zusammengetragen und in irgendeinem
bürokratischen Schwarzen Loch vergessen werden.
Also kehrte er in eins der Zimmer zurück, die die Gesellschaft ihren vorübergehend kontraktlosen Arbeitern zur Verfügung stellte, und vergrub sich in seiner ständig wachsenden Sammlung historischer Abhandlungen. Dann hörte er von Dr. Fazlurs Ankunft. Der Wissenschaftler war ein bekannter Experte auf dem Gebiet der Theorie paralleler Universen. Kea hätte beinahe nichts von diesen Neuigkeiten erfahren. Er hatte schon viel zu viele dieser Lieblingsexperten von Galiot kennengelernt.
Meistens stellten sie sich als windige
Mietprofessoren heraus, die keine Skrupel hatten, sich die Tatsachen zurechtzubiegen, um die Erwartungen ihres Auftraggebers zu erfüllen. Er war davon ausgegangen, daß Fazlur nur deswegen dabei war, um den Bericht zu schreiben und dafür zu sorgen, daß die Regierung die erforderlichen Lizenzen verlängerte. Diese Vermutung schien sich zu bestätigen, als er von Fazlurs entzückender
"Assistentin", Dr. Ruth Yuen, erfuhr - und daß Fazlur sie gerne in aller Öffentlichkeit abküßte und begrabschte. Der Mann war offensichtlich eher Playboy als Wissenschaftler. Dann kam ihm zu Ohren, daß Fazlur viele Tonnen Ausrüstung aus dem Schiff, das ihn und Yuen nach Basis Zehn gebracht hatte, an Bord der Destiny I umladen ließ.
"Die Gesellschaft hat endlich die Geldmaschine angekurbelt", meinte ein alter Raumfahrer in einer von Keas Stammkneipen dazu. "Da muß ein ganz großes Ding drin sein!"
Ein kleiner Wald aus Spezialantennen wurde von rund um die Uhr arbeitenden Mannschaften auf der Außenhülle von Basis Zehn angebracht. Kea hatte es bei seiner Rückkehr von einem kurz
dazwischengeschobenen einwöchigen Einsatz selbst gesehen. Als sein Schiff in Richtung der Andockbucht von Basis Zehn vorüberglitt, war Kea die eigenartige Konfiguration aufgefallen, die Fazlur angeordnet hatte: Drähte, die von Türmen gespannt und miteinander verwoben waren, so daß sie ein feingewobenes Gitternetz bildeten, das wohl als Empfänger dienen sollte. Der alte Raumfahrer hatte nicht übertrieben, als er meinte, die Geldmaschine laufe auf vollen Touren. Es mußte sich tatsächlich um eine größere Sache handeln.
Kea war in seinem Zimmer auf und ab gegangen.
Hatte Gibbon aufgeschlagen und kurz darauf wieder in die Ecke geworfen. Hatte in der Anabasis herumgeblättert. Auch sie in die Ecke geworfen.
Ebenso erging es Plutarchs Biographien. Und Churchill. Viel zu viele Stunden vergingen. Als er die Nachricht von Captain Selfridge erhielt, daß er eine Mannschaft für eine Expedition zum Alva Sektor zusammenstellte, war er so schnell zu diesem Treffen geeilt, wie es einem jungen Mann auf einer Welt mit dreiviertel Erd-Schwerkraft möglich war.
"Die Gesellschaft hält große Stücke auf dich, Richards", hatte Selfridge gesagt.
"Danke, Captain."
"Laß den Captain weg", protestierte der Mann.
"Ich habe es lieber, wenn es auf meinem Schiff lässig zugeht. Nicht so förmlich. Das ergibt 'ne bessere Gemeinschaft. Auf diese Weise können wir alle besser an einem Strang ziehen, wenn es wirklich hart auf hart kommt... Nenn mich einfach Murph."
"Klar ... Murph", sagte Kea und dachte sogleich daran, daß es vernünftiger wäre, auf der Stelle wieder auszusteigen. Nur ein Idiot heuert auf einem Schiff an, dessen Captain sagt: "Nenn mich einfach Murph."
"So ist's recht, Richards. Immer schön locker, dann kommen wir prima miteinander aus. Du stehst übrigens ganz weit oben auf der Liste, die mir die Gesellschaft rübergeschoben hat, nachdem ich gesagt hatte, daß ich für die Expedition noch einen Chefingenieur brauche. Jetzt, wo ich dich kenne und wir uns unterhalten haben, verstehe ich auch, warum."
Dazu sagte Kea nichts. Er hätte die Sache platzen lassen. Seit er in der Unterkunft des Captain angekommen war, hatte er vielleicht fünfzehn Worte gesagt. Wenn der alte Murph sich für die Auswahl der anderen genausoviel Zeit ließ, hatten sie am Schluß eine Mannschaft zusammen, vor der es selbst Long John Silver gegraust hätte. "Eine Sache sollte ich noch erwähnen", fuhr Murph fort. "Ich habe eine Osiranerin als Ersten Offizier. Sie heißt Vasoovan.
Hast du damit Probleme?"
Murph hatte Keas gehobene Augenbraue sofort mißverstanden. "Ich nehm's dir nicht übel, wenn du Vorurteile gegen Nonhumanoide hast. Immerhin nimmt sie einem guten Mann den Job weg und das alles. Aber auch wenn sie nur ein Käfer ist, diese Vasoovan ist mir ausdrücklich empfohlen worden."
"Nein. Ich habe keine Probleme mit einer Osiranerin ... Murph", sagte Kea schließlich. Das war keine Lüge. Er war selbst zu sehr Mischling, als daß er auf die Idee gekommen wäre, Vorurteile zu hegen. Er hatte im allgemeinen viel Gutes über die Osiraner gehört. Aber nicht als Angestellte einer Gesellschaft. Die Osiraner waren eine ziemlich stolze Spezies und mochten sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, von den Menschen
bevormundet zu werden, nur weil sie diejenigen waren, die den ersten Kontakt hergestellt hatten. Die einzigen, die freiwillig für Menschen arbeiteten, das wußte Kea nur zu gut, waren die Unzufriedenen und Unfähigen. Das wiederum hieß, daß Murphs Erster Offizier höchstwahrscheinlich eine Verliererin mit einem Riesenego war. Noch ein schlimmes Zeichen.
Was hatte es zu bedeuten, daß sein eigener Name auf der Liste der empfohlenen Leute stand ?
"Also, wir haben es hier mit einem wirklich heiklen Auftrag zu tun", sagte Murph. "Du kriegst also Gefahrenzulage. Dreifachen Lohn, mein Freund. Garantiert ein Jahr lang."
Kea lächelte und tat so, als freue er sich riesig darüber. >Das erklärt so einiges<, dachte er dabei.
>Als einer der jüngsten Chefingenieure ist dreifacher Lohn bei dieser Gesellschaft ziemlich wenig. Das erklärt auch die Osiranerin. Wir haben es also mit absoluten Niedriglöhnen zu tun. Und der gute alte Murph sieht so aus, als müsse er für billiges Geld arbeiten.<
"Plus Prämien, wenn wir den Schinken nach Hause bringen", schob Murph noch nach.
"Hinter was sind wir denn her?"
"Wahrscheinlich hast du die Geschichten in den Bars gehört. Von den wilden Signalen, die sie aus dem Alva Sektor empfangen."
"Klar. Jeder hat davon gehört."
Gelächter. "Dachte ich mir. Auf Basis Zehn gibt es keine Geheimnisse. Wie auch immer, sie kriegen diese Signale rein. Der betreffende Angestellte hat einen Bericht darüber zusammengestellt, ganz nach Vorschrift. Dem Gesetz nach muß die Gesellschaft aber ungeklärtes Zeug wie das hier melden, das ist 'n Abkommen mit denen ganz oben. Dienst an der Öffentlichkeit und all dieser Quatsch."
Dienst an der Öffentlichkeit, das hieß reine Forschung und Entwicklung. Das war die Kröte, die die großen Konzerne schlucken mußten, um an die Rechte zur kommerziellen Nutzung des Weltraums zu kommen. Tatsächlich wurde nur sehr wenig Geld dafür ausgegeben. SpaceWays und seine
Konkurrenten erfüllten nur die allernotwendigsten Auflagen.
"Der Bericht wurde weitergereicht", fuhr Murph fort, "und alle dachten, damit sei der Käse gegessen und mitsamt dem ganzen anderen Kram ein für allemal begraben. An dieser Stelle kommt Fazlur ins Spiel. Der Doc ist Experte für die Theorie paralleler Universen. Verlang jetzt bitte nicht, daß ich dir das erkläre, ich bin ein Sternencowboy und kein Intellektueller."
"Versprochen", sagte Kea.
"Dieser Fazlur kriegt also den Bericht vor Augen.
Flippt völlig aus. Jagt ihn durch die Computer, und bingo! - Volltreffer. Der Beweis dafür, daß es ein paralleles Universum gibt, wie er sagt. Ein Leck im All."
"Warum hört die Gesellschaft auf ihn?" Kea ließ sich nichts anmerken, obwohl sein Herz wie wild hämmerte. "Wieso interessiert sie sich dafür? Oder ist da vielleicht doch eine Menge Geld zu holen?"
"Kein Geld", erwiderte Murph. "Bestimmt nicht.
Diese Expedition erfolgt, und hier darf ich zitieren,
>rein im Interesse des Fortschritts der Wissenschaft", Ende des beschissenen Zitats."
Kea starrte ihn einfach an, mit dem Verarsch-mich-bloß-nicht-Blick des arbeitenden Dumpflings.
Murph lachte. "Genau. So sieht's aus. Unsere furchtlose Konzernmutter, SpaceWays, steckt nämlich offensichtlich politisch in der Patsche.
Einige Regierungstypen sind der Ansicht, die Forschungsgelder würden zu sehr gestreckt."
"Deshalb brauchen sie jetzt einen schönen Knochen, den sie den Hunden vorwerfen können."
"Du hast's erfaßt. Und Fazlur geht's genauso. Er ist zwar ein Eierkopf, aber er hat eine gute Nase fürs Geschäft. Und Beziehungen. Ein Vizepräsident sieht die Möglichkeit, eine Stufe hochzufallen, und hast du nicht gesehen, plötzlich haben wir eine wissenschaftliche Mission zu erfüllen."
>So läuft der Hase also<, dachte Kea. >Eine kleine, billige Anstrengung, um den guten Willen zu zeigen. Dieses Ding ist von Anfang an vergeigt.<
"Also, Richards, ich habe mein Tänzchen aufgeführt, besser geht's nicht. Was meinst du? Bist du dabei?"
Kea überlegte hin und her. Und noch einmal. Es sah noch immer nicht gut aus. Andererseits ... ein Paralleluniversum? Die andere Seite der Münze Gottes ? Und es gab dort ein meßbares Leck ... Eine Tür. Eine Tür nach ...
Wohin?
Richards mußte es wissen. "Ja", sagte er. "Ich bin dabei."
Kea sah Ruth nach, wie sie den Korridor hinabschlenderte. Sie blieb vor der Tür stehen, drehte sich um, schenkte ihm ein verworfenes Grinsen, dann fuhr die Tür zischend auf. Sie verschwand im Kontrollraum. Kea wartete noch einige Sekunden. Es sah nicht gut aus, wenn sie gemeinsam zurückkamen.
Murphs Durchsage mit der Bitte um eine
Zusammenkunft auf der Brücke hatte sie mitten in der zweiten wilden Nummer erwischt. Die Stimme aus Keas Zimmerlautsprecher war kaum verstummt, da streiften sie auch schon die Kleider über. Jetzt mußte er sich ein wenig Zeit lassen, damit Fazlur keinen Verdacht schöpfte. Kea ärgerte sich, daß er sich überhaupt auf diese prekäre Geschichte eingelassen hatte., Die Frau hatte ihm von Anfang an Avancen gemacht. Ihr Körper und ihr Blick forderten einen förmlich dazu auf, herauszufinden, was sie alles wußte. Es war eine ganze Menge. Sie hatte ihm erzählt, daß Fazlur ein Schwein sei, daß sie sich seinem Willen füge, weil sie sonst ihren Job verlieren würde und dann nur eine Wissenschaftlerin mehr sei, die ihre Haut zu Markte trage.
"Ich muß das einsetzen, was mir die Natur gegeben hat", hatte sie gesagt und dabei mit einem wohlgeformten Finger über noch wohlgeformteres nacktes Fleisch gestrichen. Aber Kea war bald aufgefallen, daß die Gefahr, erwischt zu werden, und die Probleme, die sich unweigerlich daraus ergeben würden, für sie erst die Würze am Sex ausmachten.
Schon wieder. Wie bei Tamara. >Faß dir an die eigene Nase, Richards<, hatte er gedacht. >Es macht dich schließlich auch an. Jedesmal, wenn sie an die Tür klopft, machst du auf.<
Das Nervigste an der ganzen Geschichte, das war Kea klar, war die Tatsache, daß sie wie eine Lektion aus dem Handbuch für Vulgärpsychologie war. Eine Obsession, die in direkter Verbindung zu seinem Fehlschlag mit Tamara stand. Daß der Sex absolut phantastisch war, trug natürlich auch dazu bei. Kea fühlte sich weitaus jünger als achtundzwanzig, schämte sich seiner Sucht und kam zu dem Entschluß, daß mittlerweile genug Zeit verstrichen war. Auf der Brücke warteten schon alle auf ihn.
Murph, Vasoovan und Fazlur. Hinter ihnen stand Ruth und warf ihm einen stummen Kuß zu.
"Wo bleibst du denn, Richards ?" zwitscherte Vasoovan gereizt.
Fazlur schaute ihn an. Hatte er Verdacht geschöpft?
"Ein kleines Problem im Maschinenraum", sagte Kea.
"Schon wieder ein Leck in der Versiegelung?"
fragte Murph besorgt.
"Genau, Murph, schon wieder ein Leck in der Versiegelung." Kea sah, wie sich Fazlur abwandte.
Gab er sich damit zufrieden? "Was ist denn los?"
erkundigte sich Kea.
Murph wies mit dem Daumen auf Fazlur. "Das kann dir der Doc beantworten." Er drehte sich zu Fazlur um. "Warum klären Sie uns nicht auf?"
"Genau, Fazlur", stichelte Vasoovan. "Erzähl uns doch, warum du uns schon fünf Monate lang einer dicken fetten Null hinterherrasen läßt."
"Es handelt sich keineswegs um ein Phantom, meine hirnlose Freundin. Das darf ich euch allen versichern. Bei unserem Start war das Signal, das wir von der scheinbaren Unregelmäßigkeit im Alva Sektor empfingen, zweifellos gleichmäßig und stark.
Das Dilemma stellte sich erst ein, als wir näher kamen. Das gleichmäßige Pulsieren, das wir empfingen, schien sich aufzulösen."
"Ich glaube eher, daß deine Ausrüstung im Arsch ist, so sieht's aus", sagte Vasoovan. "Du hast da etwas gesehen, was es gar nicht gibt."
"Und wofür hältst du diese Blinklichter auf dem Monitor, du Schwachkopf? Der gehört jedenfalls nicht zu meiner Ausrüstung." Vasoovan schwieg.
Auch die Augenstiele bewegten sich nicht. Ob sie nun herumwanderten oder nicht, die Blips auf dem Bildschirm zeugten davon, daß dort etwas war.
Fazlur grinste Vasoovan höhnisch an und wurde dann wieder ernst. "Ich habe sämtliche Aufnahmen von Vasoovans Sichtungen gesammelt. Dann habe ich die Daten zusammengeworfen. Um zu sehen, ob es so etwas wie ein Muster gibt."
"Und so war es auch", vermutete Kea laut. Sonst würden sie jetzt wohl kaum hier zusammensitzen und darüber reden.
"Und so war es auch, genau", bestätigte Fazlur freudestrahlend. "Betrachtet man diese Signale isoliert, sieht es aus, als tauchten sie mal hier, mal da auf. Von ein Uhr nach sechs Uhr. Nach neun Uhr ...
Tut man jedoch einen Schritt zurück und betrachtet die Sache aus einer gewissen Entfernung, fällt auf, daß sich die Neun wiederholt, dann die Sechs, und dann wieder die Eins." Beim Reden malte er etwas auf ein Blatt. Das Ergebnis sah wie ein umgedrehtes U aus.
"Woher kommen die Signale?" fragte Richards.
"Ein Teil davon resultiert aus der Präsenz von Schwarzer Materie", sagte Fazlur. "Daran besteht kein Zweifel. Da sind sehr starke Gravitationskräfte am Werk, und ich bin der erste, der zugibt, nicht daran gedacht zu haben. Aber das ist nicht die ganze Antwort. Ich glaube, was da wirklich passiert, ist folgendes: wir blicken auf ein Paralleluniversum, das durch eine Diskontinuität >sickert<. Es ist wohlbekannt, daß in einem frühen
Entwicklungsstadium unseres Universums positive Ionen so komprimiert wurden, daß kein Licht mehr entkommen konnte. Als sich die Ionen trennten - so stellen wir es uns heute vor -, brach das Licht aus diesem dichten Ionennebel hervor. Ich glaube, daß etwas Ähnliches in unserem nicht ganz so theoretischen Paralleluniversum vor sich geht. Das Licht drängt mit aller Gewalt heraus. Und findet den Weg des geringsten Widerstands durch die Diskontinuität und in unser Universum herein."
"Gute Arbeit, Doc", lobte Murph. "Vermutlich.
Aber das zu entscheiden, überlasse ich unseren Bossen. Wenn ich ehrlich sein soll, ist das, was Sie da erzählen, möglicherweise die Antwort. Aber diese Antwort klingt mir überhaupt nicht nach einer fetten Prämie. Ich hoffe, Sie können das besser verkaufen, wenn wir wieder zurück auf Basis Zehn sind."
"Ich werde es noch viel besser machen", sagte Fazlur grinsend. "Ich kann uns dort hinbringen ...
und es beweisen!"
"Jetzt hör aber auf, Fazlur!" protestierte Vasoovan lautstark und setzte ihr breitestes Raubtiergrinsen auf. "Wir wollen doch keine Dummheiten machen. Ich kaufe dir deine Theorie auch so ab. Ich unterstütze dich sogar bei den Bossen der Gesellschaft, wenn ich dadurch meinen Anteil an der Prämie kriege. Aber hier und jetzt müssen wir den Tatsachen ins Auge schauen, und die lauten nun mal - Ionennebel oder nicht -, daß wir nicht wissen, wie wir überhaupt von hier nach dort kommen sollen!"
"Doch, das wissen wir", gab Fazlur zurück. Er zog einen geraden Strich durch das umgedrehte U
und machte bei elf Uhr einen Kreis. "Das ist unser Kurs für den nächsten Sprung." Allgemeines Schweigen. Kea sah, wie Ruth erstaunt nachdachte, dann nickte. Ihrer Meinung nach hatte er recht.
Schließlich brach Murph das Schweigen. "Meine Fresse, Doc, das ist 'n dickes Ei und so weiter. Aber ich glaube, wir haben genug. Die Politicos sind bestimmt überglücklich, daß wir überhaupt, etwas getan haben. Das heißt: auch die Gesellschaft ist glücklich. Ende der Geschichte."
"Seien Sie kein Narr", sagte Fazlur. "Wenn ich recht behalte, dann reden wir hier von der größten Entdeckung seit Galilei. Es geht um die Neudefinition der Realität selbst. Vergessen Sie den Ruhm, auch wenn jedes einzelne
Besatzungsmitglied der Destiny I in die Geschichtsbücher eingehen wird. Denken Sie an den Reichtum, Mann. An den Reichtum!"
Murph wandte sich an Kea: "Wie sieht's momentan aus?"
"Die Maschine ist soweit in Ordnung. Alles andere ist so lala. Inklusive Treibstoff." Kea blieb keine andere Wahl, als ehrlich zu sein.
"Ich weiß nicht", sagte Murph. "Mir ist einfach nicht wohl dabei, diese Entscheidung allein zu treffen."
"Jedenfalls können wir die Verantwortlichen nicht mal kurz anrufen", meinte Vasoovan. "Wir sind zu weit weg."
"Wenn Sie jetzt wieder umkehren", grollte Fazlur warnend, "dann sorge ich dafür, daß Sie gefeuert werden und ein für alle Mal aus dem Geschäft sind, das schwöre ich."
"Ich bitte Sie, Doc", beschwichtigte Murph.
"Seien Sie doch nicht so. Ich habe nur gesagt, daß mir nicht wohl dabei ist, die Sache allein zu entscheiden."
"Ich übernehme die Verantwortung", sagte Fazlur.
"Das wäre nicht rechtens", konterte Murph.
Damit meinte er, daß es nicht ausreichte, um seinen dicken Hintern zu retten. "Wie war's, wenn wir darüber abstimmen? Nur die Offiziere und Sie beide? Die Mannschaft brauchen wir nicht zu fragen."
Kea hätte beinahe laut gelacht. Ein
Schiffskommandant, der abstimmen läßt. Statt dessen sagte er: "Warum nicht?" Und hob die Hand.
"Fangen wir mit mir an. Ich bin dafür, daß wir hinfliegen."
"Verdammt seist du!" fluchte Vasoovan. "Ich stimme für den Heimflug."
Fazlur und Ruth schlössen sich Kea an. Jetzt konnte Murph sehen, woher der Wind wehte. "Na schön. Ich schließe mich der Mehrheit an. Tut mir leid, Vasoovan, aber ich muß hier für Frieden sorgen. Das ist mein Job."
Und so begann der letzte Abschnitt der Operation Alva so zynisch und so halbherzig wie der erste. Kea machte sich nichts daraus. Er war fest entschlossen, die andere Seite von Gottes großer Münze zu sehen.
Ein alter Satz kam ihm in den Sinn: "Das ist der Stoff, aus dem die Träume sind."
Ein feiner Feuerregen stand wie ein Vorhang quer im All. Und dieser Vorhang schien sich in einem sanften kosmischen Wind leicht zu wellen und zu bauschen. Das war die Stelle, an der sich zwei Universen berührten ... und ineinandersickerten.
Kea betrachtete das Bild auf dem Hauptmonitor des Schiffes und sah, wie sich dort ein unablässiges Werden und Vergehen abspielte, als kleine Partikel aus einem Universum mit jenen aus dem anderen in Berührung kamen und in winzigen Lichtblitzen explodierten. Lichtblitze, die ständig an dem wallenden Vorhang auf und nieder tanzten, den Fazlur eine "Diskontinuität" genannt hatte.
>Diskontinuität ?< dachte Kea. >Nein. Das ist eher der Eingang zum Paradies. Oder zur Hölle.< Fazlurs Stimme ertönte hinter ihm. "Und jetzt, Richards, wenn Sie noch ein Stück näher heran könnten ..."
Kea betätigte den Joystick. Auf dem Schirm wurde die Schöpfkelle sichtbar, die er unter Anleitung von Fazlur und Ruth gebastelt hatte. Sie bestand aus einer kleinen zylinderförmigen Einheit, die als Schiff-Schiff-Kurzstreckenkurier entworfen worden war und die jetzt ein Netz aus eigens präparierten Kunststoffdrähten vor sich herschob.
Auf einem Balken am unteren Rand des Schirms liefen ständig Zahlen durch.
"Nur noch ein wenig mehr ..." krächzte Fazlur.
"Ein Stück noch ..."
Plötzlich war das Netz der Kelle voller Lichtblitze. Antipartikel kollidierten mit Partikeln.
In den Kunststoff drahten des Netzes spielte sich ein kleines Drama ab. Kea hielt die Kelle stur auf Eintauchkurs. Es war nicht schwer. Die Sensoren des Joystick wiesen keinerlei Abweichungen auf.
Als die Lichtblitze abrupt aufhörten, beendete die Kelle ihren Ausflug und kehrte ins normale All zurück.
Hinter Kea ertönte Fazlurs hämische Stimme.
"Ich habe es geschafft! Geschafft!" Kea wußte, daß Fazlur seinen Namen bereits in den
Geschichtsbüchern sah. Der erste Wissenschaftler, der ein anderes Universum erforschte - und sei es nur per Fernbedienung. Er gab ein Kommando ein, das die Kelle automatisch zurückholte, und schwenkte seinen Stuhl herum.
"Was hast du geschafft?" setzte sofort Vasoovans enervierendes Gezwitscher ein. "Wir sind genauso daran beteiligt wie du, Kumpel. Wir sind ein Team, stimmt's? Habe ich recht, Murph? Wir kriegen alle den gleichen Anteil."
"Hm, äh ... darüber müssen wir uns noch mal unterhalten", murmelte Murph. "Mal sehen, was die Vorschriften besagen."
Kea wußte schon jetzt, daß der gute alte Teamspieler Murph die Prämie nur unter den Rängen aufzuteilen gedachte. Er sah, wie diese eifrigen alten Augen in diesem entwaffnend gutmütigen Gesicht voller Berechnung funkelten.
>Mal sehen<, dachte er jetzt wahrscheinlich ... >Auf diese Weise könnte ich mit Fazlur fifty-fifty machen
... Das wäre dann ... äh, also ... was war die höchste Prämie, die die Company bis jetzt ausgezahlt hat?<
"Ich kenne diese Vorschriften nicht, Murph", kreischte Vasoovan. "Hier geht es nach den Expeditionsregeln. Fazlur kriegt als Teamchef zwanzig Prozent. Wir teilen uns den Rest. Zu gleichen Teilen."
"Hört ihr jetzt endlich auf damit!" brüllte Fazlur.
"Wen kümmert die Prämie? Die könnt ihr in ein Glas kippen, runterschlucken und wieder auspinkeln."
"Hören Sie", meinte Murph. "Wenn Sie Ihren Anteil nicht wollen ... Wir teilen ihn gerne unter uns auf. Stimmt's, Vasoovan?"
"Genau, Murph."
Kea mischte sich ein. "Warum erklären Sie es ihnen nicht, Fazlur?" Er hatte die Kelle bereits zum dritten Mal durchgezogen. Und er hatte Fazlur und Ruth über die Schulter geschaut, während sie rechneten und rechneten. Er hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was Fazlur entdeckt hatte. Aber sie war sehr, sehr vage.
Fazlur nickte. Er rückte sein zerklüftetes, trotzdem attraktives Gesicht ins rechte Licht. "Es ist ganz einfach", sagt er. "Wir haben uns gerade eben in ein anderes Universum vorgewagt - und Beweise für seine grundsätzliche Beschaffenheit mitgebracht.
Dieses Material kann in unserem eigenen Universum zur Quelle unbegrenzter Energie werden. Eine kleine Flasche davon, meine Freunde, könnte den Energiebedarf einer ganzen Großstadt und ihrer Bewohner für hundert Jahre decken." Fazlur kicherte vor sich hin. Das Kichern verwandelte sich in lautes Lachen. In der Kabine herrschte Schweigen, bis er wieder aufhörte. "Soviel zu eurer blöden Prämie", sagte er.
Keas vage Vorstellung wurde ganz allmählich konkreter. Energie ... Treibstoff. Kriege waren deswegen geführt worden. Hunderttausende waren auf den Ölfeldern gestorben. Energie... Waffen.
Hunderttausende und mehr waren in der
Vergangenheit im nuklearen Bombardement gestorben. Energie. Reichtum. Die größten Vermögen - und Familien - waren auf diesem Gold gegründet worden. Er sah die anderen im Raum an.
Jeder von ihnen hatte es jetzt auf seine eigene Weise verstanden. Selbst der letzte Schmiermaxe hätte es kapiert. Man kam nicht zur Raumfahrt... blieb dabei... und hatte von diesen Dingen absolut keine Ahnung. Kea sah Murph an: Raumfahrergesicht.
Clownsgesicht. Aber auf seltsame Weise düster.
Vasoovan: das rosige Gesicht blasser als jemals zuvor. Breites Raubtiergrinsen. Die Fühler rollten sich zusammen und wieder aus. Ruth: leuchtende Augen. Die rote Zungenspitze stieß zwischen den Lippen hervor. Und er selbst.
Er wünschte, er könnte sich jetzt selbst sehen.
"Äh ... Doc ..." hob Murph an. Kehlig. "Wie nennen Sie dieses ... äh ... dieses Zeugs ?"
"Eine gute Frage, Murph", gab Fazlur zurück.
Kea konnte es ihm nicht verdenken, daß er seinen Triumph bis in die Zehenspitzen auskostete. "Es ist das Gegenteil der Materie in unserem Universum.
Aber wir können es nicht Antimaterie nennen.
Antimaterie haben wir bereits in diesem Universum.
Vielleicht sollten wir es auf ganz einfache Weise ausdrücken." Er wandte sich an Ruth. "Etwas, das sich vermarkten läßt. Etwas, was sogar der Allerdümmste sich merken kann. Bislang war das immer sehr hilfreich, wenn ich den Fördergremien meine Arbeit vorgestellt habe."
"Ganz einfach." Sie zuckte die Achseln. "Wenn nicht Antimaterie ... dann ist es eine neue Antimaterie. Wir müssen das Neue betonen."
"Wie wäre es mit Antimaterie Zwei", schlug Kea vor.
"Gefällt mir", sagte Ruth. "Es ist einfach."
"Antimaterie Zwei... Ja, das ist gut. Sehr gut sogar. Mit dieser Überschrift haben wir ihre Aufmerksamkeit." Fazlur war zufrieden.
"Was mir daran gefällt," sagte Murph, "ist, daß es prima auf ein Gebäude paßt. AM2." Er malte die Symbole in die Luft: AM2.
"Wie sicher ist die Sache, Doc?" zwitscherte Vasoovan. "Kannst du das auch beweisen?"
Fazlur erhob sich, drehte sich um und blickte wieder auf den Bildschirm und den Vorhang aus Feuer. "Ich bin sicher. Sehr sicher. Und ich habe den Beweis. Aber er ist nicht hundertprozentig. Aber bei dieser Sache, meine Freunde, müssen wir absolut sicher sein. Sonst..." Er drehte sich um, während hinter ihm das Feuer weiterhin über den Monitor regnete. "Es gibt genügend Leute, die über Leichen gehen würden, um die Kontrolle über das hier zu erlangen. Darüber müßt ihr euch im klaren sein."
Fazlur sah sie entschlossen an. Einen nach dem anderen. Auch Kea. Richards dachte an die Bargetas, an die anderen großen Familien und Vermögen. Er dachte an die Möglichkeiten und die Bedrohung, die sie in AM2 sehen würden. Der entscheidende Punkt war die Kontrolle. Die da oben gegen die hier unten. Fazlur hatte recht. Diejenigen, die bereits alles hatten, würden mit Anwälten und Schriftstücken anrücken - und mit gedungenen Mördern. Kea nickte. Er wußte Bescheid. Die anderen auch.
"Wenn wir irgendwelche Rechte - knallharte und unverbrüchliche Rechte - an unserer Entdeckung haben wollen", sagte Fazlur, "müssen wir diesen Beweis patentierbar machen. Ein so starkes Patent, daß niemand unsere Rechte daran in Frage stellen kann."
"Wie kriegen wir diesen Beweis, Doc?" fragte Murph.
Fazlur deutete auf den Schirm. "Dazu müssen wir dort hinein", antwortete er. "Und wieder zurückkommen."
Kea hatte noch nie eine so gnadenlose Stille gehört. Es gab keinen Streit. Auch keine hitzigen Diskussionen. Niemand fragte: Ist das denn möglich? Sind Sie sicher? Was, wenn nicht? Jeder hatte den Kampf mit sich selbst auszufechten. Sie alle kannten Fazlurs Antworten: Ja, ich bin sicher.
Ich weiß nicht ... Ich bin auch noch nicht dort gewesen. Kea schluckte. Er blickte auf den Monitor.
Er sah den sanften Feuerregen, das Wallen und Wogen des Alls, verlockender als jede Frau, die er gekannt hatte.
Er ... mußte ... es ... einfach ... selbst... sehen.
Und wieder dieser Satz: "Der Stoff, aus dem die Träume sind."
Kea räusperte sich und rief damit die anderen ins wirkliche Leben zurück.
"Ich finde, wir sollten es wagen."
es war ein Ort wie der andere.
aber nicht vertraut.
es war ...
nicht.
es gefällt mir nicht.
warum?
weiß ich nicht.
ist es kälter?
nein, aber ... mir ist kalt.
ist es dunkler?
nein, aber ich ... kann nichts sehen.
was spielt sich denn dort ab?
ich...
habe mich verirrt.
Eine Art Vibrieren brachte sie in die Normalität zurück. Sie blickten einander verwundert an. Ruths Hand bewegte sich auf Keas Hand zu. Fazlur sah es.
Ein Leuchten glomm in seinen Augen auf. Dann verlagerte sich seine Aufmerksamkeit wieder auf den Schirm. "Wir sind auf der anderen Seite", sagte er leise.
Kea sah auf. Die Kameras am Heck des Schiffes machten einen Schwenk. Der Feuervorhang lag hinter ihnen.
Die Destiny I war hindurch.
"Haben Diskontinuität passiert", sagte Murph.
Seine Stimme klang spröde und professionell. "Auf den Zeittick ..."
Vasoovans Zwitschern klang moduliert:
"Überprüfung. Koordinaten ... x350 ... Berechnung läuft..."
"Halbe Kraft", mischte sich Kea ein. "Schub gleichmäßig. Alle Funktionen normal."
"Meldungen ... positiv an den Lukensensoren, Doktor", sagte Ruth. Völlig ruhig.
"Kurs jetzt Steuerbord neun... Danke, Ruth. Nicht mehr ganz so viele Daten, bitte ... So ist es gut."
Fazlur überwachte die hereinkommenden Daten; seine Finger flogen über die Tastatur. Er nickte. Ja.
Ja. Und ja. Dann stellte er das Gerät ab. "Ich glaube, jetzt können wir nach Hause fliegen, Captain", sagte er formell.
Murph nickte ihm zu. Steif. "Danke, Doktor."
Dann: "Vasoovan. Kurs auf XO setzen ... Wir fliegen heim."
Es erschien wie ein Fleck auf dem Bildschirm, der die Farben/Nichtfarben dieses eigenartigen Universums abbildete.
Ein infinitesimaler Fleck.
"Murph! Auf elf Uhr!"
"Was zum Teufel ist das denn?"
"Keine Ahnung. Ein winziger Mond vielleicht."
"Geh nicht zu nah ran."
"Nö. Nicht zu nah. Aber vielleicht sollten wir -"
Zwei Formen näherten sich einander im All. Aus Masse zusammengesetzt. Einer Möglichkeit dieser Masse. Und einer Verschiebung von Schwerkraft.
Aber eine dieser Formen bestand aus dem Stoff der einen Realität.
Die andere aus dem Stoff der anderen.
Gegenstände ziehen sich an.
Was aber tun doppelte Gegensätze?
Die Explosion erwischte die Destiny I mittschiffs, zerriß sie wie ein Hai, der sich in einen fettleibigen Thunfisch verbiß.
Fünfzehn starben.
Fünf überlebten.
Die Götter dieses Abschnitts des Universums waren gnädig mit den fünfzehn.
Kea erwachte. Es war dunkel und blutig. Ein beißender Gestank. Kein Schmerz.
Empfindungslosigkeit.
Er hörte Stimmen.
"Alle tot." Ein Jaulen.
"Wir sind da, Murph! Wir sind da. Wir leben noch."
Ich auch, wollte Kea sagen. Ich lebe auch noch.
Nicht einmal ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle.
"Was sollen wir tun? Großer Gott, was sollen wir bloß tun?"
"Ich würde dich umbringen, Murph. Ich würde dich wirklich umbringen, wenn wir dann nicht ganz allein wären."
"Ich muß nachdenken. Ich muß nachdenken."
"Du bist dran schuld, Murph. Wir hätten niemals herkommen sollen, du verdammter Idiot!"
Überprüft den Schaden, wollte Kea sagen. Es drängte ihn verzweifelt dazu ... Überprüft den Schaden.
Er spürte, wie sich seine Lippen zum Sprechen zusammenzogen.
Eine Welle stürzte über ihm zusammen und riß ihn mit sich.
Er hatte Durst.
O Gott, was hatte er für einen Durst.
Eine Stimme. Ruths Stimme.
"Herrje, ich weiß auch nicht. Er hat sich etwas gebrochen oder sonst was. Innen drin. Ich bin keine Ärztin."
"Was ist mit Fazlur?" Murphs Stimme.
"Ist doch egal", ertönte ein Zwitschern.
Vasoovan. "Er hat uns hier reingeritten."
"Castro geht es noch schlechter", hörte er Ruth sagen. "Ich habe die Anweisungen in der Erste-Hilfe-Ausrüstung befolgt, so gut ich konnte. Der Stumpf hat zu bluten aufgehört, falls das ein Trost ist." Ihre Stimme war kalt.
"Immer noch bewußtlos?"
"Immer noch. Gott sei Dank. Was glaubst du, wie gräßlich er sonst schreien würde?"
>Wasser<, dachte Kea. >Ich habe so schrecklichen Durst.<
"Wir haben praktisch keine Rationen mehr", schrillte Vasoovan. "Und nur ganz wenig Wasser."
"Ich schlage vor, wir erlösen beide von ihrer Qual. Dann können wir ein bißchen länger leben."
"Das wäre nicht rechtens", sagte Ruth. Mit Nachdruck.
"Nö", meinte Murph. "Das nicht... Außerdem kosten sie uns nichts, solange sie bewußtlos sind.
Höchstens Luft. Und davon haben wir genug."
Die Wogen hoben Kea erneut auf und trugen ihn davon.
Schmerzen. Ganze Wellen und einzelne Stiche.
Aber sie waren erträglich. Und die
Gefühllosigkeit war verschwunden.
Immer noch kein Licht. Seine Augen ... fühlten sich ... verkrustet an. Getrocknetes ... Was? ... Blut?
Ja, Blut.
"Herrschaft, dieser Anzug stinkt vielleicht", hörte er Murph sagen.
Verschlüsse wurden geöffnet. Dann war das Klappern von Ausrüstungsteilen zu hören, die zu Boden fielen.
"Hast du es diesmal bis zur Antriebseinheit geschafft?" fragte Ruth.
"Ja. Sie ist nicht allzusehr demoliert. Und die Verbindung zu den Kontrollen ist unterbrochen."
"Kriegen wir es wieder hin?" Wieder das Gezwitscher.
Kea hörte Murph aufstöhnen. "Ich sagte doch, der Antrieb ist nicht zu schlimm demoliert. Das heißt...
man kann ihn reparieren. Aber ich kann's nicht. Und auch keiner von euch."
Kea brachte das Wort mit Mühe heraus:
"Wasser."
"He, das ist Richards", sagte Murph.
"Was will er denn?" fragte Vasoovan.
"Wasser. Er sagte >Wasser<", erwiderte Ruth.
"Ich hole ihm einen Schluck."
"He, Murph", sagte Vasoovan. "Darüber haben wir uns nicht unterhalten. Vorhin hast du gesagt, sie kosten uns nichts, erinnerst du dich noch?"
"Ich erinnere mich."
Kea hatte plötzlich Angst davor, daß sie eine Entscheidung treffen würden. Und noch mehr Angst davor, wie sie ausfallen würde. Wo war Ruth?
Warum sprach sie nicht zu seinen Gunsten?
>Warte nicht auf Ruth!<
"Ich kann's reparieren", krächzte Kea.
"Er ist wach", sagte Ruth. Was bedeutete: Er hat unser Gespräch gehört.
"Was sagst du da, Partner?" Das war Murph.
Jovial. Kea spürte, daß er näher rückte. Stellte sich vor, wie er auf ihn herabblickte. "Hast du gesagt, du kannst ihn reparieren? Den Antrieb?"
Kea wollte mehr sagen. Viel mehr. Aber er hatte nicht die Kraft dazu. Es gab also nur eine Antwort.
"Wasser", krächzte er. Dann kippte er wieder nach hinten. Es war sein erstes und letztes Angebot.
Ein Rascheln. Kühles Wasser benetzte seine Lippen. Der Geruch von Parfüm hüllte ihn ein, zusammen mit einer Stimme. "Oh, mein Liebling", sagte Ruth. "Ich bin so froh, daß du lebst." Ein Kuß streifte seine Wange.
Er schlief.
Kea stützte sich auf seinen gesunden Arm, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Der andere war an seinem Körper festgebunden. "Das hier ist ein intaktes Siegel", sagte er. "Das ist ein Verschlußring. Jetzt... hebt es hoch, dann seht ihr eine Y-förmige Vertiefung."
Auf dem Bildschirm sah er Murphs in
Handschuhen steckende Hände, die seinen Anweisungen folgten. Er war zwischen der Antriebseinheit und einem Träger eingezwängt.
"Hab ich", sagte Murph.
"Gut. In deiner Gürteltasche findest du ein passendes Werkzeug. Aber bevor du den Deckel aufmachst... mußt du unbedingt einen Schutzschirm davorschalten."
"Alles klar", sagte Murph und machte sich an die Arbeit.
"Hat keinen Sinn, sich wegen Krebs zu sorgen", zwitscherte Vasoovan. "Niemand von uns wird so lange leben."
"Wie humorvoll", sagte Ruth. "Das hält uns bei Laune."
Kea ignorierte den Beginn einer weiteren Streiterei. Er ließ sich wieder auf die Pritsche fallen.
"Gebt mir ein wenig Suppe", sagte er. Ruth warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
"Du hast deine Ration schon gehabt", sagte Vasoovan.
"Suppe", sagte Kea. Er war krank. Er brauchte mehr. Ende der Diskussion. Kea blickte auf den Schirm, wo Murph immer noch im Antriebsraum arbeitete. Sobald der Deckel ab war, müßte der nächste Schritt ziemlich leicht sein. Wieder nagte der Hunger unter seinen Rippen. So scharf, als wären sie auseinandergerissen und nicht nur gebrochen.
Er stemmte sich hoch und sah Ruth an; sein Rücken gab ihm dabei kaum Unterstützung. Sie saß immer noch im Sessel. Vasoovan sah zu und hatte ihren Spaß dabei. "Wie kommst du dazu, anderen Leuten Befehle zu erteilen?" knurrte Ruth. "Wie kommst du dazu, die Regeln zu brechen und mehr als alle anderen essen und trinken zu wollen?"
"Spielt keine Rolle", sagte Kea. "Tu's einfach.
Oder sie werden dich dazu zwingen."
Hysterisches Gezwitscher. "Kein Essen, keine Arbeit. Der Junge fährt einen harten Kurs." Alle vier Augenstengel Vasoovans wandten sich Ruth zu.
"Gib ihm, wonach er verlangt", sagte sie. "Oder wir stecken dich zu Fazlur in die Suppe." Ruth tat, was sie sagte.
Kea wartete ab. Murph würde in etwa vier Stunden soweit sein, daß er den nächsten kleinen Schritt machen konnte. Dann würde Kea das nächste bißchen Wissen gegen Nahrung eintauschen.
Und dann noch ein bißchen. Bis alles erledigt war. >In etwa zwei Wochen<, dachte er. >Dann werden wir weitersehen.<
Fazlur war drei Tage zuvor gestorben. Er hatte sich endlos hin und her geworfen, nie mehr ganz das Bewußtsein erlangt, war aber auch nie soweit besinnungslos gewesen, daß er keine Schmerzen verspürt hätte. Niemand hatte den Versuch unternommen, ihm zu helfen, schon gar nicht, ihn zu füttern oder ihm etwas zu trinken zu geben. Kea hatte sich nicht für Fazlur eingesetzt. Warum auch?
Sie hätten es ohnehin abgelehnt, ihm zu helfen. Keas Kuhhandel hätte sich nicht auf Fazlur ausdehnen lassen. Momentan waren Murph, Vasoovan und Ruth am Drücker. Bis seine Wunden verheilt waren, war Kea hilflos.
Außerdem war Fazlur, in Vasoovans
Raubtierlogik, derjenige, auf den man am ehesten verzichten konnte. "Wenn wir Glück haben und es schaffen, brauchen wir ihn nicht. Jedenfalls nicht lebend. Wir haben seinen Beweis. Seinen absoluten Beweis. Steht alles in seinem Datenordner."
"Ich wünschte nur, wir hätten es schon hinter uns", sagte Ruth. "Ich halte dieses höllische Stöhnen nicht länger aus. Manchmal hörte er sich so an, wenn wir uns liebten. Ein echtes Schwein." Kea wandte sich von ihnen ab und widmete sich seinen eigenen Gedanken. Und dem Schlaf.
Einige Zeit später glitt Kea in eine Art Halbschlaf. Fazlur stöhnte. Die anderen gaben Schlafgeräusche von sich. Plötzlich hörte er eine Bewegung; leise Schritte; der Geruch süßen Parfüms. Das Stöhnen hörte auf. Dann wieder die leisen Schritte.
Am nächsten Tag entdeckten sie, daß Fazlur tot war.
"Laßt ihn durch den Regenerator laufen", hatte Vasoovan gezwitschert. "Gebt ihn in die Suppe." Sie redete von dem Nahrungsbrei, der aus ihrem eigenen Abfall und den verschwindend geringen Mengen an Pflanzenproteinen hergestellt wurde, die der beschädigte Hydroponik-Raum noch hergab.
"Warum nicht?" hatte Ruth ihr beigepflichtet.
"Dazu können wir ihn noch gebrauchen. Irgendwie kommt es mir auch sehr passend vor."
Kea hatte zugesehen, wie sie die Leiche aus dem Zimmer trugen. Wieder nagte der Hunger an ihm. Er hörte leichte Schritte. Ruths Parfüm. Ohne aufzusehen nahm er die Schale von ihr entgegen. Er trank. Es schmeckte nach nichts. Armer Fazlur.
Der Vorhang zwischen den Universen hing verheißungsvoll vor ihnen. Wenn die Dinge etwa anders gelaufen wären, vermutete Kea, hätte man ihn bestimmt "Fazlurs Diskontinuität" genannt. Er sah sich um. Vasoovan. Murph. Ruth. Niemand hier würde Fazlur auch nur einen Krümel vom Ruhm lassen. Er selbst hingegen ... nun, er hatte so seine eigenen Vorstellungen. Er mußte sie nur noch formulieren.
"Wir sind soweit", sagte Vasoovan.
Kea kämpfte sich hoch. Allmählich kehrte das Leben in seinen festgebundenen Arm zurück. Er wurde wieder stärker. Ein bißchen. "Noch ein Punkt", verkündete Kea, "bevor wir wieder hinüberwechseln."
Sie drehten sich erschrocken zu ihm um.
"Keine Sorge. Der Antrieb ist in Ordnung", sagte er. "Ich möchte euch nur daran erinnern, daß wir auf der anderen Seite noch eine Reise von fünf Monaten vor uns haben."
"Ja? Und?" Das kam von Murph.
"Da jetzt alles wieder gut läuft, könnte einer von euch auf den Gedanken kommen, ich sei jetzt nicht mehr so wichtig. Daß man auf den Chefingenieur gut verzichten kann -