Kapitel 38
"Alle Systeme auf Grün. Eintritt erfolgt in zwanzig Sekunden..."
Für jedes denkende Lebewesen schlägt früher oder später die Stunde der Wahrheit. Sie schlägt in dem Augenblick, in dem in jener Grauzone zwischen Entscheidung und Handlung der
moralische Imperativ auf den Überlebenstrieb prallt.
Die Wahl, die in diesem Augenblick zu treffen ist, kann so einfach sein wie die Wahl zwischen einer Lüge und der selbstzerstörerischen Wahrheit.
Sie kann aber auch so komplex sein wie die Wahl zwischen dem Leid vieler und der moralischen oder rechtlichen Verpflichtung gegenüber einigen wenigen.
Theologen nennen das den "freien Willen".
Es existiert kein wissenschaftlicher Begriff für diesen Moment, obwohl medizinische Techs die Auswirkungen dieses inneren Kampfes auf den Organismus präzise nachweisen können.
Beim Menschen speisen Hormone und
Adrenalindrüsen ihre einflußreichen Mixturen in den Organismus ein. Organe wie Herz oder Lungen beschleunigen ihre Tätigkeit. Der Flüssigkeitsdruck sowie die Körpertemperatur steigen. Der Sauerstoffgehalt des Blutes nähert sich der Sättigung, besonders in den Muskeln und im Gehirn.
Infektionsbekämpfende Zellen machen ihre Waffen zur Abwehr eines Angriffs scharf. Bei extremen Reaktionen entleeren sich die Ausscheidungsorgane, um die Möglichkeit einer Infektion zu verringern, sollte irgend etwas gewaltsam in den Körper eindringen. Die Haut spannt sich an, um Waffen einen härteren und glatteren Widerstand gegenüberzustellen. Schweißdrüsen öffnen sich, während sich das Kühlsystem des Körpers auf volle Bereitschaft stellt. Die Schweißabsonderung dient ebenfalls als Schmiermittel zwischen den Gliedern und dem Rumpf des Körpers. Beim Mann zieht sich der Hodensack zusammen, die Hoden steigen weiter hinauf, um ein kleineres, schwerer zu treffendes Ziel zu bieten.
Soweit die Wissenschaftler.
Stens Meinung nach handelte es sich um nichts anderes als ganz normale animalische Angst.
Er hockte allein auf der engen Brücke des Einsatzschiffs, starrte auf den Monitor und betrachtete den Feuerregen im All. So etwas wie den Alva Sektor hatte er noch niemals zuvor gesehen oder erlebt.
Die Stimme des Schiffscomputers knarzte aus dem Lautsprecher: "Eintritt erfolgt in zehn Sekunden
..,"
Seine mathematische Gehirnhälfte - die Seite, die ebenfalls die Poesie und die Musik beherbergte nahm die Schönheit dieses Schauspiels wahr.
Erkannte das Wunder in der ultimativen
Disharmonie des Zusammenspiels der Kräfte, die an der Nahtstelle zweier Universen freigesetzt wurden.
Seine Seele jedoch sah darin nichts anderes als ein Loch, das direkt in die Hölle führte.
"Eintritt erfolgt in neun Sekunden", meldete sich erneut das Bordgehirn.
Sten sah einem kleinen Kometen nach, der auf die Diskontinuität zuflog. Funkensprühende Fangarme schnellten auf ihn zu. Hüllten ihn ein. Der Komet zersprang mit solcher Gewalt, daß die Pixels auf dem Monitor in einem weißen Gleißen explodierten.
Er machte sich bereit. Horchte tief in sich hinein und bekam die Angst zu fassen. Er drehte sie hin und her und betrachtete sie im Licht seines rationalen Verstandes.
"Eintritt erfolgt in acht Sekunden", fuhr die Stimme fort.
Sten hatte keine Angst davor, das Schicksal des Kometen zu teilen. Na ja ... wenn er ehrlich war ...
ein bißchen schon. Das Einsatzschiff und sämtliche Gegenstände, die einem Zusammenprall mit den rohen Anti-Partikeln aus dem anderen Universum ausgesetzt sein könnten, waren bei einem Zwischenstop auf Vi rundum mit Imperium X
versiegelt worden. Nicht weit von den Wolfswelten entfernt gab es gewaltige Vorkommen dieser Substanz.
Theoretisch müßte er in der Lage sein, unversehrt durch die Diskontinuität in das andere Universum zu schlüpfen. Er hatte bereits eine Sonde
hindurchgeschickt, die unbeschädigt zurückgekehrt war.
Warum ... wovor fürchtete er sich dann? Vor einer Sicherheitsvorkehrung des Imperators? Vor den Wachhunden, die er vor seiner Schatzkammer postiert hatte? Nein. Sten stellte sich vor, daß alles, worauf er dort traf, ausgefuchst und unerbittlich sein mußte. Aber er hatte bereits die beiden vorherigen Höllenhunde überlistet, und er besaß genügend Selbstvertrauen, um sie noch einmal zu bezwingen.
"... sieben Sekunden ..."
Und dann? Sten schickte seine Gedanken hinter dieser Sonde her und versuchte sich selbst auf der anderen Seite vorzustellen. Es war eine völlig andere Realität. Ein wütendes Ding mit einem triefenden roten Maul baute sich vor ihm auf. Er war dort nicht wohlgelitten. Er gehörte dort nicht hin. Jedes Ding ...
jedes noch so winzige Partikel... war an jenem Ort sein Feind. Sogar in seiner Phantasie spürte er die Intensität des Hasses.
Und er würde ... völlig ... allein sein.
Einsamer als jeder Mensch zuvor. Mit einer Ausnahme.
Der Ewige Imperator.
"... sechs Sekunden..."
Was die Angst nur noch schlimmer machte, war die Tatsache, daß es ihm freistand, sich ihr jederzeit wieder zu entziehen. Der sich zusammenkauernde Feigling in ihm heulte laut in seiner Grube. Bettelte ihn an, es nicht zu tun. Warum mußte er es auf seine Kappe nehmen? Soll es doch ein anderer erledigen.
Und wenn es keiner tun wollte, dann war es auch egal. Er konnte ebensogut fliehen und sich irgendwo verstecken, wo ihn der Imperator niemals finden würde. Und falls doch, konnte Sten ihm dort weitaus mutiger gegenübertreten. Was lag schon daran, wenn die Sache verloren war? Was lag schon daran, daß sie eventuell alle dem Untergang geweiht waren?
Sie alle konnten sterben.
Er konnte sterben.
Aber wenigstens müßte er nicht an jenen schrecklichen Ort.
Er mußte nur auf den Knopf drücken, schon war die ganze Aktion abgeblasen.
"... fünf Sekunden..."
Seine Hand lag direkt daneben. Schwitzend und kalt.
"... vier Sekunden..."
Ein kleines Zucken, und diese verdammte Stimme würde verstummen.
"... drei Sekunden..."
Der Feigling in seinen Eingeweiden schrie auf:
"Es ist noch nicht zu spät!"
"... zwei Sekunden..."
Mahoneys Stimme stieg aus dem Grab zu ihm herauf: "Verwandle den Teufel in eine Faust, mein Junge. Und schlag zu!"
"... eine Sekunde..."
Stens Finger verkrampften sich so heftig, daß alles Blut aus ihnen wich.
"Eintritt erfolgt - jetzt", sagte die Stimme.
Stens Blick klebte am Monitor, als das
Einsatzschiff vorwärts schoß und in das Höllentor eintauchte.
so klein...
erbärmlich und klein...
und alle wollen sie mich ...
umbringen.
ich will hier nicht sterben ...
bitte.
niemand kennt mich ...
hier.
niemand ...
kümmert es.
meine Augen sind ...
bitter.
und ich schmecke Farben auf...
meiner Zunge.
jemand beobachtet mich.
wo?
ich habe Angst.
wo ist er?
dort draußen.
wer ist er?
ich weiß es nicht.
er beobachtet mich ... und ... ich bin ...
so klein.
Sten übergab sich in den Eimer, den er neben seinen Sitz gestellt hatte. Er riß einen Frischepack auf und wischte sich Gesicht und Nacken mit einem Erfrischungstuch ab. Er spülte sich den Mund mit Stregg aus und spuckte die Brühe in den Eimer.
Dann hob er die Flasche an die Lippen und trank.
Einen kräftigen Schluck.
Der Stregg gluckerte und kochte in seinem Magen. Aber er behielt ihn unten. Er nahm noch einen Schluck, spürte, wie sich das Feuer entfachte.
Es war warm und angenehm und vertraut. Wie ein heimischer Herd.
Sten stand auf und machte ein paar
Streckübungen. Er spürte, wie sich die Knoten lösten und das Blut in seinen Adern sang. Dann absolvierte er die vollständige Mantis-Aufwärmübung. Eine halbe Stunde kontrollierte Bewegung und wildes Ballett.
Er begab sich in die kleine Naßzelle und duschte sich knapp unter dem Siedepunkt, gefolgt von einem eisigen Schauer, der sein Herz rasen und das Blut bis direkt unter die Haut prickeln ließ.
Er legte einen neuen Schiffsanzug an, kochte sich Kaffee und kam mit einer dampfenden Tasse in der Hand wieder zur Brücke zurück. Ruhig beobachtete er, wie die von den Schiffssensoren gesammelten Daten hereinströmten. Das Hauptspeichermodul blinkte und gurgelte, während der Computer immer mehr Daten in sich hineinfraß. Hin und wieder leuchtete ein rotes Schluckauf -Lämpchen auf, wenn er gerade ein besonders sperriges Stück verschlang.
Sten nickte. Gut. Er schlürfte seinen Kaffee.
Er fühlte sich ziemlich normal.
In einigen Augenblicken würde der Computer mit dem Sammeln der Daten fertig sein. Die
Naturgesetze dieses Universums würden
entschlüsselt werden. Der Schiffscomputer würde seine eigene Realität neu definieren.
Dann waren Sten und das Schiff nicht mehr blind.
Er ließ sich in seinen Sessel sinken, wartete, nippte am Kaffee; sein Verstand arbeitete wieder klar, konzentrierte sich aber auf nichts, seine Augen verfolgten den unablässigen Datenstrom, als könnte er bei dieser Geschwindigkeit tatsächlich etwas davon entziffern oder ableiten.
Sten schuf sich auf die einzige Weise, die er kannte, einen Platz in diesem neuen Universum durch Routine. Ein alter Soldatentrick, den einen die ständige Veränderung lehrt. Egal wie weit entfernt du von zu Hause bist, wie bizarr die Bewohner dieser Gegend sein mögen, die Fremdheit läßt sich dadurch bezwingen, daß du eine Routine aufbaust.
Kleine Dinge. Vertraute Dinge. Eigennützige Dinge.
Zum Beispiel waschen und saubermachen. Die erste heiße, bittere Tasse Kaffee zu Beginn der Schicht.
Und die lässige, nüchterne Erörterung des bevorstehenden Auftrags.
Dann krempelst du die Ärmel hoch und stürzt dich mitten hinein, in der Gewißheit, daß all das nötig war, um diese Aufgabe gut zu erledigen. Der weitaus größere und komplexere Teil der Verantwortung ruht auf den Schultern deiner fähigen Vorgesetzten. Du erledigst einfach deinen Job und bleibst ansonsten sauber.
Sten lehnte sich entspannt zurück. Er hatte seine Mitte wiedergefunden. Jetzt war es an der Zeit, diesen Ort zu erobern.
Er dachte an Cind, und er lächelte. Er dachte an ihre warmen, festen Arme, in die er zurückkehren würde, wenn dieser Job hier erledigt war. Ja, und auch an ihren scharfen Verstand. Ihre Art, stets einen Weg zu finden, das Problem, das ihn quälte, entweder zu lösen oder zu umgehen.
Und dann Kilgour. Sein klobiger, inzwischen fast schon lebenslanger Freund und Waffenbruder. Solch einen Mann hatte man gern im Rücken. Kein einziges Problem, das Cind vielleicht aus der Bahn werfen mochte, würde sich jemals an seinem scharfen Schottenverstand vorbeimogeln können.
Nach ihnen lud Sten Otho und die Bhor zu sich ein. Er applaudierte, als die Gurkhas anmarschiert kamen. Dann Marr und Senn. Haines und Sam'l.
Und seine vielen anderen Freunde und treuen Besatzungsmitglieder.
Schon bald wimmelten sie alle in seiner Vorstellung bunt durcheinander. Rissen Witze, klopften ihm auf die Schulter, küßten ihn oder schüttelten ihm die Hand.
Der Computer zirpte und verfiel dann in Schweigen. Sten blickte hinüber. Das "Bereit"-
Zeichen blinkte.
Er nahm noch einen Schluck aus der Kaffeetasse und stellte sie dann ab. Seine Finger flogen über die Tastatur. Dann schickte er das Kommando ab.
Sten blickte zu seinem Hauptmonitor hinauf.
Nach und nach füllte sich die Dunkelheit mit Licht.
Er beugte sich ungeduldig nach vorne, um ja den ersten Anblick des neuen Universums nicht zu verpassen. Jetzt fürchtete er sich nicht mehr davor.
Denn jetzt war er nicht mehr allein.
Er hatte es gefunden!
Die Rumpelkammer des Imperators!
Das Ausmaß der Operation kam ihm größer vor
... aber irgendwie auch kleiner ... als er es sich vorgestellt hatte.
Gewaltige AM2-Tankschiffe verkehrten zwischen den Überresten eines alten, zerstörten
Sonnensystems. Seine Sonden zeigten ihm, daß sich auf diesen Überresten - geborstenen Planetoiden oder Monden - riesige Abraummaschinen befanden, die den Grundstoff dieses Universums ernteten.
Kleinere, mit Abbaugut beladene Shuttles bewegten sich zwischen den Tankern hin und her. Sobald die Tanker vollbeladen waren, machten sie sich auf die lange Reise in ein anderes Universum und wieder zurück.
Es war ein gewaltiges, komplexes System, das vollständig automatisiert ablief und allein den Zwecken des Imperators diente.
In gewisser Hinsicht war Sten ein wenig enttäuscht, als er das hier mit den Ausmaßen der Abraumoperationen verglich, die er auf anderen Reisen bereits gesehen hatte. Diese Sache hier würde bequem in eine kleine Ecke eines jener Komplexe passen und immer noch genug Platz zur Entfaltung haben.
Er fand es unglaublich, daß so etwas Mickriges eine derartige Wirkung auf die Zivilisation haben sollte, und das schon seit ein paar tausend Jahren.
Ein ganzes Imperium war auf ein einziges kleines Partikel aus einem anderen Universum gegründet worden.
Die zweite Sache, die ihn erstaunte, war das Alter der Schiffe und der Maschinen. Sie funktionierten alle noch perfekt und erledigten ihre Aufgaben, als wären sie gerade eben vom Band gelaufen. Ihr Design jedoch stammte geradewegs aus dem Technologiemuseum.
Es waren ausnahmslos große, klotzige Dinger mit scharfen Kanten und vielen beweglichen Teilen.
Zuletzt und am allermeisten verblüffte ihn jedoch, daß bis jetzt noch kein einziger Schuß, keine einzige Rakete auf ihn abgefeuert worden war.
Sten lenkte das Einsatzschiff an einem Tanker vorbei und wagte sich tiefer in den Abraumkomplex hinein.
Er hatte sämtliche Systeme extrem
heruntergefahren, sobald er dieses Sonnensystem und die Raumschiffe ausgemacht hatte. Er hatte alle unnötigen Energiequellen abgeschaltet, seine Abschirmung auf allen Frequenzen auf ein Maximum hochgefahren, die Sensoren auf passiv gestellt und die Bordfunktion auf ein Minimum reduziert. Dann war er auf einer mehrfach gewundenen Route, auf der er jedes Stäubchen als Deckung nutzte, näher gekrochen. Kein einziger feindlicher Sensor schien ihn erfaßt zu haben. Er entdeckte auch keinen einzigen Stolperdraht, der bei seinem Eindringen hätte Alarm auslösen können.
Nachdem er sich einigermaßen sicher fühlte, schaltete er die Abschirmung aus und setzte die Suche aktiver fort. Wieder erfolgte keinerlei Reaktion. Schließlich zeigte er sich ohne Deckung, wobei alle seine Geschützluken offenstanden und bereit schienen, jedem Angriff zu trotzen. Die Minenkolonie arbeitete jedoch stur in ihrem robotischen Trott weiter, ohne ihm auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Das war wirklich ziemlich eigenartig. Warum ließ der Imperator seine Schatzkiste völlig unbewacht zurück?
Vielleicht weil er sich so sicher war, daß niemand sie entdecken würde. Schließlich lag sie in einem anderen Universum versteckt. In einem Universum, an dessen Existenz zu glauben noch bis vor kurzem jeder gehindert worden war. Es konnte einfach nicht existieren.
Sten runzelte die Stirn, als ihm diese
Überlegungen durch den Kopf gingen, während er die andere Hälfte seiner Gedanken dem kleinen Mond widmete, der auf dem Monitor an ihm vorbeischwebte ... Na schön. Diese Logik konnte er akzeptieren.
Trotzdem: wäre das hier Stens Geheimversteck, dann hätte er es garantiert von einer Seite zur anderen mit Stolperdrähten, Fallen und Minen versehen. Diese Paranoia wurde einem von den Ausbildern bei Mantis beigebracht. Verlasse dich niemals auf dein Glück.
Sten dachte an den verschnörkelten Verstand des Imperators und fühlte sich gleich noch besser. Es war einfach. Der Imperator hatte es auf eine verdrehte Art gern einfach. Einfach hieß auch immer, daß nicht so schnell etwas schiefging.
Seine Gedanken machten einen großen Satz vorwärts. Ein einfaches System hatte normalerweise einen einfachen Kontrollmechanismus. Das bedeutete, daß dieser gesamte Abraumkomplex von einer einzigen Kommandozentrale aus gesteuert wurde. Nächster Schritt ... Höchstwahrscheinlich hatte der Imperator seine Unterkunft in dieser Kommandozentrale angelegt. Das nahm nicht viel Platz in Anspruch. Sten war sicher, daß der Imperator stets allein hierherkam. Es gab kein Lebewesen, dem er dieses Geheimnis anvertrauen konnte.
Sehr gut. Denn das wiederum hieß, daß Sten jetzt nur noch diese Kommandozentrale finden und in die Luft jagen mußte, um die AM2-Lieferungen an das Imperium zu unterbinden.
Und Gott verfluche die Augen des Imperators!
Das große weiße Schiff füllte den Bildschirm fast vollständig aus. Es war älter als die
Geistergeschichten seines Vaters. An seinen archaischen Umrissen hing der Raumstaub dick wie Spinnweben. Er entdeckte Batterien von Sensoren und Antennenfühler, an die er sich nur dunkel aus irgendwelchen Unterlagen aus seiner
Pilotenausbildung erinnerte. Den Zweck anderer Vorrichtungen konnte er sich überhaupt nicht zusammenreimen.
Hingegen bestand kein Zweifel daran, wofür diese Geschützluken gedacht waren. So antiquiert sie sein mochten, Sten erkannte sie sofort. Der Ewige Imperator war nicht gänzlich unbewaffnet.
Irritierend war einzig die Tatsache, daß sie verschlossen waren.
Stens Hand schwebte über dem Knopf, mit dem er zwei Goblins auf das Schiff hetzen konnte. Beim kleinsten Hinweis einer Bedrohung würde er es in die für dieses Universum zuständige Hölle schicken.
War das das Ding, das er suchte? War das die Kommandozentrale? Das ultimative Versteck des Imperators?
Er sondierte die Lage. Das Schiff war aktiv, aber sehr einfach strukturiert. Es gab eine Atmosphäre an Bord, und irgendwelche Funktionen liefen ab. Aber es gab keinerlei Anzeichen von Leben.
Sten seufzte und wünschte sich zum hundertsten Male, daß es möglich gewesen wäre, mit der Victory und der gesamten Mannschaft hierherzufliegen. Mit ihren Fähigkeiten und dem ausgeklügelten Sensorensystem der Victory hätte er dieses weiße Schiff Atom für Atom auseinandernehmen können.
Er glaubte, daß es das richtige Ziel war. Aber er war sich nicht sicher.
Zu einer genaueren Inspektion mußte er sich an Bord begeben.
Er betrachtete das weiße Schiff aufmerksam und suchte einen Zugang. Die Idee, direkt am Schiff anzudocken oder eine der Haupteingangsluken zu benutzen, ließ er sofort wieder fallen.
Der Imperator mochte es einfach. Sprengfallen waren einfach. Also waren die Einstiegsluken und der Andockbereich mit Sprengfallen versehen.
Beinahe hätte er das Loch im hinteren Abschnitt in der Nähe des Antriebs übersehen. Sten zoomte heran, bis die gezackten Ränder den Monitor ausfüllten. Ein Meteoriteneinschlag. Sah ziemlich frisch aus. Nicht älter als ein paar Jahre.
Offensichtlich war der AM2-Schuttbrocken nach dem Aufprall irgendwo auf der Außenhülle detoniert.
Sten fragte sich, wieviel Schaden er angerichtet haben mochte.
War das die Erklärung für die geschlossenen Geschützluken? Für die minimalen Aktivitäten auf dem Schiff?
Das Glück war immer noch auf seiner Seite.
Dieser Otho mit seinen blöden Dreierpärchen: blind, dumm und hinterhältig. Für Sten funktionierte das erste herausragend.
Er betrachtete das Loch. Als er entdeckte, daß es groß genug war, um ihm als Privatzugang in das Schiffsinnere zu dienen, kam er sich noch mehr vom Glück verfolgt vor.
Rüberzukommen wäre kein Problem. Alex und Otho hatten einen kompletten Raumanzug mitsamt Accessoires mit einer Schutzschicht aus Imperium X
versehen.
Damit er bei einer Begegnung mit einem AM2
Partikel nicht gleich in die Luft flog.
Sten suchte sich zusammen, was er brauchte. Er überlegte, wieviel Sprengstoff er brauchen würde, um dieses Schiff zu vernichten - falls es sich denn wirklich um die Kommandozentrale des Imperators handelte.
Er mußte ein entsprechendes Paket
zusammenschnüren. Mit einem Ein—
oder
Zweistundentimer. Kein Problem. Abgesehen davon: worin sollte er das Päckchen transportieren?
Wie sollte er es hinüberbringen? Etwa wie ein Baby in den Armen halten?
Dann fiel ihm wieder der Rucksack ein, den Alex ebenfalls mit Imperium X versiegelt hatte. Sie hatten nicht viel Zeit gehabt, und Sten war ungeduldig gewesen.
"Wozu soll das denn gut sein?" hatte er gefragt.
"Soll ich mir das Ding über den Kopf ziehen, wenn die Ballerei beginnt?"
"Das kann man nie wissen, mein guter Sten", hatte Alex geantwortet. "Erst dann, wenn es soweit ist."
Sten hatte keine Lust zum Streiten gehabt und ihm seinen Willen gelassen.
Und jetzt hatte er dank Alex etwas, womit er den Sprengsatz transportieren konnte.
Das Glück der Dummen.
Der zweite Posten auf Othos Liste. Er nahm es an. Ohne Probleme.
Er schwebte hinaus in dieses verrückte
Universum, achtete nicht auf den Farbenrausch, der sich vor seinem Visier abspielte, und navigierte nach dem internen Trägheitssystem des Raumanzugs.
Das Glück blieb ihm treu, denn er erreichte das weiße Schiff ohne Zwischenfall. In weniger als zwanzig Minuten hatte er das Loch so weit vergrößert, daß er mit seiner Ausrüstung ins Innere schlüpfen konnte.
Sobald er drinnen war, hieß sein größter Gegner zunächst einmal Verwirrung. Die Konstruktion des Schiffes war zu altertümlich und zu unvertraut, als daß er sich sofort zurechtgefunden hätte. In einer Ausbuchtung gleich hinter der Schiffshülle verankerte er seine Stiefel auf einer
Arbeitsplattform, drehte sich in alle Richtungen und leuchtete mit seiner Lampe in die dunklen Gänge, die auf diese Plattform mündeten.
Schließlich fand er so etwas wie eine grobe Orientierung. Eigenartig, wie dieser Begriff in einer änderen Realität klang. In einem anderen Universum. Sten riß sich von dem
gehirnvernebelnden Gedanken los. Er orientierte sich an dem Schacht, den er sich ausgesucht hatte.
Derjenige, der seiner Meinung nach in den Maschinenraum führte. Mehr Definitionen brauchte er nicht. Alle anderen hob er sich für die langen, philosophisch inspirierten Abende im Kreise seiner trinkfreudigen Freunde auf.
Er traf seine Wahl und machte sich auf den Weg.
Trotz des klotzigen Rucksacks bewegte er sich anmutig und schwebend schräg nach oben durch die pechschwarze Dunkelheit.
Der Maschinenraum war ein einziges
Durcheinander. Verbogene Metallteile und überall Kabelsalat zeigten überdeutlich an, welchen Schaden der Meteoriteneinschlag verursacht hatte.
Der Raum besaß keine Atmosphäre. Doch die Schwerkrafterzeuger des Schiffs liefen; er stand auch mit abgeschalteten Magnetvorrichtungen an den Stiefeln fest auf den Füßen. Die Anzeigen auf seinem Helmbildschirm zeigten Anzeichen mechanischen Lebens direkt vor ihm an. Keinerlei Anzeichen für Gefahr. Kein Hinweis auf ein Verteidigungssystem, das Sten geortet hatte.
Sten vermutete, daß der Meteoritentreffer und die daraus resultierende Explosion beim
Zusammentreffen von AM2 mit feindlichen Partikeln das Schiff nur verwundet hatten. Es hatte darauf reagiert, indem es seine Funktionen auf ein Minimum reduzierte. Das Minimum bestand wahrscheinlich in der Überwachung des AM2
Abbaus und des Transports. Vorausgesetzt, hier handelte es sich tatsächlich um das Kommandoschiff des Imperators. Wovon er nach wie vor überzeugt war.
Es war wohl dazu in der Lage, eine wirksame Reparatur vorzunehmen, hatte jedoch die dafür notwendige Energie zur Aufrechterhaltung dieser vorrangigen Minimalfunktion zurückgehalten.
>Mit anderen Worten<, dachte Sten, >es ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.< Mit einem Mal kam ihm in den Sinn, daß der Schaden, auf den er da blickte, womöglich etwas mit dem Fehlverhalten des Imperators zu tun haben könnte.
Was hatte Haines damals gesagt? Der Imperator war der gleiche. Aber nicht der gleiche. Gleich, aber anders.
Vielleicht hatte der Meteor eine Art von Plan durcheinandergebracht. Etwas in der Art von ... Er schüttelte den Kopf. Sinnlose Spekulationen.
Spekulationen für den noch weit in der Zukunft liegenden Abend mit seinen Freunden.
Er ging weiter.
Stens Erstaunen angesichts der Komplexität des weißen Schiffes nahm zu, je weiter er sich durch den Korridor ins Innere schob. Jetzt, nachdem er zwei Sicherheitsschleusen jenseits des Schadensbereichs passiert hatte, waren Atmosphäre und Temperatur wieder Enormal. Er hatte Helm und Handschuhe ausgezogen und an sein Koppel gehakt. Er atmete tief durch, um die schale AnZugluft aus seinen Lungen zu pumpen.
Die Luft im Schiff roch frisch, mit einem Hauch von ... Fichte? Ja, oder etwas sehr Ähnliches.
Hier mußte sich auch die Unterkunft des Imperators befinden. Er war allgemein ein großer Naturfreund.
Sten folgte dem Korridor, den er aufgrund seiner Abmessungen und der durchgezogenen blauen Linie am Boden für den Hauptgang hielt. Überall, wohin er blickte, erstreckten sich weitere Gänge schmalere Korridore, die in diesen hier mündeten.
Und es gab Türen. Viele Türen.
Einige führten zu nichts weiterem als Unmassen von Drähten und Schaltungen und elektronischer Ausrüstung. Einige führten in Lagerräume voller Ausrüstung und Ersatzteile. Es gab sogar eine Werkstatt für die vielen Roboter, die überall an Bord herumwieselten.
Sten machte einen Schritt zur Seite, als einer von ihnen einen Schweißbrenner schwenkend auf ihn zurollte, unterwegs zu irgendeinem Auftrag.
Plötzlich weitete sich der Korridor zu einem von einer hohen Kuppel überspannten Atrium.
Sten betrat eine weitläufige hydroponische Farm voller exotischer Pflanzen, Früchte und Gemüse.
Alles Dinge, die der Imperator als köstlich empfand.
Sten hielt sich an die blaue Linie, bis der Pfad wieder zum Korridor wurde.
Kurz darauf stand er in einem großen Raum, der antiseptisch, nach medizinischer Reinheit, roch. Eine lange Reihe von Bottichen, die mit einer ihm unbekannten Flüssigkeit gefüllt waren. Das Licht in dem Raum war eigenartig hell... und warm. Er sah stählerne Tische und Andocköffnungen für Medizinrobots. Er fühlte sich ziemlich unwohl in diesem Raum und ging weiter.
Jetzt kam er zum Kontrollzentrum des Schiffes.
Es war vollgestopft mit archaischer Ausrüstung, die so perfekt arbeitete, als befände sich das Schiff auf seiner Jungfernreise.
Sten zweifelte nicht mehr daran.
Das hier mußte die Kommandozentrale des Imperators sein. Sein wohlgehütetes Versteck. Wenn er dieses Schiff in die Luft jagte, würden auch die AM2-Lieferungen aufhören.
Er ließ den Rucksack mit dem Sprengstoff von seinem Rücken gleiten und stellte ihn neben sich auf den Boden, direkt neben einen Frischluft-Ventilator.
Der Ort war so gut wie jeder andere.
Er sah sich neugierig um, staunte über das, was der Imperator hier zuwege gebracht hatte; dabei war er sich der Tatsache vollauf bewußt, daß er nur einen vagen Eindruck davon bekam, wie ausgeklügelt die ganze Anlage wirklich war.
>Wie hat er das nur geschafft?
Verdammt! Wie konnte er überhaupt damit anfangen?<
Sten erblickte eine Tür am anderen Ende des Korridors. Sie war mit dem Schriftzug "Bibliothek"
versehen. Vielleicht fand er dort eine Antwort auf seine Fragen. Den Schlüssel zu den Geheimnissen des Imperators.
Er ging auf die Tür zu, ließ sie aufgleiten und betrat die Bibliothek.
Als die Tür sich hinter ihm schloß, fiel ihm mit einiger Überraschung auf, daß es hier keine endlosen Reihen von Fiches gab. Auch keine Bücherregale.
Nur ein paar Tische und Stühle.
War das wirklich eine Bibliothek?
Die Stimme ertönte von irgendwo hinter ihm.
"Schachmatt", sagte der Ewige Imperator.