Kapitel 31
"Jedesmal, wenn ich eine neue Spur entdecke", sagte Cind, "denke ich, jetzt habe ich ihn, diesmal habe ich ihn erwischt, den Saukerl."
Cind hob eine Handvoll Sand hoch und ließ ihn langsam wieder herunterrieseln. "Aber kurz darauf stecke ich wieder in einer Sackgasse fest, und der Schurke dreht mir eine lange Nase. Ich kann beinahe hören, wie er mich auslacht."
"Das geht dir nicht allein so", meinte Haines. "Ich habe sämtliche Akten von Mahoney durchkämmt und einige hervorragende Spuren gefunden. Aber sie lösen sich alle in Nichts auf, kaum daß ich angefangen habe, sie zu verfolgen. Ich komme mir schon wie ein blutiger Anfänger vor."
"Trotzdem bin ich davon überzeugt, daß wir auf dem richtigen Weg sind", widersprach ihr Sten. "Ich glaube fest daran, daß es der schnellste und am wenigsten blutige Weg ist, ihn zu besiegen. Sobald wir wissen, wo der Imperator sein AM2 herkriegt, können wir ihm an die Gurgel gehen."
"Das hat noch niemand geschafft", sagte Cind.
"Die Geschichte des Imperiums strotzt von derlei Fehlversuchen. Denke nur daran, was mit Kyes passiert ist."
Schweigen hüllte die kleine Gruppe ein. Sie lagen an einem der idyllischen Sandstrände Nebtas. Es war ein richtig fauler Tag. Leise plätscherten die Wellen an den Strand. Flugtiere schwebten über dem Wasser und stießen klagende Schreie aus.
Doch die Schönheit des Tages fiel den
Verschwörern nicht auf. Außer einem. Dem sanften Riesen, Haines' Ehemann Sam'l. Er hörte ihrem Gespräch interessiert zu, doch ein Teil seiner Gedanken war weit weg und schaukelte mit den geflügelten Wesen durch die Lüfte.
"Entdeckungen sind eine bemerkenswerte Sache", sagte er ein wenig träumerisch. "Es gibt bewegende Geschichten über Wesen, die viel gewagt und gelitten haben, um ihr Ziel zu erreichen. Ich habe viele dieser Legenden als Junge gelesen.
Wahrscheinlich bin ich deshalb Archäologe geworden. Damit ich selbst Abenteuer erleben kann."
Sten lächelte. Er konnte diesen großen, etwas schwerfälligen Mann gut leiden. Er hatte gelernt, ihm geduldig zuzuhören. Denn Sam'l hatte immer etwas zu sagen.
"Und? Hast du viele Abenteuer erlebt?"
"Aber ja. Viele. Wenn wir irgendwann mal wieder an einem schönen Abend beisammensitzen und ich zuviel Wein getrunken habe, werde ich dich damit langweilen. Denn allein dafür sind sie gut...
für eine paar nette Anekdoten.
Dabei sind die größten Entdeckungen in den Kellern der Museen zu machen. Unglaubliche Dinge. Verblüffende Gedanken. Alles
übereinandergekippt, bis irgendwann einmal ein gelangweilter Student darin herumwühlt."
"Du willst damit sagen, daß die Antwort möglicherweise direkt vor unserer Nase liegt", sagte Sten.
"So etwas in der Art", bestätigte Sam'l.
"Vielleicht müssen.wir nur noch einmal alles durchsehen, was wir bereits haben. Von allen Seiten betrachten. Bis wir den richtigen Blickwinkel gefunden haben."
"Und wo sollen wir anfangen?" wollte Cind wissen.
"Warum nicht mit dem Element selbst?" fragte Sam'l zurück. "Antimaterie Zwei."
"Wenn es Gold wäre, oder Eisen, oder von mir aus Imperium X", sagte Cind, "dann hätten wir eine ziemlich gute Vorstellung davon, wo wir zu suchen hätten. Wir müßten die Gesetze der Planetargeologie und drei oder vier andere Wissenschaften beachten."
"Das ist alles durchaus interessant", sagte Haines.
"Mit anderen Worten - Antimaterie Zwei hat kein Gegenstück in der Natur."
"Es besteht die Möglichkeit", sagte Cind, "daß AM2 von einem Ort des Universums stammt, der bis jetzt nicht entdeckt wurde. Jedenfalls von keinem anderen als dem Imperator. Aber genau das ist ein Teil der Annahme, von der ich ausgegangen bin. Sie hat mich nirgendwohin geführt, nur auf sehr alte, sehr kalte Spuren."
"Wie sieht es mit einem anderen Universum aus
?" schlug Sam'l, der Träumer, vor. "Mit einem Parallel-Universum? Das würde jedenfalls erklären, warum es in der uns bekannten Welt nichts gibt, was der Struktur von AM2 entsprechen würde."
"Ich will ja kein Spielverderber sein", sägte Sten,
"aber ich hatte immer den Eindruck, daß alle, die sich mit der Theorie alternativer Universen beschäftigten, ein bißchen neben der Spur laufen, oder? Und daß die moderne Wissenschaft darin übereingekommen ist, daß etwas Derartiges nicht existiert?"
Haines zuckte zusammen. "In Mahoneys Akten findet sich etwas zu diesem Thema", sagte sie.
"Damals habe ich diesem Aspekt nicht viel Beachtung geschenkt."
"Was hatte er zu sagen?" hakte Sten nach.
"Nichts Spezifisches", antwortete Haines. "Bis auf die Tatsache, daß der Imperator ihm jedes Mal auszuweichen schien, wenn er darauf drängte, die Forschung in Richtung der Theorie über Parallel-Universen voranzutreiben. Mahoney zufolge hat man einigen sehr prominenten Wissenschaftlern, die sich zu weit in dieses Gebiet vorgewagt hatten, empfindlich die Flügel gestutzt."
"Vielleicht sollte ich jetzt endlich aufwachen", sagte Sten, "und ein paar von Jans wirren Ideen mehr Aufmerksamkeit schenken."
"Etwa der Sache mit der Unsterblichkeit?" sagte Haines lachend.
"Genau. Vielleicht hat das eine ja mit dem anderen zu tun."
"Mir gefällt das", warf Sam'l ein. "Eine Antwort auf zwei Fragen. Das ergibt allemal eine elegante Lösung."
"Hinter dieser Geschichte war auch Kyes her", sagte Cind. "Und er kam ziemlich dicht ran."
"Ich weiß nicht, wo der Imperator sein Kaninchen herzaubert", sagte Sten. "Er stirbt. Er kehrt zurück.
Ich ignoriere jetzt Haines' Informationen, daß wir es diesmal vielleicht nicht mit exakt derselben Person zu tun haben. Für den Augenblick lassen wir das einmal beiseite und halten uns an das, was wir wissen.
Erstens ... Jedesmal, wenn er verschwindet, bleibt er, Mahoney zufolge, drei Jahre lang weg. Beim letzten Mal waren es sechs, aber ich denke, das können wir getrost als Ausnahme von der Regel ansehen.
Wie auch immer, drei Jahre lang sieht und hört niemand etwas von ihm. Das heißt, er muß ein Versteck haben. Ein so gutes Versteck, daß es - und das sage ich wirklich nicht gerne - seit einigen tausend Jahren niemandem gelungen ist, es ausfindig zu machen.
Zweitens ... Antimaterie Zwei stammt von einem mindestens ebenso geheimnisvollen Ort. Das Privatkabinett hat zu seinem großen Leidwesen erfahren, wie gut versteckt dieser Ort ist."
"Es wäre ziemlich dumm, zwei verschiedene Orte zu benutzen, um so ziemlich die gleiche Sache zu erreichen", sagte Cind.
"Eines ist der Imperator bestimmt nicht", meinte Haines. "Dumm."
"Wenn wir also den einen Ort finden", sagte Sten,
"haben wir auch den anderen."
"Denken wir immer noch an die Möglichkeit eines alternativen Universums?" erkundigte sich Sam'l.
Sten zuckte die Achseln. "Die Hypothese ist nicht schlechter als jede andere."
"Für unsere Bedürfnisse ist sie sogar deutlich besser als viele andere", sagte Sam'l. "Der Imperator würde einen Zugang und einen Ausgang brauchen.
Eine Tür sozusagen. Ein Tor zwischen den Universen."
"Echt?" Sten sah ihn ausdruckslos an.
"Wenn ich mich an die Physiklektionen während meines Grundstudiums recht erinnere", meinte Sam'l, "dann müßte die Art von Tor, von der wir hier sprechen, eine Störung im kosmischen Hintergrund verursachen. Eine Diskontinuität nennt man so etwas, glaube ich."
Jetzt hatte Sten es kapiert. "Endlich reden wir von einer meßbaren Größe, anstelle von
Niemandsländern und Geisterorten. Wenn es im kosmischen Hintergrund einen Blip gibt, besteht die Chance, daß wir die Stelle finden."
"Mit der Einschränkung, daß wir nicht wissen, in welcher Richtung wir suchen müssen", beschied Haines. "Der Himmel ist weit. Wenn wir das alles Stück für Stück abklappern wollen, dauert es mehr als zwei oder drei Ewigkeiten."
"Da bin ich mir nicht so sicher", sagte Cind.
Alle sahen sie an. Bettelten um einen Hinweis.
"Es gab noch einige weitere Orte, für die sich Kyes interessierte und die er nicht mehr überprüfen konnte", sagte sie. "Hierbei handelt es sich um Orte, von denen Kyes annahm, daß der Imperator sie jedesmal, wenn er zurückkehrte, als Verstecke benutzte. Sämtliche Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Computersimulationen bestätigen die Richtigkeit seiner Annahmen. Sie passen ins Profil."
"Ich finde, wir sollten die Daten mit Mahoneys Angaben korrelieren", sagte Haines zu Cind. "Ian hat ziemlich in die gleiche Richtung gearbeitet."
"Gute Idee", pflichtete ihr Cind bei und lächelte Haines zu. Sie konnte sie gut leiden. Und als Stens frühere Geliebte hielt auch Haines viel von Cinds gutem Geschmack.
"Wenn es sich hier um einen Mordfall handeln würde", fuhr Haines fort, "was ja auf schreckliche Weise zutrifft, und ich hätte den Ort entdeckt, an dem das Verbrechen geplant wurde, dann würde ich als nächstes versuchen, die Funkverbindungen anzuzapfen. Alles bis oben hin mit Wanzen vollpacken. Und darauf warten, daß der Verdächtige anruft. Sobald er das tut, muß ich nur noch den Anruf zurückverfolgen."
"Um bei deiner Analogie zu bleiben, meine Liebe", sagte Sam'l und streichelte die Hand seiner Frau, "so glaube ich, daß du nicht einmal abwarten mußt. Die Verbindung müßte kontinuierlich offen sein, vorausgesetzt, daß alle unsere Theorien Hand und Fuß haben. Der Imperator müßte in ständiger Verbindung mit seinem Versteck stehen und...
Liebling, ist dir eigentlich aufgefallen, daß ich schon wie ein Livie-Bulle rede? Und müßte nicht auch eine offene Verbindung zu einer Relaisstation bestehen, wie zu derjenigen, die Kyes' letztes Ziel gewesen zu sein scheint? Es muß mehr als nur eine davon geben, denn der Imperator überläßt wohl kaum etwas mehr dem Zufall als, sagen wir, Schliemann."
Sten zwang sich zur Ruhe. Er wollte den Augenblick nicht verderben. "Zumindest wäre es eine Überprüfung wert."
"Es taugt mehr als das", erwiderte Cind. "Alle meine Instinkte schlagen Alarm und sagen mir, daß wir diese Richtung einschlagen sollten."
"Dann laß dich von ihnen leiten", ermunterte sie Haines. "Instinkt ist das, was die Anfänger von den Profis unterscheidet."
Sam'l unterbrach die Unterhaltung auf seine verschwommene, träumerische Art. "Ich frage mich die ganze Zeit über", sagte er, "wie unser Leben aussehen würde, wenn man AM2 kopieren und künstlich herstellen könnte - so wie viele der normalen Elemente. Wie anders alles gekommen wäre, wenn wir es so leicht brauen könnten wie unsere Gastgeber, die Bhor, ihren Stregg."
Ein ironisches Lächeln spielte um seine Lippen.
"Aber ich vermute, daß etwas Derartiges höchst unwahrscheinlich ist. AM2 tatsächlich synthetisch herzustellen, meine ich. Mein Lehrbuch sagte dazu, wenn ich mich recht entsinne, daß selbst dann, wenn es möglich wäre, die Kosten das ganze Unterfangen zu einer nutzlosen Übung degradieren würden."
"Mahoney dachte anders darüber", warf Haines ein.
Sten sprang auf. "Was?"
"Ich sagte, Mahoney dachte anders darüber. In seinen Unterlagen findet sich ein Haufen Material über synthetische AM2. Unter der Überschrift
>Desinformation<. Ich habe gerade erst angefangen, diesen Bereich durchzusehen."
Sie tippte sich gegen die Stirn und wühlte in ihrem Gedächtnis. "In einer Datei stand ganz explizit etwas zu diesem Gedanken. Etwas, worauf Mahoney dich aufmerksam machen wollte."
Sten nickte. Sie hatte ihm bereits einige Einträge gezeigt, die Mahoney mit einem 5 markiert hatte, damit Sten sie sich genauer ansah.
Haines erinnerte sich und lächelte. "Ach, ja.
Etwas über ein >Projekt Bravo<." Sie blickte Sten an. "Weißt du etwas darüber?"
Cind sah, daß Sten unwillkürlich
zusammenzuckte. Sie sah, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Was stimmte mit ihm nicht? Sie streckte die Hand aus, um die seine zu berühren. Sie war kalt.
"Ja", sagte Sten. Seine Stimme war voller Bitterkeit. "Ich weiß, was dieses Projekt Bravo bedeutet."
Dann erst sah er die Besorgnis in Cinds Gesicht.
Und in dem von Haines. Sogar der kaum zu beeindruckende Sam'l hatte die Stirn in Falten gelegt.
Er zwang sich, wieder etwas fröhlicher zu klingen. "Aber zuerst muß ich mein Gedächtnis eingehend überprüfen", sagte er. "Mit Rykor."
Sein Inneres fühlte sich alles andere als beruhigt an. Ja, er mußte sich mit Rykor unterhalten, das stimmte.
Über einen Alptraum.
Er war wieder auf Vulcan.
Karl Sten. Ein junger Mig, fast noch ein Kind, das zum Delinq geworden war und nur noch wenige Stunden zu leben hatte, bis Thoresens Killer es aufspürten.
Bet war bei ihm. So jung und wunderschön. Und Oron. Dieser schrille Genius mit dem gelöschten Gehirn, der nur die Gegenwart kannte.
Mahoney baute sich vor ihm auf. Ein viel jüngerer Mahoney Stark und selbstbewußt. Aber der halbwüchsige Sten war sich nicht sicher, ob er ihm vertrauen durfte.
"Ich brauche eine Bestätigung für Thoresens Plan", sagte Mahoney "Ich habe mich in den Zentralcomputer und die der Ma-nags eingeklinkt, aber dort war außer Warnungen vor weiteren Nachforschungen nichts über Projekt Bravo zu finden."
Projekt Bravo! Da war es wieder. Sten spürte einen quälenden Druck in seiner Brust. Ein Seufzer entrang sich seinem Innersten und brach wieder ab.
Ruhig, Sten, kam Rykors Stimme... E s ist vergangen. Es ist vorbei. Du hast das alles längst hinter dir... Er verspürte einen leisen Stich. Und dann entspannte er sich, als das Beruhigungsmittel zu wirken begann. Er hörte weit entfernte Kratzgeräusche. Rykor an der Tastatur. Sie versuchte, ihm Bilder zu entlocken. Und Mahoneys großes, freundliches Gesicht wurde weggerissen ...
Einer von Thoresens Leuten auf Rundgang. Sten kam von hinten auf ihn zu. Seine Hand beschrieb einen Halbkreis um die Kehle des Mannes. Sein Messer stieß zu. Er hörte das Gurgeln und spürte, wie das Leben entwich. Kein Anzeichen von Reue.
Nur ein eigenartiges Aufflackern von Genugtuung ...
Selbsthaß stieg auf ... überflutete ihn förmlich ... So viele Leben hatte er ausgelöscht ... Gemordet...
Rykors tröstende Stimme drang an sein Ohr: Laß los, mein Freund, laß alles hinter dir.
Aber das konnte er nicht. Der Mann war tot.
Weggeputzt. Wie ein lästiges Insekt. Sten stöhnte.
Mein Gott, vergib mir ... und dann noch ein Stich ...
und das Beruhigungsmittel breitete sich in seinen Venen aus ... Das Bild sprang zu
Sie befanden sich im Innern des Auges, hatten Thoresens versteckten Safe entdeckt. Sten besprühte das Sensorschloß. Eine eiskalte Flüssigkeit von null Grad Kelvin ließ den Stahl kristallisieren. Er nahm einen Hammer und schlug dagegen. Das Metall zersprang. Die Tür ging auf. Sie waren drin! Sten verspürte eine längst vergangene Erregung. Sah zu Bet und Oron. Alle drei grinsten wie Irre, weil sie Thoresen mit seinen eigenen Waffen geschlagen hatten.
... Wieder der Stich des Beruhigungsmittels. Sten stemmte sich gegen den Schrecken, der jetzt folgte, verscheuchte die raschelnden Fledermausflügel seiner dunkelsten Erinnerungen. Sein hämmerndes Herz kam wieder zur Ruhe. Er fühlte die angenehme Härte des Untersuchungstisches unter sich, die an seinem Kopf, seinen Armen und Beinen befestigten Elektroden. Er hörte ein Plätschern. Das war Rykor, die sich wieder in ihr Becken begab. Er mußte keine Angst mehr haben. Vertraue Rykor. Wenn Rykor den Gehirnscanner bediente, war er sicher. Sten ließ die Bilder weiterlaufen ...
Weiter. Das nächste.
Sten griff in Thoresens Safe. Fand das Dokument inmitten von Papierstapeln und Bündeln Imperialer Credits. Die Mappe. Dick und rot. Vorne drauf die Beschriftung: Projekt Bravo.
Die Bilder kamen jetzt langsamer. Weiter.
Weiter. Weiter ... Oron nimmt die Mappe. Weiter!
Die Papiere ergießen sich auf den Boden. Weiter!
Sten versucht, sie hastig einzusammeln, stopft sie in die Mappe zurück, ohne sie zu ordnen ... Und er sah
... Weiter! O Gott, einer der Delinqs geht zu Boden
... sein Brustkorb weggerissen ... Und ...
Das Bild erstarrte. Sten spürte, daß es ihm hochkam. Er hörte Rykors Murmeln ... Zu weit ...
Rückwärts ... Sten erschauerte beim Stich der Nadel und ...
Weiter!
Zurück zu den Papieren ... er beugt sich darüber
... langsamer ... Weiter! Langsamer ... Jetzt konnte er sie sehen. Immer eine Seite. Weiter! Eine Seite springt ihm ins Auge - FREIZEITKUPPEL 26: EINE ZUSAMMENFASSUNG DER EREIGNISSE
... Weiter!
...Warte. Muß anhalten. Ich muß es sehen. Geh zurück... Nein, das ist nicht gut, Sten. Laß es hinter dir. Mach weiter ... Rykors Stimme. Sten weigerte sich. Kämpfte gegen die Stimme an. Diese freundliche, lockende Stimme. Wieder dieses stechende Gefühl. Jetzt mußte er gegen das Beruhigungsmittel ankämpfen.
Sten stieß den Schleier zur Seite, Zwang das Bild weiterzulaufen. Er hatte hier die Kontrolle, verdammt!
Und die Agonie der Freizeitkuppel 26 schlug wieder über ihm zusammen.
Die Finte.
Aufgebrachte Stimmen. Aufreißer und
Schausteller gehen ihrem Gewerbe nach. Joyboys und Joygirls verstärkt unterwegs, plündern die Taschen der Migs, um Thoresens Schatzkiste damit zu füllen. Es gab noch mehr. Spielautomaten, gurrende Verlockungen. Brabbelnde Betrunkene.
Wachmänner, die mit gezückten Knüppeln in die Menge fahren.
An jenem Tag hielten sich 1.365 Personen in der Pinte auf.
Darunter -
Sten spürte, wie sich seinen Lippen ein Freudenschrei entrang. Da war Amos, sein Vater, und Freed, seine Mutter - und da waren Johs und Ahd, sein Bruder und seine Schwester. Er rief sie.
Doch sie konnten ihn nicht hören.
Hör auf damit, Sten, zischte Rykor. Aber er hörte nicht auf sie. Er konnte es einfach nicht... denn er wußte, was als nächstes geschehen würde...
Sten versuchte erneut, seiner Familie etwas zuzurufen. Angst erfaßte ihn, seine Stimme verebbte zu einem Flüstern. Er sah, wie sie die Pinte betraten, sah, wie sich die großen Türen des Foyers hinter ihnen schlössen.
Er stand da. Wie erstarrt. Wartete.
Mehr Stimmen.
"Dann weg mit Sechsundzwanzig", sagte Thoresen.
"Aber ... da sind an die vierzehnhundert Leute", protestierte der Tech.
"Sie haben Ihre Befehle."
Hochdruckbolzen zündeten rings um die
Wandverkleidungen der Kuppel.
Stens Körper wand sich auf dem
Untersuchungstisch. Rykor saß vor den Konsolen des Gehirnscanners und konnte nur hilflos zusehen.
Wenn sie jetzt eingriff, würde sie so viel Schaden anrichten, daß Sten Glück haben würde, wenn er dabei starb.
Sten zuckte erneut zusammen, als er das taifunartige Fauchen der ins All entweichenden Luft hörte. Und er war gezwungen zuzusehen, saß in der Falle seines eigenen närrischen Selbst, als
Fast wie in Zeitlupe erfaßte der saugende Hurrikan die Bartheken und Sitzecken der Pinte mitsamt den Leuten und spie sie durch die Löcher hinaus in die Schwärze des Alls.
Er hörte die Stimme des Techs: "Ist ja gut. Es waren doch nur Migs."
Dann der Cheftech: "Stimmt auch wieder. Nur Migs, nichts weiter."
Sten schluchzte.
Rykor bearbeitete ihn mehrere Stunden lang, wobei sie all ihre psychiatrischen Fähigkeiten und ihr ganzes Arsenal an Pharmazeutika einsetzte, um ihn wenigstens einigermaßen wieder in die Normalität zurückzuholen.
Dann schickte sie ihn wieder zurück. In die Zeit nach dem Alptraum der Geschehnisse in der Pinte.
Zurück zu Projekt Bravo.
Und zu dem Geheimnis, für das Thoresen selbst später gestorben war.
Das Geheimnis synthetischer AM2.
Sten wickelte sich eng in eine Decke. Er war schweißgebadet, doch er fror trotzdem. Er fühlte sich, als hätte man ihn aufgeschnitten, ausgeweidet und weggeworfen.
Er nahm den Becher von Rykor entgegen und schlürfte eine dicke, heiße, nahrhafte Brühe. Rykors Flosse berührte einen Regler, und leise Musik ertönte. Entspannungsmusik. Er schloß die Augen und ließ sich lange von der Musik überfluten.
Dann machte er die Augen wieder auf und trank erneut. Er sah, wie ihn Rykors große, mitfühlende Augen aufmerksam beobachteten.
Sten verzog das Gesicht. "Nie wieder", krächzte er.
"Es tut mir leid, mein lieber Freund", sagte Rykor. Ihre volle Stimme verlieh den leeren Worten echte Bedeutung.
"Mir auch", sagte Sten. "Wenigstens ... wissen wir jetzt Bescheid. Es ist möglich, AM2 künstlich herzustellen ... Und wir haben die Formel und die Versuchsanordnung. Ich bin zwar kein Chemiker, aber es hört sich an, als sei es ziemlich kompliziert und höllisch teuer. Doch was soll's? Bei entsprechenden Mengen sinkt der Preis."
Er hielt inne und überlegte.
"Und das wird dieses ganze verdammte Universum auf den Kopf stellen, oder nicht?"
"Was hast du mit diesen Wissen vor?" erkundigte sich Rykor.
"Ich weiß es noch nicht genau", sagte Sten. "Jetzt sieht sehr vieles ganz anders aus."
Er hob seine müden Augen und sah Rykor bittend an: "Sag jetzt noch niemandem etwas davon. Ich brauche Zeit zum Nachdenken."
Rykor betrachtete ihn. Überlegte. >Er ist mein Freund. Ein zuverlässiger Freund. Aber einige Geheimnisse sind wie Würmer, die alles zernagen und das Gute verderben.<
"Wenn mir etwas zustößt", sagte Sten, "bist du im Besitz aller Informationen. Tu damit, was du für richtig hältst."
"Na schön", sagte Rykor. "Ich warte."
"Danke." Stens Stimme klang schwach. Dann sank sein Kopf zur Seite. Rykors Flosse schnellte vor und fing die Tasse auf, bevor sich ihr Inhalt über die Decke ergießen konnte.
Er schlief viele Stunden lang. Es war ein traumloser Schlaf.