese Rückverwandlung überleben können, aber die verzweifelte Kreatur hätte schon lange zuvor alles getan, um einen Ersatz für die Pflanze zu finden. Zum Beispiel den menschlichen Hypothalamus, der in dieser Hinsicht noch das beste war.

In der tiefen, angenehmen Dunkelheit der Halle, in der die Aquarien leise vor sich hin gurgelten, stellte sich Kawakita vor, was für ein Drama sich wohl im Dschungel am Oberlauf des Xingú abgespielt haben mochte. Die Kothoga hatten vor Whittlesey möglicherweise noch nie einen weißen Mann zu Gesicht bekommen, denn Whittleseys Kollegen Crocker hatte vermutlich die Kreatur der Kothoga entdeckt und getötet, nicht Leute aus dem Stamm selbst. Vielleicht war die Kreatur damals alt oder irgendwie krank gewesen, oder vielleicht hatte ihr Crocker mit dem Revolver der Expedition einen tödlichen Schuß verpaßt, während die Kreatur ihm die Gedärme aus dem Leib gerissen hatte. Als die Kothoga dann später Whittlesey fanden, war das für sie eine Gelegenheit, auf die sie schon lange gewartet hatten.

Kawakita fragte sich, wie Whittlesey sich wohl gefühlt haben mochte, als man ihm mit viel zeremoniellem Brimborium die Fasern einer seltsamen Pflanze in den Mund stopfte, die er selbst vor wenigen Tagen für die Wissenschaft gesammelt hatte. Vielleicht hatten die Kothoga aber auch aus der Pflanze einen Trank gebraut und ihm diesen eingeflößt. Jedenfalls mußten sie mit diesem weißen Mann das versucht haben, was ihnen bei Leuten ihres eigenen Stammes noch nie gelungen war: Endlich ein Monster zu erschaffen, das sie auch wirklich unter Kontrolle halten konnten. Ein Monster, das die Straßenarbeiter, Geologen und Bergwerksleute, die in immer größerer Anzahl aus dem Süden kamen, von der Zerstörung des Tepui abhalten konnte. Ein Monster, das die Stämme der Nachbarschaft in Angst und Schrecken versetzen würde, ohne gleichzeitig auch seine eigenen Herren zu terrorisieren. Kurzum, eine Kreatur, die die Sicherheit und Abgeschiedenheit der Kothoga für immer garantieren würde.

Aber dann schlug die Zivilisation mit all ihren Schrecken erbarmungslos zu. Kawakita stellte sich vor, wie das Ding, das einmal Whittlesey gewesen war, im Dschungel kauerte und zusah, wie flüssiges Feuer vom Himmel fiel und das Tepui, die Kothoga und vor allem die Pflanze vernichtete, die es zum Überleben so dringend brauchte. Es war vielleicht das einzige Lebewesen, das dem flammenden Inferno entkam. Und es wußte, wo es die Fasern, die es im zerstörten Regenwald jetzt nirgendwo mehr gab, doch noch finden konnte. Es wußte es deshalb, weil es sie selbst dort hingeschickt hatte.

Es war natürlich auch möglich, daß Whittlesey schon fort gewesen war, als das Tepui bombardiert wurde. Vielleicht hatten die Kothoga die von ihnen erschaffene Kreatur doch nicht unter Kontrolle halten können. Vielleicht hatte Whittlesey in seinem bedauernswerten, schrecklichen Zustand seine eigenen Pläne gemacht und war nur wenig darauf erpicht gewesen, für die Kothoga den Racheengel zu spielen. Vielleicht hatte er aus eigenem Antrieb die Kothoga verlassen und sie dadurch hilflos dem Fortschritt ausgeliefert, der sie dann schließlich vernichtet hatte.

Wie dem auch gewesen sein mochte, Kawakita interessierten die anthropologischen Aspekte der Geschichte ohnehin nur am Rande. Was er viel spannender fand, war die Macht, die in der Pflanze steckte, und die Möglichkeiten, sich diese Macht zunutze zu machen.

Man mußte die Pflanze unter Kontrolle bringen, bevor man ihre Kreaturen kontrollieren konnte.

Und deshalb, dachte Kawakita, werde ich auch dort Erfolg haben, wo die Kothoga gescheitert sind. Er hatte Kontrolle über die Pflanze, denn nur er wußte, wie man diese schwierig zu handhabende, höchst empfindliche Sumpflilie aus den Tiefen des Dschungels behandeln mußte. Nur er kannte den richtigen pH-Wert des Wassers, die richtige Temperatur, das richtige Licht und die exakte Mischung der benötigten Nährstoffe. Und nur er wußte, wie man der Pflanze das Reovirus einimpfte.

Allein deshalb war man von ihm abhängig. Und außerdem hatte er durch das genetische Splicing, das er in dem Kaninchenserum vornahm, die Stärke des Virus erhöht und ihm ein paar seiner unangenehmen Nebeneffekte genommen.

Zumindest glaubte er, daß ihm das gelungen war.

Das alles waren geradezu revolutionäre Entdeckungen. Wie jedermann weiß, bringen Viren ihr Erbgut in die Zellen des von ihnen infizierten Wirtsorganismus ein, damit diese dann immer neue Viren produzieren. Das war bei allen, der Menschheit bisher bekannten Viren so: vom Grippe- bis zum Aidsvirus.

Dieses Virus aber war anders. Es transportierte ein ganzes Bündel von Genen in die Zellen seiner Opfer, und zwar Reptiliengene, die fünfundsechzig Millionen Jahre alt sind und die man heute nur noch im Gecko und in ein paar wenigen anderen Tieren finden kann. Außerdem hatte sich das Virus im Laufe der Zeit auch Primatengene – menschliche Gene, ohne jeden Zweifel – angeeignet. Dieses Virus konnte Gene aus dem einen Wirtsoganismus stehlen und sie in den nächsten einbauen.

Und diese Gene verwandelten dann, anstatt neue Viren zu produzieren, den Wirtsorganismus langsam, aber sicher in ein groteskes Monster. Die von den Viren eingeschleuste Erbinformation wies den Körper des Opfers an, seine Knochenstruktur, seine Drüsenfunktionen, seine Gliedmaßen, Haut, Haare und inneren Organe grundlegend zu verändern. Die Gene bestimmten Verhalten, Gewicht, Schnelligkeit und Geschicklichkeit des Opfers, verhalfen ihm zu einem unheimlich ausgeprägten Geruchssinn und enorm scharfem Gehör und ließen gleichzeitig seine Sehfähigkeit und Stimme verkümmern. Obwohl das Opfer immense Körperkraft und Masse entwickelte, blieb sein hochentwickeltes menschliches Gehirn größtenteils intakt. Kurz gesagt, die Droge – oder besser das Virus – verwandelte das Opfer in eine fürchterliche Mordmaschine. Eigentlich war ja das Wort Opfer nicht die richtige Bezeichnung für jemanden, der mit diesem Virus infiziert wurde. Symbiont wäre ein viel besseres Wort dafür. Schließlich war es ja ein Privileg, dieses Virus verabreicht zu bekommen. Das Virus war ein Geschenk. Ein Geschenk von George Kawakita.

Es war schön. Es war geradezu erhaben.

Mit dem Virus eröffneten sich unendliche Möglichkeiten zur Genmanipulation. Kawakita hatte schon viele Ideen, was man damit alles anfangen konnte. So könnte das Reovirus zum Beispiel auch andere Gene in die Zellen seiner Wirtsorganismen befördern. Menschliche ebenso wie die von Tieren. Und er, Kawakita, konnte bestimmen, welche Gene das Reovirus übertragen durfte. Er konnte festlegen, zu was der Wirtsorganismus mutieren sollte. Er war nicht wie die primitiven, abergläubischen Kothoga, denn er konnte das Virus kontrollieren, weil er Wissenschaftler war.

Ein interessanter Nebenaspekt der Pflanze war ihre narkotisierende Wirkung, ein wunderbarer, »sauberer« Kick, ohne den unangenehmen Kater, den viele andere Drogen nach sich zogen. Vielleicht hatte die Pflanze auf diese Weise dafür gesorgt, daß sie gegessen und damit weiterverbreitet wurde. Für Kawakita allerdings bedeutete dieser Nebeneffekt eine Einnahmequelle, mit der er seine Forschungen finanzieren konnte. Ursprünglich hatte er die Pflanze nicht als Droge verkaufen wollen, aber seine finanzielle Lage hatte es schließlich doch unvermeidbar gemacht. Bei dem Gedanken daran, wie reibungslos das von Anfang an geklappt hatte, mußte er unwillkürlich lächeln. Die handverlesene Gruppe von begeisterten Konsumenten hatte auch schon einen Namen für die neue Droge erfunden: Glaze. Die Abnehmer waren ganz wild darauf, und Kawakita konnte soviel davon verkaufen, wie er nur produzieren konnte. Schade, daß er nicht mehr von dem Zeug hatte.

Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen, und Kawakita nahm seine dunkle Brille ab und sog genüßlich die würzige Luft des Lagerhauses ein. Er roch den zarten Duft der Fasern, des Wassers und des Staubes, vermischt mit Spuren von Schimmel und Schwefeldioxid und einer Fülle von anderen Gerüchen. Kawakitas chronische Allergien waren alle verschwunden. Das macht wohl die saubere Luft hier auf Long Island, dachte er mit einem Grinsen. Er zog seine engen Schuhe aus und bewegte genüßlich die Zehen.

Er hatte den wichtigsten Fortschritt in der Genetik seit Entdeckung der DNS gemacht. Der Nobelpreis wäre ihm dafür sicher, dachte er mit einem ironischen Lächeln.

Wenn er diesen Weg gewählt hätte.

Aber wer brauchte schon einen Nobelpreis, wenn einem die ganze Welt wie ein reifer Apfel in den Schoß fiel?

Da klopfte es wieder an der Tür.