Kapitel 24
New York City, A.D. 2194
Die Menschheit war gerade ziemlich knapp an Helden, als Kea Richards, der einzige Überlebende der Destiny I, von Basis Zehn zur Erde
zurückkehrte. Kea wußte nicht, inwiefern ihm der Heldenbonus bei dem ultimativen Vorteil helfen würde, auf den er zufälligerweise gestoßen war, doch er war zu schlau, um ihn nicht ins Spiel zu bringen. Auf der langen Heimreise hatte er sich eine plausible Geschichte zurechtgelegt. Als Ursache der Katastrophe nannte er die wahren Fakten: eine Kollision mit einem Meteoriten. Er verschwieg lediglich, daß sie in einem anderen Universum stattgefunden hatte. Und selbstverständlich erzählte er nichts von AM2.
Richards spielte den Bescheidenen. Er
präsentierte sich als einfachen, arbeitsamen Raumingenieur, dem es gelungen war, dem Verderben den Sieg zu entreißen. Außerdem betonte er immer wieder die "Tatsache", daß er es allein dem Glück und seiner Ausbildung am Cal Tech zu verdanken hatte - auch wenn sie durch finanzielle Probleme unterbrochen worden war -, daß er sich meistens unverzüglich und erfolgreich auf die auftretenden Probleme einstellen konnte, während all diese furchtlosen Wissenschaftler und aufopferungsvollen Raumfahrer um ihn herum mit großen, noblen Gesten gestorben waren.
Er bezog einen enormen Vorschuß und arbeitete frohgelaunt mit dem Ghostwriter zusammen, der sein autobiographisches Fiche vorbereitete. Er besuchte Bankette und Vorträge und nahm mit, was sein frisch angeheuerter Agent an Land zog. Und er genoß die Partys und die anschließenden Präsentationen. Er lächelte, lauschte den Männern und Frauen, denen er vorgestellt wurde, den Mächtigen, die sich in der Wichtigkeit sonnten, mit der sie das Interesse des allerneuesten Helden geweckt hatten. Er log und log, immer wieder.
Manchmal fragte er sich, was wohl der alte Kea Richards von ihm halten würde, der Richards von Kahanamoku und den ersten beiden Jahren in Kalifornien. Der Richards aus der Zeit vor den Bargetas und vor den langen, harten Jahren im All, auf der anderen Seite von Schleuse 33. >Vergiß ihn<, sagte er sich, irgendwann muß ein Mann erwachsen werden und die Vorstellung, das Leben sei ein rosarotes Wunderland voller Häschen und Lämmchen, hinter sich lassen.<
Außerdem gab es jetzt Antimaterie Zwei. Der Schlüssel zu seiner ganz persönlichen Macht, wie er zumindest vor sich selbst ehrlicherweise zugab.
Aber es war auch das ultimative Geschenk an die Menschheit und alle anderen Spezies, denen er bei seinen ausgedehnten Forschungsreisen ins Universum begegnen würde. Richards konnte sich den Luxus einer Ethik-Debatte nicht leisten; nicht einmal mit sich selbst.
Er wußte nicht so recht, was er als nächstes tun sollte. Antimaterie Zwei. Ganze Galaxien voller reiner, billiger Energie. Wie Fazlur gesagt hatte: es wird alles verändern, eine neue Zivilisation - oder eine neue Barbarei - schaffen, jedenfalls wird nichts mehr so sein wie vorher. Richards war fest davon überzeugt, daß die gewaltigen Umwälzungen in eine bessere Zukunft münden mußten. Er selbst würde dafür sorgen, daß sie allen zugute kamen. Weder Führer noch Premiers, keine Dogen und keine Rockefellers sollten Macht über das erhalten, was er schon jetzt als seine Entdeckung bezeichnete. Schon gar nicht die Bargetas. Und diese Energie sollte nicht zum Werkzeug des Bösen werden, wie es fast allen Entdeckungen ergangen war, angefangen vom Schießpulver über das Erdöl bis hin zur Atomenergie.
>Kümmere dich zunächst um deine dringlichen Probleme<, dachte er. >Am wichtigsten ist, am Leben zu bleiben und sich immer den Rücken freizuhalten. Dieses Geheimnis hat schon jetzt Menschenleben - und das einer Osiranerin gekostet. Es ist den Tod ganzer Planeten wert.< Richards wußte auch, daß schon der geringste Hinweis auf das Geheimnis der Antimaterie Zwei und den Alva Sektor ausreichen würde, um Kidnapper mit Gehirnwäscheapparaturen und Meuchelmörder auf seine Spur zu setzen, angeheuert von denjenigen, die am meisten durch die Existenz von AM2 zu verlieren oder zu gewinnen hatten. Das mindeste, was er zu erwarten hatte, waren gehörige Gebühren und Auflagen von Seiten der planetaren Regierungen.
So weit, so gut. Also mußte er den Alva Sektor wie eine tief im Dschungel verborgene Mine ansehen, zu der er allein den Weg kannte. Er durfte nicht in den Alva Sektor und zu der Diskontinuität im N-Raum zurückkehren, bevor er nicht sicher sein konnte, daß er nicht verfolgt wurde. Abgesehen davon war es unsinnig, in der unmittelbaren Zukunft dorthin zurückzufliegen, denn bevor Antimaterie Zwei genutzt werden konnte, mußte jemand eine Methode erfinden, um mit ihr umgehen zu können.
Eine Abschirmung. Eine natürliche oder
künstliche Substanz, die solide genug und dabei formbar war und die sich sowohl Materie als auch Antimaterie gegenüber neutral verhielt.
Richards kaute an seiner Unterlippe. Das war das eigentliche Problem. Er grinste, als wäre die Vorstellung von Attentätern und Gehirnwäschern besonders belustigend. Er dachte weiter angestrengt darüber nach und kam schließlich auf den wunderbaren Trick 17, der eigentlich aus einem Dreifachpaket bestand: um Macht in Form von Energie (AM2) nutzbar zu machen, mußte er Macht in Form von Reichtum und politischem Einfluß anhäufen. Was sich am leichtesten und sichersten durch die Pflege der Beziehungen zur Macht erreichen ließ. Trick 1717
Diese dritte Macht bestand aus den Männern und Frauen, deren Egos er schmeichelte, während er mit seiner Geschichte hausieren ging. Das waren die Geschöpfe, die er umformen oder vernichten würde, während er der Menschheit half, ihr Schicksal zu erfüllen. Er erinnerte sich an den alten Spruch: Wenn du nicht Teil der Lösung bist, dann bist du ein Teil des Problems. Aber damit griff er seinem nächsten Schritt voraus.
Ein Job. Er hatte nicht die Absicht, seinen Kontrakt mit SpaceWays/Galiot zu erneuern. Nicht bei den vielen anderen Angeboten, die ihm ins Haus flatterten. Viele Konzerne wollten ihn allein schon seines Heldenfaktors wegen haben, aus dem gleichen Grund, weshalb sie A-Grav-Ball-Stars anheuerten. Man erwartete von ihm, daß er weiterhin Hände schüttelte, diesmal jedoch im Interesse derjenigen, die ihn bezahlten. Das wiederum würde ihm den Zugang zu den Hallen der Macht öffnen.
Sorgfältig prüfte er die vielen Briefe, mündlichen Anfragen und Benachrichtigungen, die an ihn herangetragen wurden - alles Zeugs, das er bislang mehr oder weniger ignoriert hatte.
Eine Nachricht kam von Austin Bargeta. Er sollte ihn anrufen, egal wann, Tag und Nacht, die Privatnummer war beigelegt. Aus einem Reflex heraus knüllte Richards die Nachricht zusammen und feuerte sie in den Papierkorb. Dann fing er sich wieder. Bargeta? Eine bekannte Größe. Jemand, den wiederzusehen er sich nicht gerade gewünscht hatte.
Oder irgendwann einmal, dann aber nach seinen Spielregeln. Trotz seines festen Vorsatzes, sich mit den Bargetas höchstens noch durch das Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zu beschäftigen, hatte er davon gehört, daß Austin es geschafft hatte und der große Boß geworden war. Er hatte seinen Vater als Kopf des Bargeta-Kraken abgelöst.
Drei Jahre, nachdem Keas Leben auf dem Mars in Scherben gegangen war oder sich zumindest unwiderruflich verändert hatte, hatte der alte Bargeta Selbstmord begangen. Ein Selbstmord, dessen nähere Umstände die Klatschzeitschriften nur als unvorstellbar widerlich andeuteten.
Richards glättete das Knäuel wieder, starrte es an und dachte nach. Vielleicht... Er suchte eine Bibliothek auf und stellte einige Nachforschungen an. Die Wahrscheinlichkeit stieg.
Bargeta Ltd. gehörte noch immer zu den
Giganten des 22. Jahrhunderts. Ein Gigant, der wankte. Einige unkluge Investitionen waren getätigt worden. Bargeta Transporte, der Baum, aus dem all diese herrlichen Äste und Zweige sprossen, an denen Geld wuchs, kränkelte. Der Alte hatte neue Betriebe bauen lassen, Betriebe, die ihr Produktions-Soll nie erreichten. Er hatte neue Raumschiffsmodelle in Auftrag gegeben, die auf einem bereits gesättigten Markt angeboten wurden und die anstelle echter technischer Verbesserungen nur eine neue Aufteilung der Bereiche
Mannschaft/Passagiere/Antrieb zu bieten hatten.
Dann war er "von uns gegangen", und jetzt hielt Austin das Szepter in Händen.
Austin hatte es nicht besser gemacht als die Generation vor ihm, erfuhr Kea aus den
Wirtschaftsblättern. Er hatte sich so lange gescheut, in den Aufsichtsratsetagen der Aktiengesellschaften mit dem eisernen Besen zu kehren, bis es fast zu spät gewesen war. Dann hatte er die Idee entwickelt, daß in Zukunft weit bessere Geschäfte damit zu machen seien, Menschen statt Frachtgut von einem Planeten zum anderen zu transportieren; er hatte ein Viertel der Bargeta-Flotte zu Linienschiffen umbauen lassen, und das zu einem Zeitpunkt, an dem eine mittelgroße Rezession das Sonnensystem
erschütterte. Austin hatte stolz und höchstpersönlich auf neue Transportrouten gesetzt, Routen, die sich bislang als wenig profitabel erwiesen hatten. Bei diesen Nachrichten hatte Kea leise aufgelacht; ein Lachen, das Bargeta Senior vertraut vorgekommen wäre.
Doch jetzt zu Austin selbst. Natürlich verheiratet.
Mit einer ehemaligen Schauspielerin, Miss Lachende Brüste von vor ein paar Jahren. Zwei Kinder. Häuser. Reisen. Stiftungen. >Blablabla<, dachte Kea. >Wo liegt der Haken ? Aha. Austin reist viel allein. Mit seiner engsten Entourage.< Richards zuckte bei dem Holo zusammen, das Bargeta und seinen Stab beim Besteigen eines Raumschiffs zeigte. Selbst wenn man davon ausging, daß die Aufnahme retuschiert war - es sah ganz so aus, als spielte für Austin ein angenehmes Äußeres bei der Wahl seiner Berater eine nicht unbedeutende Rolle.
Es gab auch eindeutigeren Klatsch und sogar einige Holos in den sensationsgeilen und weniger zu kontrollierenden Boulevardzeitungen.
Das reichte. Kea meldete sich bei Austin, der sich höchst erfreut darüber zeigte, daß sein alter Freund und Mitbewohner, der Mann, der ihm alles beigebracht hatte, sich für ihn Zeit nahm. Sie müßten sich unbedingt treffen.
"Wie wäre es mit morgen?" Kea drängte absichtlich.
Austin überlegte und ließ den anderen ein wenig zappeln. "O je, morgen, da ist eine Sitzung. Öde, langweilig, du weißt schon, aber ich muß mich zeigen, die Fahne hochhalten, ein paar wichtige Entscheidungen treffen. Das dauert den ganzen Tag."
"Ach so", sagte Kea, "verstehe. Laß mich mal in meinem alten Logbuch nachschauen."
Kea hatte festgestellt, daß die Managertypen, mit denen er zu tun hatte, ganz begeistert reagierten, wenn er nautische Fachausdrücke benutzte; Ausdrücke, die kein Raumfahrer jenseits der Schleuse 33, der etwas auf sich hielt, kannte - es sei denn aus den Dialogen drittklassiger Vids.
"Herrje, du kannst dir nicht vorstellen, wie beschäftigt ich bin", sagte Richards. Er hatte tatsächlich mehr als genug Termine in seinem Kalender stehen. "Mal sehen ... hier ... nächste Woche das McLean Institut... die Sache in Neu Delhi... außerdem habe ich mit einigen Leuten ein paar sehr interessante Dinge zu bereden, weißt du, Dinge, die sich direkt aus dem ergeben, was da draußen geschehen ist, darunter auch einige kommerziell interessante Möglichkeiten, die ich mit dem verstorbenen Doktor Fazlur besprochen habe und die man auf alle Fälle weiterverfolgen sollte.
Aber wir werden schon noch einen Termin finden.
Irgendwann einmal. Vielleicht nachdem ich ein bißchen Startkapital zusammenhabe."
Mit einem Schlag war Austins Sitzung
uninteressant. Gleich morgen, klar doch! Kea grinste. Er schaltete ab, und das Grinsen verschwand so rasch wie Bargetas Bild. >Na schön, du Saukerl.
Diesmal nach meinen Bedingungen. Und wir werden darüber reden, daß ich dein Lieblingsabenteurer werde.<
Sie redeten über viele Dinge, drei Tage lang, bei mehreren gemeinsamen Essen und so mancher guten Flasche. Nur vom Mars redeten sie nicht. Austin erwähnte Tamara einmal versuchsweise. Sie war inzwischen mit einem Rennfahrer verheiratet, der Hover-craft-Flitzer über den Ozean jagte und - wie altmodisch - fünf Jahre jünger als sie war. Sie lebten in ihrer neuen Wohnanlage, einer künstlichen Insel, in der Nähe der Seychellen.
Kea nickte. Er hoffte, daß sie glücklich war, und trug Austin auf, sie von ihm zu grüßen. "Erinnerst du dich noch daran, wie sie uns schnappten, weil wir vor dem blöden Erdballspiel, das an jedem Neujahrstag ausgetragen wurde, mit Säure ganz groß CALTECH auf den synthetischen Rasen der Rose Bowl gesprüht hatten? Mensch, Mensch, das waren noch Zeiten."
Gegen Ende der Marathonsitzung, die Keas stets wacher Hinterkopf als mentalen coitus interruptus bezeichnete, hatte er einen Job. Der genaue Umfang, die finanziellen Bedingungen und jede Art von weitergehender Beschreibung dieses Jobs waren nicht definiert. "Weißt du", fuhr Austin in diesem nasalen Ton mit dem kollegialen Geschwätz fort, das Kea beinahe vergessen hatte, "das sollen uns diese Anzugfritzen bis hinter das Komma genau ausrechnen."
Genau so lief es nicht. Zwei Tage später erschien Kea früh morgens bei Bargeta Ltd. zur Arbeit. Die Presse, die auf geheimnisvollen Kanälen einen Hinweis bekommen hatte, traf eine Stunde später ein, woraufhin eine Pressekonferenz abgehalten wurde. Die Verhandlungen begannen. Sie wurden von den gleichen Anwälten geführt, die Kea zu dem beträchtlichen Vorschuß für seine Memoiren verhelfen hatten. Kea hatte ihnen geraten, nach den Sternen zu greifen, und das taten sie auch. Einer der Unterhändler von Bargeta Ltd. war wutentbrannt in Austins Büro gestürmt. Bargeta jedoch wollte nichts von popeligen Zahlen und Klauseln wissen. Er wollte das verdammte Geschäft machen, basta. Der Mann war schließlich sein Freund.
"Außerdem", sagte er nach einer kurzen Pause,
"haben die Medien schon genug Geschrei darum gemacht, daß wir alle anderen ausgestochen haben, die ihn ebenfalls liebend gern für sich arbeiten lassen wollten. Möchten Sie vielleicht derjenige sein, der verkündet, Bargeta Ltd. kann sich den größten Helden des Universums nicht leisten ?
Wollen Sie das ? Ich jedenfalls nicht." Er blickte den Unterhändler an. Der Unterhändler kehrte in sein Büro zurück, nahm Kontakt mit Richards' Anwälten auf, schloß das Geschäft ab und verfaßte sein Resümee.
Zu Anfang reisten Austin und Kea sehr viel zusammen. Austin konnte nicht oft genug wiederholen, daß es wieder genau wie in den alten Tagen sei, und Kea gab sich keine Mühe, ihm zu widersprechen. >Es funktioniert sehr gut<, dachte Kea nach einem halben Jahr. Jetzt kam er mit den Leuten zusammen, die wirklich etwas bewegten.
Außerdem war es ihm gelungen, Bargeta einige echte Vorschläge zu unterbreiten. Vorschläge, die für jeden klar auf der Hand lagen, der nicht mit einem dicken Geldpolster um den Hintern herumlief.
Vorschläge, die Bargeta Ltd. einige Millionen Credits einbringen würden. Bargeta war allmählich davon überzeugt, daß er ein gutes Geschäft gemacht hatte, als er Kea seinem Stab einverleibte - und prahlte vor seiner Frau, daß er schon immer in der Lage gewesen sei, die richtige Person auf den richtigen Stuhl zu setzen, und daß er Richards'
Potential bereits vor vielen Jahren erkannt habe, schon damals am Cal Tech. Jetzt war die Zeit für die nächste Stufe gekommen. Ein guter Schwindler präpariert die Mine immer mit einigen Körnchen Gold, oder mit dem Gut, das der Markt rasch als wertvoll einschätzt. Diesmal war Cal Tech das Goldkörnchen.
Kea spürte den Professor mit dem besten Ruf der ganzen Universität auf. Eine zweifache
Nobelpreisträgerin. Kea hatte sich noch als Erstsemester einen Weg in die Seminare der Dame erschwindelt und dort sehr gelitten. Dr. Feehely erinnerte sich an Richards. Sie wollte wissen, wie es ihm ergangen sei, seit er ihren Unterricht besucht hatte. Hoffentlich gut. Sie erinnerte sich, daß er nicht sehr begabt in Theorie gewesen war, aber in Sachen praktischer Anwendung so einiges versprach. Ging es ihm gut? War er glücklich ? Hatte er vielleicht einen Posten irgendwo an einer Universität inne?
Kea, der sich das Lachen verkneifen mußte, kam ihr mit einer plausiblen Geschichte von Laborarbeit und Studien. Der Grund dafür, daß er diese Frau mit dem Fachgebiet Mikroanalyse aufsuchte, bestand angeblich darin, daß ihm jemand ein Fiche mit einem Partikelkonzept hatte zukommen lassen, von dem er nicht das geringste verstand. Da sei ihm Doktor Feehely eingefallen. Ob sie wohl ein paar Minuten für ihn erübrigen könnte? Und ob es ihr etwas ausmache, wenn er ihre Worte auf Band mitschnitt?
Normalerweise übernahm sie keine
Berateraufträge... aber für einen ehemaligen Studenten ... Feehely überflog das Fiche. Schnaubte.
Hob die Augenbrauen. Schnaubte. Hob erneut die Augenbrauen und klappte das Lesegerät zu. "Sollten derartige Partikel wirklich existieren", sagte sie,
"dann wäre das wirklich höchst interessant. Ihr Freund hat keine adäquate Synthese vorgelegt, und die einzige Möglichkeit, wie ich mir dieses Modell mathematisch vorstellen kann, bestünde darin, daß diese Partikel aus einer Art nichtkonventioneller Materie bestehen. Ich nehme nur ungern einen so populären Ausdruck wie >Antimaterie< in den Mund, denn das wäre ein fehlerhafter Name."
"Wie würde ein solches Partikel ... falls es existiert, als anzapfbare Energiequelle funktionieren?"
Augenbrauen. Schnauben. Die Wissenschaftlerin wählte ihre Worte überaus vorsichtig. "Auch das ist nicht ganz korrekt. Aber ich will versuchen, es mit einer Analogie aus der Geschichte zu erklären.
Einmal angenommen - und auch das ist unmöglich -, man könnte sicher mit diesem Partikel umgehen, dann wäre der Effekt der gleiche, als würde man Nitroglyzerin benutzen ... Sie wissen doch, was Nitroglyzerin war?"
"Nein. Aber ich werde es lernen."
"Wie gesagt, Nitroglyzerin in einem Explosionsantrieb zu verwenden, ergibt eine Menge Energie, aber in einer Form, die die Maschine nicht bewältigen kann. Das ist natürlich alles ein Scherz, ziemlich unreif, wie ich anmerken muß. Denn ein solches Partikel kann in einem gesunden Universum nicht existieren."
"Vielen Dank, Doktor. Ich habe meine Wette gewonnen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir die entsprechenden mathematischen Begründungen dafür zu geben?"
"Tja... na schön. Aber in diesem Fall muß ich Ihnen dafür eine Beratungsgebühr abverlangen. Ich hoffe, Ihre Wette lohnt sich wenigstens. Wie wäre es mit... einem Mittagessen?"
Bei der Beschreibung handelte es sich natürlich um eine theoretische Abhandlung des AM2
Partikels. Kea hatte sich während der vergangenen sechs Monate eifrig darum bemüht, diese Beschreibung aufzusetzen. Und Kea wußte von einer Maschine, die mit dieser Kraft umgehen konnte: der Stardrive. Wieder fehlte ihm jetzt nur noch der richtige Dreh. Die Wette würde sich auf jeden Fall lohnen: es ging um das ganze Universum.
Richards hätte Doktor Feehely gerne mehr als ein Mittagessen spendiert. Er hätte ein ganzes Restaurant gekauft, das nur Feehelys
Lieblingsspeisen zubereitete und sie bis ans Ende ihrer Tage damit belieferte. Doch das tat er nicht. Er spendierte ihr ein Mittagessen in der
Fakultätskantine. Er konnte sie auch nicht auf andere Weise dafür belohnen. Wenn das Geschäft erst einmal angelaufen war, könnte jede Verbindung zwischen ihr und Richards und AM2 tödlich für sie enden. Darüber hinaus ging auch von Kea selbst Gefahr aus - vielleicht sogar die größte. Kea Richards wußte, daß einige Personen sterben mußten, sobald er kurz davor stand, einen ersten Gipfel der Macht zu erklimmen. Ein weiterer Spruch diente ihm als Motto: drei können ein Geheimnis hüten, wenn zwei von ihnen tot sind ...
Mit den mathematischen Erläuterungen der Wissenschaftlerin und einer Kopie seiner eigenen Abhandlung in der Hand suchte er Austin auf. Er sagte ihm, er müsse ihm etwas von größter Wichtigkeit zeigen. Aber privat. Es gehe hier um viel, um zu viel. Dann erzählte er seine Geschichte.
Die Geschichte, wie damals, kurz bevor die Katastrophe über die Destiny I hereinbrach, Doktor Fazlur einige Phänomene analysierte, die sie beobachtet und aufgezeichnet hatten, als sie dicht an einem Dunkelstern vorbeigeflogen waren. Und dann hatte er einige bemerkenswerte Gleichungen aufgestellt, die besagten, daß eine gewisse Substanz synthetisiert werden konnte; eine Substanz, die derjenigen ähnelte, die er außerhalb dieses Pulsars beobachtet hatte. Wenn seine Vermutungen stimmten, konnte diese Substanz synthetisiert werden, und dann verwandelt, und zwar in ...
An diesem Punkt reichte er Austin Doktor Feehelys Ausführungen. Austin überflog die erste Seite des Bildschirms und zog die Stirn kraus. "Kea, alter Gauner", protestierte er, "du weißt doch besser als jeder andere, wie leicht ich mich bei Zahlen verhaue. Kannst du es mir nicht im Klartext erzählen?"
"Ich wollte nur sichergehen, daß du mir glaubst.
Denn sonst könntest du vielleicht auf die Idee kommen, ich sei völlig ausgerastet." Kea fand es recht nützlich, hin und wieder die alten Sprüche der Cal Tech zu benutzen, von denen Austin so viel hielt. Dann faßte er Dr. Feehelys Ausführungen zusammen. Austin hörte schweigend zu, dachte nach und stieß schließlich ein verblüfftes "Oh" aus.
Kea beobachtete ihn aufmerksam. Kam er
wirklich noch mit?
Nach einigen Sekunden sagte Bargeta mit leiser Stimme: "Wenn dieses Partikel, diese Substanz, du weißt schon, wenn man sie synthetisieren könnte ...
Mann, Kea, jetzt weiß ich, warum du mich aufgesucht hast. Jetzt erkenne ich, warum du dich bei einigen Dingen, die du entwickeln wolltest, so geheimnisvoll angestellt hast. Kea, ich komme mir vor wie ... wie hieß der Kerl? Ich blicke sprachlos über Darien ? Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was an Connecticut so eindrucksvoll sein sollte.
Aber diese Sache ist ein Knaller. Ein sehr, sehr großer Knaller.
Ich... Ich könnte Rutherford sein. Noch besser, ich könnte ein Doktor McLean sein. Sogar noch bedeutender als er, denn das ist weitaus mehr als ein bißchen Antigravitation. Es ist einfach alles. Zuerst Stardrive, und dann finden wir garantiert einen Weg, die Substanz so umzuwandeln, daß man damit alles antreiben kann. Alles. Ich komme mir vor wie der erste Mensch, der Öl aus der Erde pumpte, egal, wie er hieß. Meine Fresse, Kea, das ist doch kein blöder Scherz oder so etwas ?"
Er brauchte fast eine Woche, um sich alles hin und her zu überlegen: Es ist zu groß, zu wichtig, es kann doch nicht sein, man muß die Regierung benachrichtigen, vielleicht ein Konsortium aus Transportunternehmen gründen, wir könnten zumindest eine Machbarkeitsstudie anfertigen lassen, diese Sache macht uns wirklich reicher als diesen alten Griechen, wie heißt er noch gleich, bist du sicher, Kea, daß wir so etwas tun sollten, ich meine, du weißt ja, es gibt Dinge, die der Mensch einfach nicht wissen sollte, obwohl ich nicht viel mit dieser Traktat-Huberei im Sinn habe, aber, großer Gott, man sagt, daß sich das Genie von Generation zu Generation verwässert, und das hier würde dieses Geschwätz als totale Ente entlarven, du weißt schon, man wird mich sogar für noch größer als meinen Vater halten, größer als den allerersten Austin, derjenige, nach dem ich benannt bin, weißt du, derjenige, der diese Company damals gegründet hat...
Schließlich: "Wir tun es."
Ein Stab aus Anwälten und Beratern wurde zusammengestellt, der genauso direkt an Keas Anweisungen gebunden war wie das Laboratorium, das er unter allerhöchster Geheimhaltung bauen ließ.
Es könnte teuer werden, hatte Kea warnend gesagt, doch Austin war gewillt, zehn Prozent der Ressourcen von Bargeta Ltd. - vor Steuern - pro Jahr dranzugehen. Das Labor wurde gebaut, die allerbesten Wissenschaftler für das Projekt verpflichtet. Tests irgendwo im fernen Weltall wurden geplant, Forschungsschiffe entworfen. In der Geschäftswelt wußte bald jeder, daß Bargeta Ltd.
etwas Spektakuläres vorbereitete. Es kam Keas Zwecken entgegen, daß Austin überall als derartig leichtgewichtig angesehen wurde, daß das Projekt eher als Witz kursierte, sozusagen als neuer Edsel, was immer das auch bedeutet haben mochte. Kea erzählte niemandem, weshalb er die Operation
"Projekt Suk" getauft hatte.
Die gesamte Hardware und das gesamte Personal waren echt. Trotzdem war alles nur Makulatur. Kea wußte, daß AM2 niemals künstlich hergestellt werden könnte, oder falls doch, dann würde es um ein Vielfaches teurer werden, als das jetzige Antriebselement für den Stardrive. Er riß sich zusammen. >Man sollte niemals nie sagen<, rief er sich ins Gedächtnis. >Antimaterie Zwei kann im Augenblick nicht künstlich hergestellt werden, und wahrscheinlich auch in der Zukunft nicht. Dabei sollte man es belassen. Außerdem - wen kümmert das schon? Sobald wir herausgefunden haben, wie man die Partikel abschirmen kann - und das heißt auch, daß wir einen Weg entdecken, wie man Schürf-und Transportschiffe ausrüstet -, wird AM2
billig wie Dreck. Jedenfalls für mich<, dachte er.
Es gab drei Gründe für diese ausgefuchste Charade. Einmal würde sie eine akzeptable Erklärung dafür liefern, wo die neue Substanz irgendwann in den nächsten Jahren wirklich herkommen würde. Das war nicht ganz so wichtig.
Zum zweiten kam er auf diese Weise zu
Forschungsschiffen, die mit genauen Anweisungen ins All geschickt wurden. Die Anweisungen waren nur den jeweiligen Besatzungen bekannt. Sie sollten nach einem Element suchen, das als Grundsubstanz für die nötige Abschirmung in Frage kam, ein Element, das Kea X nannte. Die Forschungsberichte wurden außerdem sorgfältig dahingehend analysiert, ob sich aus ihnen nicht vielleicht ein Gedankengang entwickeln ließe, der zur künstlichen Herstellung dieser Abschirmung führen könnte.
Operation Suk bot außerdem den Vorteil, daß sie eine heimliche Rekrutierungsstation darstellte.
Richards suchte die besten Forscher für das Projekt aus, und das bedeutete, einige der besten Köpfe, die die Menschheit hervorgebracht hatte. Die besten mit zwei zusätzlichen Bedingungen. Die erste bestand darin, daß die Personen entweder ungebunden waren, ihre Familien mit ihnen reisten oder daß sie sich von ihren Verwandten
verabschiedeten. Die zweite erforderte, daß jede von ihnen ein kleines Geheimnis hatte. Ein ungesühntes Verbrechen, gewisse Sexualpraktiken, politische oder soziale Theorien, die in ihrer Heimat nicht besonders beliebt waren, Alk, Drogen, oder, am allerbesten, daß sie ganz einfach Menschenfeinde waren. Diese Leute würden, falls Richards' Planung aufging, dazu benutzt werden, die Forschungen in Sachen AM2 abzuschließen. Richards kaufte Basis Eins auf Deimos, um dort ein Labor einzurichten.
Austin sagte er, daß hier die Hauptsuche nach dem X-Partikel stattfand. Hier gab es keine Möglichkeit, daß Geschäftsgeheimnisse zur Konkurrenz durchsickerten, denn außer sorgfältig
durchleuchtetem Bargeta-Personal durfte niemand Deimos betreten; sämtliche untergeordneten Laboratorien beschränkten sich auf ein wenig aussagekräftiges Segment der Gesamtproblematik.
Und schließlich der wichtigste Punkt: Operation Suk war Keas Goldesel. Natürlich gab es Rechnungsprüfer und dergleichen, aber an dem Tag, an dem ein erfahrener Raumschiffingenieur nicht mehr in der Lage war, seiner Firma das Hemd zu klauen, während sie noch immer glaubte, sie trage das Abendkleid, an dem Tag würde wohl die Sonne verlöschen. Die Sache war um so einfacher, da Operation Suk unter derart strikter Geheimhaltung ablief.
Sechs Jahre vergingen. Kea hatte, wie es einer seiner wohlgelitteneren, weniger angesehenen und reicheren Freunde auf dem Schürfschiff ausdrückte, mehr zu tun als ein Einbeiniger beim
Arschtrittwettbewerb. Drastisch, aber zutreffend.
Zum einen galt es, die Operation Suk zu führen.
Da er der einzige war, der wirklich wußte, worauf das Projekt eigentlich hinauslaufen sollte, war es erforderlich, daß er sämtliche Labor-und
Forschungsergebnisse vorgelegt bekam, jeden einzelnen Bericht und, was nicht selten vorkam, sogar die zugrundeliegenden Daten. Das verlieh ihm den Ruf eines Managers, der selbst anpackte, und er wurde dafür respektiert, daß man ihm nicht in die Tasche lügen konnte. Aber Respekt ersetzte weder fehlenden Schlaf noch persönliche Erholung.
Andererseits hatte er viel damit zu tun, Austin beim Management von Bargeta Ltd. unter die Arme zu greifen. Tatsächlich war es so - und Kea sorgte dafür, daß alle Leute, mit denen er zusammenkam, das unterschwellig auch mitbekamen -, daß er die Dynastie führte. Austin wurde jetzt von einer Ebene seiner Angestellten noch mehr als Dummkopf angesehen, von ihren Vorgesetzten eher als Dilettant. Kea ermutigte Austin sogar noch, sich weiter aus der Verantwortung herauszuziehen. Bleib frisch. Bleib aktiv. Wenn du dich zu tief in diese tausend Kleinigkeiten hineinwühlst, so wie ich, wer soll dann noch darauf achten, daß wir in keine Falle stolpern?
Er achtete darauf, daß Austin nominell weiterhin die Entscheidungen traf, und er ließ ihn auch einige fällen, die nicht besonders wichtig waren. Kea hätte die Sache von der offiziellen Bühne aus wesentlich präziser steuern können, doch er wußte nur zu gut, wie sensibel und paranoid die Inkompetenten waren.
Er konnte auf keinen Fall riskieren, gefeuert zu werden. Abgesehen davon würde es auf seiner Ebene nicht "feuern" heißen, sondern
"ausgeschieden, um Interessen persönlicher Natur zu verfolgen".
Er reiste auch sehr viel inkognito. Er mußte sich mit den Leuten treffen, Industriebetriebe besuchen, die nichts mit Bargeta Ltd. zu tun hatten. Manchmal reiste er unter falschem Namen, mit falschen Papieren. Einer seiner Lieblingsdecknamen war H.
E. Raschid, als Tribut an Burton und Scheherezade.
Hin und wieder grinsten die Leute - und Richards machte sich eine geistige Notiz, daß diese Person es wert war, daß man auch weiter die Beziehung zu ihr pflegte.
Seine neuen Kontakte und Freunde gingen weit über die Geschäftswelt hinaus: Politiker; Leute, die interessanten Geschäften nachgingen, manche davon schon deutlich auf der anderen Seite des Gesetzes.
Er gab großzügig, aber sehr umsichtig Geld aus. Er war stets bereit, die Kasse eines Politprofis aufzustocken, egal welcher Partei er oder sie angehörte. Schon bald kontrollierte er eine beachtliche Anzahl von Ganymeds traditionell erwerbbaren Immobilien. Außerdem gehörte ihm ein Viertel des Mondes selbst. Das Anwesen, das er dort errichten ließ, entsprach eher einem kleinen, ultraabgesicherten Industriepark als dem weitläufigen Wohnsitz eines reichen Mannes.
Genau das war Richards inzwischen. Das hatte er nicht nur seinem verschwenderischen Gehalt bei Bargeta Ltd. zu verdanken -mit eigenem Zugang zu den Schatztruhen hinsichtlich Projekt Suk -, auch seine neuen Freunde geizten nicht mit Tips und Anregungen. Kea spielte auf jede erdenkliche legale und illegale Weise mit dem Markt, solange es noch einigermaßen unauffällig ablief. Möglicherweise würde man seine Machenschaften eines Tages unter die Lupe nehmen, doch wenn das wirklich geschehen sollte, war er entweder tot,
verschwunden, oder er stand schon lange über dem Gesetz.
Dann kam der Durchbruch, in den ersten
Monaten des neuen Jahrhunderts. Eine Expedition kehrte zurück. Nicht von den Sternen - Kea hatte große Mengen von Bargetas Kapital aufs Spiel gesetzt und zwei Stardrive-Expeditionen losgeschickt -, sondern aus dem Hinterhof des Sonnensystems. Aus jenem Gewirr aus
Gesteinsbrocken jenseits der Plutobahn, das man einst für die Überreste eines ehemaligen elften Planeten des Systems gehalten hatte. Ein Meteorit vom Durchmesser beinahe eines Viertelkilometers war entdeckt, untersucht und mitgebracht worden.
Der Captain des Schiffs berichtete von weiteren Planetoiden, die dort draußen herumtrieben und die laut Spektralanalyse aus dem gleichen Material bestanden.
Es war das X-Material. Es reagierte auf nichts, was die Bargeta-Labors mit ihm anstellten. Es war schwer zu bearbeiten, aber eine Bearbeitung war nicht völlig unmöglich. Es ließ weder Strahlung durch noch sonst etwas, womit man es bombardierte.
Es reagierte nicht einmal auf ein kleines Stückchen im Labor hergestellte "konventionelle" Antimaterie, Sein Schmelzpunkt auf der Kelvinskala lag hoch genug, um es als sinnvolle Schiffspanzerung einzusetzen, aber niedrig genug, um in einer modernen Schmiede bearbeitet zu werden.
Richards, der den Sieg schon riechen konnte, erlaubte sich in einem Anflug von Arroganz, der X-Substanz den Namen Imperium X zu geben. Er ließ ein bestimmtes, recht ungewöhnliches Schiff von seinem Parkorbit über dem Mars herüberkommen und im Geheimlabor auf Deimos landen. Dort verpaßte man ihm vom Bug bis zum Heck eine nur wenige Moleküle dicke Panzerung aus dem neuen Element. Das Schiff war das alte Sternenschiff, das er verjähren über den Polregionen des Mars inmitten eines Schrotthaufens hatte herumtreiben sehen und das er vor einiger Zeit erworben und in mehrfacher Hinsicht modifiziert hatte. Es war jetzt so ausgestattet, daß es von einem Menschen und mehreren Computern bedient werden konnte. Es war bereits aufgetankt -ein ordentlicher Anteil an Ressourcen von Projekt Suk war drauf -gegangen, um dieses Schiff auszustatten. Jetzt mußte es nur noch in den Alva Sektor, durch die Diskontinuität hindurch zum allerletzten Test.
Bargeta Ltd. verkündete, daß Richards sich endlich einen Urlaub gönnte. Kea sagte Austiri, er würde mindestens drei E-Monate unterwegs sein.
Nicht einmal seinem besten Freund wollte er sagen, wo er sich aufhalten würde. So wie es Austin ihm vor ungefähr einem Jahr geraten hatte.
"Habe ich das?"
"Allerdings. Damals hatten wir ganz schön einen im Tee. Erinnerst du dich nicht mehr? He, ich dachte immer, du bist derjenige, der nichts vergißt!"
Austin lachte nicht. In letzter Zeit hatte er sich immer öfter gefragt, was Kea eigentlich vorhatte.
Manchmal... schien es so ... als fahre er seinen eigenen Kurs. Zumindest verhielt er sich manchmal so, als spielte die Tatsache, daß Bargeta der Familie angehörte, keine so große Rolle mehr. Vielleicht, dachte er, sollte er einmal mit Kea darüber reden.
Natürlich war er sein Freund. Aber Austin erinnerte sich wieder an den Mars, erinnerte sich daran, wie ihm sein Vater eingeschärft hatte, daß man die Lektion, wo der eigene Platz im Leben war, immer wieder von neuem lernen - und lehren - mußte. Bei Bargeta Ltd. gab es so etwas wie einen
unersetzlichen Mann nicht. Das galt sogar für Familienmitglieder; erst in diesem Jahr hatte Austin einige Vettern entlassen. Niemand war derart lebenswichtig - mit Ausnahme von Austin selbst natürlich.
Zwei Tage vor seinem geplanten Verschwinden arbeitete Richards an seinem privaten, völlig autonomen Computer den erratischen Kurs aus, der ihn zum Alva Sektor bringen sollte. Der Türsummer ertönte. Seine Empfangsdame kündigte eine Besucherin an. In bewußtem Gegensatz zu Austins Harem beschäftigte Kea absichtlich Männer und Frauen nur aufgrund ihrer Kompetenz und, wenn möglich, Ungekünsteltheit. Die Besucherin hatte sich geweigert, ihren Namen preiszugeben. Die Empfangsdame wollte wissen, was sie tun sollte.
Während sie anscheinend leicht verunsichert mit ihm sprach, schaltete sie wie verabredet mit dem Fuß unter dem Schreibtisch eine Kamera im äußeren Wartezimmer ein. Ein Bildschirm flammte auf. Es handelte sich beileibe nicht um die erste Person, die ihren Namen nicht nennen wollte, um dadurch rascher ins Allerheiligste des Chefs vorgelassen zu werden. Kea starrte das Bild an. Er war einigermaßen stolz darauf, daß es seiner Zählung nach nur zwei Sekunden dauerte, bevor er mit klarer, völlig normaler Stimme sagte: "Ach ja. Führen Sie sie herein."
Tamara. Immer noch sehr reizvoll. Sie trug einen Geschäftsanzug, der aussah, als sei er für einen Mann entworfen worden - wieder einmal war Androgynität angesagt -, doch darunter trug sie eine Bluse aus einer Art Seide, deren Farben sich im Wechselspiel von Sonne und Schatten veränderten.
Darunter trug sie höchstwahrscheinlich nichts mehr.
Sie sah noch immer ganz danach aus: Du kannst mich haben, wenn du willst. Aber nur, wenn du es schaffst. Einen Augenblick lang fühlte er sich wie schwerelos. Aber er ließ es sich nicht anmerken.
Nicht ums Verrecken.
Er war hocherfreut, sie zu sehen, und umarmte Tamara wie eine gute, lang vermißte Freundin. Er weigerte sich, auf sein Hirn zu hören, das ihm mitteilte, wie deutlich er die harten Brustwarzen unter ihrem Anzug an seiner eigenen Brust spürte.
Keine Nachrichten durchstellen. Ein Drink. Er ließ sie auf der Besuchercouch Platz nehmen und setzte sich dicht neben sie. Aber nicht zu dicht. Er sagte, er habe all die Jahre davon geträumt, sie
wiederzusehen. Was sie denn in der Stadt zu tun habe ? Sie wolle sich erholen, meinte Tamara. Ihre Stimme jagte ihm immer noch einen Schauer über den Rücken. Einen Schauer, der ihn daran erinnerte, daß sie ihm gezeigt hatte, was man mit kaum mehr als ein paar Eiswürfeln und einem Lederriemen alles tun konnte. Wovon sie sich erholen wolle?
"Mein Mann und ich ... das ist vorbei." Sie zuckte die Schultern. "Er ist von seinen Rennen besessen, obwohl er in der letzten Zeit so gut wie nichts gewonnen hat. Jungs und ihre Spielsachen, du weißt schon. Vermutlich ist er nie richtig erwachsen geworden. Ich schon."
"Tut mir leid."
"Ich habe viel an dich denken müssen. Schon seit Jahren. Und ich dachte..." Sie hielt inne, wartete ab, ob Kea auf das Signal reagierte.
Richards wartete ebenfalls mit geduldigem, interessiertem Gesichtsausdruck. Vielleicht wollte ihm seine alte respektierte Freundin ja eine völlig neue Idee präsentieren. Tamara versuchte es erneut.
"Weißt du, ich erinnere mich an viele Dinge noch sehr, sehr gut. Kaminfeuer. Seide. Wir haben viel gelacht. Ein unerklärlicher Sonnenbrand." Sie zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Kea legte die Stirn in Falten, dann erinnerte er sich bildhaft an die näheren Umstände. Tamara zog einen Augenblick die Brauen zusammen. Es lief nicht ganz so, wie sie es geplant hatte ...
"Vor allem erinnere ich mich jedoch an die Fehler, die ich gemacht habe. Besonders an einen."
"Richtig. Ich auch."
"Ich glaube, ich kann jetzt nur gestehen, daß ich damals ein ziemliches kleines Aas gewesen bin", sagte sie, die Augen bescheiden niedergeschlagen, die Hände im Schoß gefaltet. "Es dauerte einige Zeit, bis ich reifer wurde. Ich kann dir nur sagen, wie leid es mir tut und daß ich es gerne wiedergutmachen würde."
Es gelang ihr sogar, eine Träne
hervorzuquetschen. Kea fand ein Taschentuch für sie. Er zuckte mit den Achseln. "Wir waren damals alle noch nicht sehr erwachsen", sagte er. "Die Fehler halten sich wohl die Waage."
Tamara wollte etwas sagen, ließ es dann aber sein. Verwundert dachte sie darüber nach, was Kea wohl mit seiner letzten Bemerkung gemeint haben könnte. Dann fuhr sie fort: "Zumindest war Austin nicht so dumm wie ich. Deshalb bist du nicht einfach so verschwunden, und das Leben gibt einem manchmal ... Ich meine, wir leben in der wirklichen Welt. Manchmal kriegt man eine zweite Chance, oder?"
Er nahm sie in die Arme. Küßte sie. Nicht gerade auf brüderliche Weise, aber auch nicht besonders leidenschaftlich. "Aber selbstverständlich. Und ...
auch ich habe dich nie vergessen."
Kea erhob sich und zog sie sanft mit einer Hand unter ihrem Ellbogen mit sich hoch. "Jetzt haben wir Zeit genug, um uns richtig kennenzulernen. Sieh mal, sobald ich von diesem... dieser Geschäftsreise zurück bin, rufe ich dich an. Wir könnten uns zum Essen verabreden. Wir haben uns so viel zu erzählen."
Er ging zu seinem Schreibtisch zurück. Tamara starrte ihn an. Dann bildete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Er erwiderte es. Sie ging langsam auf die Tür zu und öffnete sie, drehte sich noch einmal um. Er lächelte immer noch. Tamara ging hinaus, die Tür schloß sich mit einem leisen Zischen. Kurz bevor sie fest zu war und noch bevor die Dämmung das Geräusch abfing, lachte Kea.
Laut. Ein harsches, grausames Lachen. Ein Marslachen. Dann vergaß er sie.
Kea Richards verschwand aus den Gefilden der Menschen. Er und das Sternenschiff, dem er nicht einmal einen Namen gegeben hatte. Er suchte sich seinen Weg kreuz und quer durch die Galaxis zum Alva Sektor. Er näherte sich der Diskontinuität.
Wieder sah er die Funken vor der schwarzen Leere zwischen den Sternen sprühen, wie ein
Riesenfeuerwerk am Unabhängigkeitstag vor einer mondlosen Nacht. Dort kollidierten winzige Stückchen normaler Materie mit AM2-Partikeln.
Er gab den Kurs ein. Durch die Diskontinuität hindurch, hinein in das andere Universum, das Universum der Schwärze und der Farben. Er navigierte auf Viertelgeschwindigkeit mit Hilfe des Blindflugsystems, das er in langen Jahren harten Nachdenkens entwickelt hatte, eine