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Margo begab sich in die dem Publikum nicht mehr zugänglichen Bereiche des Museums, bis sie zu einem Korridor gelangte, der von den Mitarbeitern »Broadway« genannt wurde. Er erstreckte sich über die ganze Länge des Museums – das immerhin vier Blocks einnahm – und war angeblich der längste Gang in ganz New York. An den Wänden standen alte Schränke aus Eichenholz, die alle zehn Meter von einer Tür mit Milchglasscheibe unterbrochen wurden. Auf den meisten Türen standen in goldenen, schwarz umrahmten Lettern die Namen von Kuratoren.
Als Doktorandin hatte man Margo nur einen Schreibtisch aus Metall und ein Bücherregal in einem der Labors unten im Keller zur Verfügung gestellt. Aber immerhin besser als gar nichts, dachte sie, als sie von dem Korridor abbog und eine schmale Eisentreppe hinunterging. Eine ihrer Kolleginnen hatte nur eine winzige, verkratzte Schulbank zwischen zwei riesigen Kühlschränken in der Säugetierabteilung bekommen. Das arme Mädchen konnte sogar im Hochsommer nur im dicken Pullover arbeiten.
Ein Wachmann, der unten an der Treppe postiert war, winkte sie weiter, und Margo betrat einen schwach erleuchteten, tunnelartigen Gang, an dessen beiden Seiten Pferdeskelette in alten Glaskästen standen. Hier war kein gelbes Polizeiband zu sehen.
Im Büro angekommen, stellte Margo ihre Tasche neben den Schreibtisch und setzte sich. Das Labor, in dem sie arbeiten konnte, wurde zu einem großen Teil als Aufbewahrungsraum für Gegenstände aus der Südsee genutzt: Maori-Schilde, Kriegskanus, Blasrohrpfeile und Masken lagerten in grünen Metallregalen und -schränken, die vom Fußboden bis zur Decke reichten. Ein Fünfhundert-Liter-Aquarium, in dem die Abteilung für Verhaltensforschung künstliche Sumpfbedingungen geschaffen hatte, stand auf einem eisernen Gestell unter einer Reihe von Tageslichtlampen. Es war so voller Algen und Wasserpflanzen, daß Margo in dem trüben Wasser nur ab und zu einmal einen Fisch entdeckte.
Neben ihrem Schreibtisch befand sich ein langer Arbeitstisch voller staubiger Masken. Die Restauratorin, die an ihnen arbeitete, war eine griesgrämige junge Frau, die – übellaunig vor sich hinbrütend – höchstens drei Stunden am Tag etwas tat.
Margo kam es so vor, als bräuchte sie pro Maske gute zwei Wochen. Die Sammlung, an der sie arbeitete, umfaßte zwar etwa fünftausend solcher Masken, aber niemanden schien es sonderlich zu stören, daß die Restaurierung bei dem Arbeitstempo, das die gute Frau an den Tag legte, gut und gerne zweihundert Jahre in Anspruch nehmen würde.
Margo schaltete ihr Computerterminal ein und nahm Verbindung mit dem Hauptprogramm auf. Auf dem Bildschirm erschien eine Botschaft aus den Tiefen des Zentralrechners.
HALLO MARGO GREEN@BIOTECH@STF
WILLKOMMEN IM MUSEUMSNETZ
DISTRIBUTED NETWORKING SYSTEM,
VERSION 15–5
COPYRIGHT (c) 1989–1994 NYMNH
UND CEREBRAL SYSTEMS INC.
CONNECTING AT 10:24:06 AM 27. 03. 94
DRUCKERSERVICE AUF LJ56
SIE HABEN KEINE NACHRICHT(EN)
Margo ging in den Textverarbeitungsmodus und holte sich ihre Aufzeichnungen auf den Bildschirm, die sie vor dem Termin bei Dr. Frock noch einmal durchlesen wollte. Während ihrer wöchentlichen Treffen hatte sie häufig den Eindruck, daß ihr Doktorvater mit seinen Gedanken eigentlich ganz woanders war. Deshalb bemühte sich Margo sooft wie möglich, ihn mit neuen Arbeitsergebnissen zu überraschen. Das Problem war, daß sie normalerweise nichts Neues hatte – nur wieder ein paar Artikel mehr, die sie gelesen, analysiert und in den Computer gefüttert hatte; etwas Laborarbeit und vielleicht – vielleicht – drei bis vier neue Seiten für ihre Dissertation. Sie wußte jetzt, warum manche Leute nie mit ihrer Doktorarbeit fertig wurden und bis zum Pensionsalter an von der Regierung unterstützten Projekten herumforschten. Sie taten das, was man in Wissenschaftlerkreisen spöttisch als ABKD bezeichnete: Alles, bloß keine Doktorarbeit.
Als Frock sich vor zwei Jahren bereit erklärt hatte, als ihr Doktorvater zu fungieren, hatte Margo zunächst an ein Versehen geglaubt. Daß Dr. Frock, der Entdecker des Kallisto-Effekts, Inhaber des Cadwalader Lehrstuhls für Statistische Paläontologie an der Columbia University und Chef der Abteilung für Evolutionäre Biologie im Museum, sich ausgerechnet sie als Doktorandin herausgesucht hatte, war eine Ehre, die nur sehr wenigen zuteil wurde.
Frock hatte seine wissenschaftliche Karriere als Anthropologe begonnen. Obwohl er wegen einer Kinderlähmung seit seiner frühen Jugend im Rollstuhl saß, hatte er aufsehenerregende Feldforschung betrieben, die noch heute Grundlage vieler Lehrbücher war. Nachdem mehrere schwere Malariaerkrankungen ihm die Arbeit in der Feldforschung unmöglich gemacht hatten, hatte Frock sich mit seiner ungeheuren Energie auf die Evolutionstheorie verlegt. Mitte der achtziger Jahre war er dann mit einer radikal neuen Sichtweise an die Öffentlichkeit getreten, die stürmische Kontroversen unter seinen Kollegen ausgelöst hatte.
In seiner Hypothese, die die Chaosforschung und Darwins Evolutionslehre miteinander kombinierte, stellte Frock die allgemein gebräuchliche Annahme in Frage, nach der sich das Leben langsam und stetig entwickelt habe. Statt dessen behauptete er, die Entwicklung sei bisweilen geradezu sprunghaft fortgeschritten und habe dabei ab und zu kurzlebige Aberrationen – sogenannte »Monster-Spezies« – hervorgebracht. Nicht immer, so argumentierte Frock, sei die Evolution anhand von Selektion nach dem Zufallsprinzip fortgeschritten, sondern gewisse Umwelteinflüsse hätten bisweilen plötzliche, groteske Veränderungen und Aberrationen bei einer Spezies bewirkt.
Obwohl Frock seine Theorie mit einer Serie von brillant geschriebenen Artikeln und anderen Veröffentlichungen untermauerte, blieb ein Großteil der wissenschaftlichen Welt seiner Hypothese gegenüber skeptisch. Wenn es wirklich solche bizarren Lebensformen geben sollte, so argumentierten seine Kollegen, warum bekam man sie dann nicht zu Gesicht? Frocks Antwort darauf war, daß diese Aberrationen als sprunghafte Weiterentwicklungen der Evolution auch relativ kurzlebig sein dürften, da bei ihnen eine Generation rasch auf die andere folgte.
Nachdem immer mehr Experten Frock als fehlgeleitet, ja sogar als verrückt bezeichnet hatten, hatte sich die Boulevardpresse mit viel Enthusiasmus seiner Idee angenommen. Seine Theorie war bald als »Kallisto-Effekt« bezeichnet worden, nach dem griechischen Mythos von der Jagdgefährtin der Artemis, die von der zürnenden Göttin Hera in ein wildes Tier verwandelt worden war. Obwohl Frock die weitverbreiteten Mißinterpretationen seiner Idee nicht gefielen, verwendete er die daraus resultierende Berühmtheit geschickt für die Förderung seiner akademischen Arbeit. Wie viele brillante Kuratoren kannte Frock nichts anderes als seine Forschungen, so daß Margo manchmal den Eindruck hatte, alles andere, inklusive ihrer Arbeit, würde ihn maßlos langweilen.
Die Restauratorin am anderen Ende des Raumes stand auf und ging ohne ein Wort zum Mittagessen, was ein sicheres Zeichen dafür war, daß es langsam auf elf Uhr zuging. Margo notierte rasch ein paar Sätze auf ein Blatt Papier und legte es in ihr Notizbuch. Sie hatte ein paar neue Informationen über die Pflanzenklassifikation der Kiribitu, die vielleicht Frocks Interesse wecken könnten.
Dr. Frocks Büro befand sich am Ende eines eleganten Korridors aus der Zeit der Jahrhundertwende im Südwestturm des Gebäudes und kam Margo immer wie eine Art Oase vor, weit weg von den Labors, Computern und Aufzügen, die sonst den der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Teil des Museums dominierten. Auf der schweren Eichentür des inneren Büros stand einfach »Dr. Frock«.
Margo klopfte an.
Sie hörte, wie sich jemand ausgiebig räusperte und das dumpfe Geräusch eines fahrenden Rollstuhls. Die Tür öffnete sich langsam, und das ihr vertraute rötliche Gesicht hob erstaunt die buschigen Augenbrauen. Dann hellte sich Dr. Frocks Miene plötzlich auf.
»Ach, natürlich. Heute ist ja Montag. Kommen Sie rein«, sagte er mit leiser Stimme, drückte mit seiner etwas plumpen Hand die von Margo und wies sie zu einem mit Gegenständen beladenen Stuhl. Frock trug wie üblich einen dunklen Anzug und eine auffällige Krawatte mit Paisley-Muster. Sein dichter, weißer Haarschopf sah zerzaust aus.
Die Wände von Dr. Frocks Büro nahmen alte Bücherschränke mit Glastüren ein, in denen sich Fossilien und andere Seltsamkeiten aus seinen frühen Jahren der Feldforschung befanden. Neben der Tür waren Bücher in hohen, gefährlich windschiefen Türmen aufgestapelt. Zwei große Bogenfenster führten hinaus auf den Hudson River. Auf dem verblichenen Perserteppich standen viktorianische Polsterstühle, und auf Dr. Frocks Schreibtisch lagen mehrere Exemplare seines Buchs Die fraktale Evolution.
Daneben sah Margo ein großes Stück grauen Sandsteins, auf dessen Oberfläche sich eine tiefe Einbuchtung befand, die an einer Seite seltsam länglich ausfranste. Auf der anderen Seite der Einbuchtung befanden sich drei weitere große Kerben. Frock behauptete, dies sei der fossile Fußabdruck einer der Wissenschaft bisher unbekannten Kreatur: Der einzige greifbare Beweis, der seine Theorie von einer Evolution auf Abwegen untermauerte. Die Meinungen anderer Wissenschaftler über den Stein gingen weit auseinander: Manche glaubten, daß es sich dabei nicht um eine Versteinerung handelte und nannten ihn »Frocks Hirngespinst«. Die meisten von ihnen hatten ihn allerdings noch nie mit eigenen Augen gesehen.
»Tun Sie das Zeug da irgendwohin und setzen Sie sich«, sagte Frock und fuhr mit seinem Rollstuhl an seinen Lieblingsplatz vor einem der Bogenfenster. »Einen Sherry? Nein, natürlich, Sie trinken ja nie einen. Wie dumm von mir, daß ich das vergessen habe.«
Auf dem Stuhl lagen mehrere alte Exemplare der Zeitschrift Nature und das getippte Manuskript eines noch nicht ganz fertigen Artikels mit dem Titel Stammesgeschichtliche Transformationen des Tertiären Hirschgeweihfarns. Margo legte alles auf einen Tisch in der Nähe und fragte sich, während sie Platz nahm, ob Dr. Frock ihr gegenüber wohl den Tod der beiden kleinen Jungen erwähnen würde.
Frock sah sie einen Augenblick lang nachdenklich an. Dann zwinkerte er und seufzte: »Nun, Miß Green«, sagte er, »wollen wir anfangen?«
Etwas enttäuscht schlug Margo ihr Notizbuch auf. Einen Moment lang überflog sie ihre Aufzeichnungen, bevor sie Frock ihre Analyse der Pflanzenspezifikation der Kiribitu vortrug und erklärte, wie sie diese im nächsten Kapitel ihrer Dissertation verwenden wollte. Während sie sprach, sank Dr. Frocks Kopf langsam mit geschlossenen Augen auf seine Brust. Ein Fremder hätte vielleicht vermutet, Frock sei eingeschlafen, aber Margo wußte, daß er mit höchster Konzentration zuhörte.
Als sie fertig war, hob Frock langsam wieder den Kopf. »Eine Klassifikation von Heilpflanzen nach ihrem Gebrauch und nicht nach ihrer äußeren Erscheinung«, murmelte er schließlich. »Interessant. Dieser Artikel erinnert mich an ein Erlebnis, das ich einmal bei dem Stamm der Ki in Bechuanaland hatte.« Margo wartete geduldig auf die Erzählung, die mit Sicherheit folgen würde.
»Die Ki verwendeten, wie Sie ja sicher wissen« – Frock nahm immer an, daß seine Zuhörer über das, wovon er sprach, ebensogut Bescheid wußten wie er selbst – »zeitweilig die Rinde eines bestimmten Busches als eine Arznei gegen Kopfschmerzen. Charrière, der diesen Stamm 1869 erforschte, verzeichnete den Gebrauch dieses Busches in seinen Tagebüchern. Als ich ein Dreivierteljahrhundert später zu den Ki kam, verwendeten sie dieses Mittel nicht mehr. Sie glaubten, daß Kopfweh durch Zauberei geheilt werde.« Frock rutschte in seinem Rollstuhl herum.
»Die nun praktizierte Heilmethode war, daß die Familie des unter Kopfschmerzen leidenden Menschen den Zauberer suchte, um ihn zu töten. Daraufhin mußte natürlich die Familie des Zauberers wiederum dessen Tod rächen. Meistens zogen sie sofort los und brachten den Menschen mit den Kopfschmerzen um. Sie können sich ja sicherlich vorstellen, was mit der Zeit geschah.«
»Was?« fragte Margo und nahm an, daß Frock ihr schon noch erklären würde, was das alles mit ihrer Dissertation zu tun hatte.
»Nun«, sagte Frock und breitete die Arme aus, »ein medizinisches Wunder natürlich. Es gab bald keine Menschen mit Kopfschmerzen mehr.«
Er lachte so sehr, daß sein weitgeschnittenes Hemd Wellen schlug. Auch Margo lachte, und ihr fiel auf, daß sie das das erstemal an diesem Tag tat.
»Soviel zur primitiven Medizin«, sagte Frock ein wenig wehmütig. »Damals machte die Feldforschung noch Spaß.« Er hielt einen Moment inne. »In der neuen Aberglaube-Ausstellung wird es eine ganze Abteilung über den Ki-Stamm geben«, fuhr er fort. »Natürlich wird alles für das Massenpublikum furchtbar überzogen dargestellt werden. Wright hat sich für diese Ausstellung so einen jungen Burschen frisch von Harvard geholt. Der mehr von Computern und Marketing versteht als von der reinen Wissenschaft, so sagt man wenigstens.«
Frock rutschte abermals in seinem Rollstuhl herum. »Nun, wie dem auch sei, Miß Green, das, was Sie mir vorhin geschildert haben, scheint mir eine gute Ergänzung für Ihre Doktorarbeit zu sein. Ich schlage vor, daß Sie sich ein paar Exemplare der Kiribitu-Pflanzen aus dem Herbarium besorgen und daran weiterarbeiten.«
Margo ordnete ihre Papiere, als Frock plötzlich sagte: »Schlimme Geschichte, das von heute morgen.«
Margo nickte.
Frock blieb einen Augenblick still. »Ich mache mir Sorgen wegen des Museums«, sagte er dann.
Margo war überrascht. »Die Opfer waren zwei Brüder, das muß für die Familie eine furchtbare Tragödie sein. Aber die Aufregung wird sich schon wieder legen – das tut sie immer.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Frock. »Ich habe nämlich etwas über den Zustand der Leichen erfahren. Das, was die beiden Kinder so zugerichtet hat, muß über Kräfte verfügen, die nicht – normal sind.«
»Aber Sie glauben doch nicht etwa auch, daß es ein wildes Tier war, oder?« fragte Margo. War Frock vielleicht am Ende wirklich so verrückt, wie die Leute behaupteten?
Frock lächelte. »Ich stelle keine Behauptungen auf, meine Liebe. Ich warte auf weitere Beweise. Momentan hoffe ich, daß dieses Unglück Sie nicht in Ihrer Entscheidung, ob Sie am Museum bleiben wollen, negativ beeinflußt. Ja, ich habe davon gehört, und es tat mir sehr leid, als ich vom Tod Ihres Vaters erfuhr. Aber Sie haben mir gezeigt, daß Sie über die drei Gaben verfügen, die eine exzellente Forscherin benötigt: Ein Gespür dafür, wonach Sie suchen müssen; einen Riecher dafür, wo Sie es suchen müssen; und den nötigen Arbeitseifer, um Ihre Theorien auch bis zum Ende weiterzuverfolgen.« Er fuhr mit seinem Rollstuhl näher an sie heran. »Der akademische Eifer ist mindestens ebenso wichtig wie der bei Feldforschungen, Miß Green. Das müssen Sie sich immer vor Augen halten. In technischen Fächern und bei der Laborarbeit haben Sie immer ganz exzellente Arbeit geleistet. Es wäre ein großer Verlust für unsere Wissenschaft, wenn Ihr Talent ihr nicht mehr zur Verfügung stünde.«
Margo fühlte eine Mischung aus Dankbarkeit und Ablehnung. »Vielen Dank, Dr. Frock«, antwortete sie. »Ich weiß Ihre freundlichen Worte zu schätzen – und ebenso Ihre Anteilnahme.«
Der Wissenschaftler winkte ihr zu, und Margo verabschiedete sich. Aber als sie schon an der Tür war, rief Frock ihr noch etwas nach.
»Miß Green?« fragte er.
»Ja?«
»Bitte, passen Sie auf sich auf.«