Kapitel 22
Pasadena, A.D. 2183
Kea saß auf dem Rand von Millikans' Pot und wartete auf die Schlaumeier. Bis jetzt hatte er noch keinen einzigen getroffen. Cal Tech, die Technische Hochschule in Kalifornien, war eine ziemliche Enttäuschung, das wurde ihm jetzt, zu Beginn seines zweiten Studienjahres, klar. Sein erstes Jahr war ein einziges Durcheinander aus überfüllten Seminaren, teuren Fiches, Einsamkeit und Arbeit gewesen.
Dabei war ihm nicht viel Zeit geblieben, die Welt, in der er sich jetzt befand, genauer unter die Lupe zu nehmen. Der dumpfe Eindruck war womöglich durch Leong Suks Tod kurz vor Weihnachten 2182
noch verstärkt worden. Man hatte Kea erst nach der Beerdigung davon verständigt.
Cal Tech war ein ebenso großer Humbug wie die meisten Religionen auf der Straße der Gottesmänner.
Und wie jeder gute Schwindel sah es von außen blendend aus. Das Institut konnte mehr
Nobelpreisträger vorweisen als Houston oder sogar Luanda, doch die meisten von ihnen unterrichteten nicht mehr als einen oder zwei Einführungskurse und vielleicht noch ein Doktorandenprogramm, an dem ohnehin nur eine begrenzte Anzahl
handverlesener Jünger teilnehmen durfte. Die Uni ging mit mittlerweile 25.000 Studenten auf ihren 300jährigen Geburtstag zu und war ein Prunkstück der allermodernsten Architektur und
Vorstellungskraft. Zu den wenigen Gebäuden, die noch aus der "alten Zeit" übrig waren, bevor die Universität anfing, sich wie ein Krebsgeschwür auszubreiten, und sich bei diesem Prozeß nicht nur ein nahe gelegenes Gymnasium, sondern gleich die ganze Innenstadt einverleibt hatte, gehörten der altertümliche Brunnen, auf dem Kea saß, und die im spanischen Stil errichtete Kerkhoff Hall gegenüber, die mittlerweile zur Einweisung der Erstsemester benutzt wurde.
Die Arbeit war zwar hart, bestand zum Großteil jedoch aus Pauken: Wissen einbläuen und zu den regelmäßig angesetzten Prüfungen wiederkäuen.
Beide Theoriekurse, für die er sich in diesem Semester qualifiziert hatte, schienen lediglich die Weiterführung oder Abwandlung der Erkenntnisse der Vergangenheit zu predigen, statt die Studenten auch nur mit dem geringsten wirklich originellen Gedankengut zu konfrontieren.
Er war nicht so Verblasen, daß er von Cal Tech echte Perfektion erwartet hätte oder daß ihm hier wirklich die Geheimnisse der Altvorderen vermittelt würden. Er hatte jedoch erwartet, daß die Schule zumindest mit ein paar originellen Köpfen aufwartete, die auch über den Tellerrand der bloßen Wiederholungen der vergangenen Irrtümer hinwegblickten. Vielleicht gab es diese Weisen ja, und er war zu jung und zu dumm, um zu erkennen, wer und wo sie waren. Vielleicht hatten die kühnsten Denker auch einfach die Schnauze voll gehabt und lehrten jetzt irgendwo weit weg von der Erde, auf Ganymed oder auf dem Mars. Wenn das stimmte warum besuchten dann so viele Außenweltler Cal Tech?
Keas Zweifel schlugen sich nicht in seiner Arbeit nieder. Er hielt gute Durchschnittsnoten und stand in beiden vergangenen Jahren auf der Stipendiatenliste.
Er war ringsum abgesichert. Er mußte nichts anderes tun, als seinen Notendurchschnitt, sein Lächeln, seine Moral und seine Genitalien nicht sinken zu lassen, dann würde er sich zu einem Senkrechtstarter des 22. Jahrhunderts entwickeln. Und das hieß, dachte er angeödet, daß er von einer der Superdesign-Anlagen wie Wozniak City geschluckt werden würde und eventuell, wenn er sich ordentlich aufführte, irgendwann einmal einer "besonders eleganten" Computerlösung seinen Namen aufdrücken durfte; oder aber, was noch bescheuerter war, einen tertiären Prozeß in der Synthetisierungs-Industrie nach sich benennen. Vielleicht würden sie ihn mit einem kostenlosen vierzehntägigen Urlaub mit allen Schikanen auf Nix Olympica belohnen.
Natürlich auf einem der kleineren Gipfel.
Kea mußte plötzlich grinsen. >Du hast recht, Junges dachte er. >Selbstmord ist die einzige Lösung. Leg dich vor den nächsten Schienenbus, der vorbeikommt, mein trauriger Jüngling. Apropos .. .< Er schaute auf die Armbanduhr - in diesem Jahr war der letzte Schrei, die Uhr am Handgelenk zu tragen und sah, daß es höchste Zeit war, sich auf die Socken zu machen, wenn er nicht zu spät zur Arbeit kommen wollte. Ihm blieb gerade noch genug Zeit, seinen Aktenkoffer in seiner ein ganzes Stück vom Unigelände entfernten Unterkunft - einem winzigen, viel zu teuren Zimmer auf dem Dachboden abzustellen und die Klamotten zu wechseln.
>Vergiß doch all den Mist, der dir durch den Kopf geht<, dachte er. >Du wirst schon nicht als Rädchen in irgendeinem Räderwerk enden. Du kannst sogar wieder nach Maui zurückgehen und als Gangster ganz von vorn anfangen, bevor du dir das antun läßt. Oder dich als Freiwilliger auf einem Longliner melden ...<
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Plötzlich wurde ihm kalt. Er suchte mit dem Daumen nach dem Reißverschluß seiner Jacke. Die herbstliche Sonne war zweifellos nicht mehr so warm, wie es den Anschein hatte.
Das Lokal, mehr Kneipe als Restaurant, in dem Kea arbeitete, lag mitten im miesesten Stadtbezirk.
Nachdem er sich durch geologische Schichten aus Wandverkleidungen, Farbe und ranzigen Tapeten durchgearbeitet hatte, war er darauf gestoßen, daß die Kneipe vor ungefähr einer Million Jahren einmal den Namen "Gay Cantina" getragen hatte. Heute trug sie, soweit sich jemand erinnern konnte, überhaupt keinen Namen. Man nannte sie einfach
"die Schnapsbude da drüben". Sämtliche Lizenzen lauteten auf den Namen des Eigentümers, einen finsteren Schlägertypen namens Bruno, und alles wurde stets bar bezahlt.
Bruno hatte zuerst nicht glauben wollen, daß jemand, der so gut wie Richards aussah-das hieß, jemand ohne die sonst im Viertel üblichen Narben im Gesicht - und der obendrein Cal Tech besuchte, sich in seiner Kneipe nach einem Job erkundigen würde. Doch Kea, der sich oft an die Kochkünste seines Vaters erinnerte und während der vergangenen Jahre die Mahlzeiten für sich und Leong Suk zubereitet hatte, ließ nicht locker.
Außerdem, dachte er, wäre es bestimmt ein besonderes Fest, mitzuerleben, was geschah, wenn der erste Schluckspecht ein Lob auf den Jungen aussprach. Bruno wollte es mit ihm probieren.
Inzwischen befand sich ein kleiner, V-förmiger Einschnitt auf dem Tresen, umgeben von einem dunklen Fleck. Nach diesem Zwischenfall wurde Richards von den Bewohnern des Viertels in Ruhe gelassen, vor allen Dingen deshalb, weil er, nachdem er das Küchenmesser und die Hand des Widerlings aus dem Tresen gezogen hatte, nicht die Polizei gerufen hatte.
Kea arbeitete von vier Uhr nachmittags bis zu der nicht genau festgelegten Zeit, zu der die Bude dichtgemacht wurde - und das war immer dann, wenn der letzte Betrunkene hinausgewankt war und keine weiteren mehr hereinwankten. Die meiste Zeit über war die Kneipe ziemlich leer, und Kea konnte seinem Studium nachgehen. Aber nicht an diesem Abend. Es war sehr voll, immer wieder strömten hungrige und teilweise sogar nüchterne Kunden herein. Ungefähr um neun Uhr fielen zehn Sturzbetrunkene ein. Es war eine ganz normale Nacht. Dann tauchte auch noch Austin Bargeta auf.
Kea, der gerade ein belegtes Brot mit Ei, Käse und Schinken für einen der Trunkenbolde zubereitete, sah ihn nicht sofort. Doch er erkannte Bargetas ziemlich auffällige Stimme, als er nach der Karte rief. Kea hatte sie schon einige Male zuvor gehört.
Er und Bargeta quälten sich gemeinsam durch
"Partikeltheorie und ihre konkrete Anwendung im Yukawa-Antrieb".
Die Bargetas waren superreich. Die Familie war vor vier Generationen gegründet worden, als ein brillanter Designer seine ersten Billionen machte, indem er unter anderem eines der ersten tragbaren astrographischen Instrumente baute. Dann hatte er die Tochter eines der einflußreichsten japanischen Yakuza-Bankiers geheiratet und mit ihr die neue Dynastie gegründet. Inzwischen gehörte die Familie schon zum alten Geldadel. Der Großteil ihres Vermögens steckte in Holding-Gesellschaften, der Rest im interplanetarischen Bau-und
Transportwesen. Jede Generation der Bargeta wurde vor die Wahl gestellt: ein Kind konnte entweder Familienoberhaupt oder Kartellbaby werden. Das Familienoberhaupt mußte sich durch die Führung der mit vielen Risiken behafteten Bau-und
Transportabteilung bewähren, während die Bankiers sich hinter den Kulissen um alle anderen Bereiche der beinahe von selbst laufenden Geldmaschine kümmerten. Dem Auserwählten winkten Wohlstand und Macht jenseits jeglicher Vorstellungskraft.
Nach allem, was Kea so gehört hatte, war Austin Bargeta im Rennen um die Thronfolge. Das Problem bestand in der Frage, wie lange ihn der Familienname noch davor bewahren würde, als mißratener Thronfolger in die Dunkelheit verstoßen zu werden.
"Austin."
Bargeta mußte dreimal blinzeln, bis er Richards erkannte. Was weniger daran lag, daß er ein Snob war, wie Kea klar wurde, sondern daß er kaum nüchterner als die zehn Betrunkenen hinter ihm war.
"Ach du bist's, Richards", sagte Bargeta. "Du hockst doch in einem meiner Kurse. Was treibst du denn hier?"
"Einige von uns müssen arbeiten", erwiderte Kea.
"Du hast doch schon mal was von Arbeit gehört, oder? Das, was die meisten Leute so tun. Für Geld, du weißt schon."
"Wie? Ach so, tut mir leid. Wollte dich nicht...
und so weiter ... wollte nicht auftreten wie ... wie ein Elendstourist, du verstehst mich doch."
"Schon gut, Austin. Aber ich muß dir noch etwas auf den Zahn fühlen. Das hier ist eindeutig nicht deine Gegend."
"Warum nicht?" Bargeta blickte sich um und schien doch nichts wahrzunehmen, weder die vollgekritzelten Wände noch die verdreckte Decke noch das Publikum der Kneipe. "Sieht doch ziemlich
... du weißt schon, authentisch aus."
"Das ist es, allerdings. Na schön." Kea zuckte die Achseln. Dann wollen wir den Jungen mal füttern und anschließend wieder hinausbugsieren. In Keas Augen war Austin ein verwöhnter Junge, auch wenn er ein Jahr älter und eine Klasse über ihm war.
"Möchtest du was essen?"
Bargeta konzentrierte sich auf die Speisekarte. Er war noch immer am Lesen, als einer der
Betrunkenen losgrölte. "He, Süßer, wenn du deinem Schätzchen genug in die Ohren gesäuselt hast, würde ich gern was zu Fressen bestellen!" Kea ignorierte die Pöbelei. Bargeta nicht. Er wirbelte von seinem Hocker am Tresen herunter; sein Gesicht lief rot an, als wäre er in einem Vid. >Na prima<, dachte Kea.
"Gehe ich recht in der Annahme", sagte Austin für alle klar verständlich, "daß du deine Mutter Hämorrhoide nennst, weil sie so ein verdammtes Arschloch ist? Oder täusche ich mich da?"
Der Betrunkene kämpfte sich auf die Beine.
Während Kea sich unauffällig in Richtung Kasse schob, fiel ihm auf, daß der Mann Samoaner war. Es gab nicht allzuviele Menschen, die in Pasadena herumliefen und zwei Meter auf zwei Meter maßen.
Kea wußte auch, daß die Kultur der Samoaner maternalistisch war und daß Bargeta, um es kurz zu sagen, platt gemacht werden würde. Bargeta stellte sich wie die Karikatur eines Kampfsportlers auf, und dann walzte der Samoaner auf ihn zu.
Kea nahm eine Rolle Viertelcreditmünzen aus der Kasse. Bargeta erwischte den Samoaner mit einem Handkantenschlag. Der Mann grunzte, zeigte aber keinerlei weitere Reaktion. Dann holte er aus. Der Hieb traf Austin nur an der Schulter und ließ ihn über die Theke segeln. Kea schob Bargeta die Münzrolle in die Hand. Austins Finger legten sich um die Rolle, gaben an sein Hirn weiter, was sie da umschlossen hielten, dann kam er wieder hoch und hatte jede Doo-Woo-Dingsbums-Selbstverteidigungstechnik vergessen. Er schlug ziemlich wüst und fest entschlossen zu.
Der Samoaner machte sich nicht einmal die Mühe, dem Schlag auszuweichen. Austins Hieb traf ihn seitlich am Kiefer, und Richards hörte Knochen brechen und Knorpel knacken. Blut spritzte hervor, der Samoaner schrie vor Schmerzen und ließ sich auf den Hintern fallen. Sein Kiefer hing schief und merkwürdig locker herab. Seine Freunde waren aufgesprungen - und Kea hatte das Hackbeil in der Hand und den Code für die Polizei gedrückt, bevor sie auf Bargeta losgehen konnten. Unter diesen Umständen war es absolut in Ordnung, wenn man die Bullen rief, schließlich gehörte keiner der Betrunkenen zum Viertel.
Als die Aufruhrbekämpfung eintraf, hatte Kea die Münzrolle Bargetas Fingern unauffällig entwunden und wieder in der Kassenschublade verschwinden lassen. Sie schoben den Samoaner mit dem zerschlagenen Gesicht in einen Wagen und rieten seinen Freunden, sich schleunigst von hier zu verziehen. Dann widmeten sie sich Austin. Wieder erklärte Kea aus einem Impuls heraus, daß er sich um ihn kümmern würde. Er rief ein Taxi, vergewisserte sich, daß Bargeta genug Geld für die Heimfahrt bei sich hatte, und machte die Küche dicht. Der Gedanke, daß er wohl nie einen guten Machiavellianer abgeben würde, schoß ihm durch den Kopf.
Drei Tage später, bei der nächsten Veranstaltung von Partikellangeweile etc., überprüfte Kea die Ergebnisse eines besonders fiesen Tests, den sie in der letzten Stunde geschrieben hatten. Was dem Kurs an interessantem Stoff fehlte, machte die Lehrkraft an Strenge wieder wett. Zweitbester.
>Nicht schlecht< dachte Kea. Er hätte noch besser sein können, doch in der Nacht zuvor war er mit einer der Bedienungen nach Hause gegangen, die ihm unbedingt ihre neue Wohnung und andere womöglich interessante Dinge zeigen wollte, und war daher mit mehr als nur einem kleinen Kater angetreten. Austins Stimme schnarrte hinter seinem Rücken: "Ach, Mist. Dabei habe ich für diesen Test extra gelernt." Kea entdeckte Bargetas Namen weit unten. Wie gehabt.
Kea drehte sich um. Bargeta schielte nach links und rechts. Niemand sonst hielt sich in der Nähe des Schwarzen Bretts auf. "Weißt du", sagte Bargeta mit gesenkter Stimme, "so betrunken war ich gar nicht.
Und ich vergesse nie etwas. Sieht ganz so aus, als hättest du mich davor bewahrt, an einer eurer Kneipenwände zerquetscht zu werden."
Kea grinste. Wenn man von dieser Stimme und seiner "Gutsherrenart" absah, war Bargeta nicht einmal so unsympathisch. "Du warst nicht in Gefahr.
So ein sauberer Bursche wie du ... den hättest du doch glatt platt gemacht. Vielleicht wäre aber auch ein Blitz aus heiterem Himmel durchs Dach gekommen - denn bestimmt hätte sich Vishnu eingemischt, um deinen Arsch zu retten."
"War der Kerl wirklich so groß?"
"Noch größer."
Austin lachte. "Wie gesagt, du hast was bei mir gut. Wenn, besser gesagt falls dieser Kurs jemals zu Ende geht, würde ich dir gern einen Humpen oder zwei ausgeben. Was nicht heißen soll, daß ich das bin, wessen mich dieser Schienenbus beschuldigt hat. Es sei denn", sagte er mit gespieltem Erschrecken, das sich in echte Sorge verwandelte, als ihm schlagartig klar wurde, daß er Kea unbeabsichtigt beleidigt haben könnte, "du bist ein
... ein ... Nicht, daß ich etwas dagegen hätte, falls du einer von denen bist, die, äh, ich meine, du weißt schon ... nicht soviel von Frauen halten."
Kea schüttelte den Kopf. "Keinesfalls. Ich bin ein ganz normal gepolter, gieriger Schluckspecht."
"Gut. Sehr schön. Dabei kommt mir der Gedanke, daß wir uns vielleicht über ein paar andere Sachen unterhalten könnten. Über einige andere Schwierigkeiten, in die ich gestolpert bin. Vielleicht kannst du mir auch da ein paar nützliche Tips geben."
Nach einigen Bieren kam Austin mit seinem Vorschlag heraus. Er gab freimütig zu, daß er nicht gerade zu den großen Leuchten von Cal Tech gehörte. Bei seinem Notendurchschnitt würde er das Institut garantiert nicht mehr lange besuchen können, was einige Leute nicht sehr erfreuen würde.
Mit einige Leute meinte er, da war sich Kea ziemlich sicher, die Entscheidungsträger der Familie Bargeta. Austin wollte Kea als Tutor engagieren.
Richards wollte schon ablehnen, doch plötzlich hatte er so etwas wie einen Moment der Erkenntnis. >Da will dir jemand einen Vorteil verschaffen,< dachte er. >Genau wie damals die zerbrochene Vase. Genau wie die Münzrolle, die du diesem Jungen in die Hand gedrückt hast. Das darfst du nicht ablehnen.< Er nahm an.
Der Nachhilfeunterricht erwies sich als nicht besonders schwierig. Austin war ein gelehriger Schüler. Natürlich rann das, was Kea ihm in das eine Ohr hineinstopfte, innerhalb einer Woche aus dem anderen wieder heraus, aber was spielte das schon für eine Rolle? Keiner der Professoren schien sich für etwas anderes zu interessieren, als daß die Studenten das herrliche, vor ihnen ausgebreitete Wissen wiederkäuten. Außerdem sah es nicht danach aus, als würde Austin jemals etwas von dem Wissen, das er sich angeblich erworben hatte, auch tatsächlich anwenden müssen. In diesem Punkt begeisterte sich Kea dafür, wie schlau er Bar-eta wirklich machen konnte, wenn er sämtliche Möglichkeiten ausschöpfte - so wie er damals alles versucht hatte, um von Kahanamoku City
wegzukommen. Die Antwort lautete: sehr schlau.
Denn Richards entdeckte, daß auch die Universität ihre eigene Unterwelt hatte, die ebenso funktionierte wie die auf Maui. Examen konnten gekauft werden.
Lehrkräfte konnten bestochen werden, damit sie Hausarbeiten verfaßten oder die bloße Anwesenheit honorierten. In manchen Fällen, wenn der Lehrer ein ausgesprochener Scharlatan war, ging es sogar so weit, daß Noten abgeändert wurden. Am Ende des Semesters hatte sich Austins Notendurchschnitt merklich verbessert. "Und das alles nur", wunderte sich Austin, "weil du mir gezeigt hast, wie man sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentriert."
Noch bevor das nächste Semester anfing, fragte Austin Kea, ob er bei ihm einziehen wolle. Richards packte die Gelegenheit beim Schöpf. Es war nicht so, daß sie einander auf den Füßen gestanden hätten, schließlich besaß Bargeta ein ganzes Haus, das frei auf einem eigenen Grundstück stand. Sechs Zimmer, eine Haushaltshilfe, ein Koch und ein Hausmeister, der sich um alle anderen Kleinigkeiten kümmerte.
Austin stellte seinen neuen Freund seinen alten Freunden vor. Der hochgewachsene und
ungeschliffene Kea mit der seltsamen, exotischen Herkunft erschien dem Kreis um Bargeta zunächst wie ein Wunderknabe. Man ging davon aus, daß Austin ihn, wie alle seine bisherigen Freunde, egal ob männlich oder weiblich, früher oder später fallenlassen würde. Aber Kea war eine Ausnahme.
Und allmählich akzeptierten sie ihn bei ihren Zusammenkünften.
Kea studierte die reichen jungen Leute und ihre Eigenarten sorgfältig. Er lernte alles, was ihm die Oberschicht beibringen konnte. Es war faszinierend.
Die Regeln entsprachen bis ins Detail denjenigen, die auch die Triaden auf Maui ihren Mitgliedern abverlangten. Und die Strafen für einen Fehltritt kamen ihm ebenso grausam vor, auch wenn sie körperlich nicht so drastisch ausfielen. Manchmal hatte er den Eindruck, als sähe er Austin Bargeta so, wie er wirklich war: ein oberflächlicher, bei flüchtigem Hinsehen charmanter Benutzer, der Kea wie eine Marionette dirigierte. Und er erkannte, daß die Familie Bargeta, auch wenn er nur ein Mitglied persönlich kennengelernt hatte, Teil einer großen Verschwörung war, die den Status quo
aufrechterhalten wollte; einen Status quo, der die Menschheit davon abhielt, ihre wahre Bestimmung zu finden.
Natürlich förderte das zugleich eine Frage aus seinem tiefsten Inneren zutage: Welche
Bestimmung, Kea? Er konnte sie nicht beantworten, er spürte lediglich, daß die Menschheit sich selbst von einem großen Ziel abhielt, einem Ziel, das draußen zwischen den Sternen lag, einem Ziel, das sie mit anderen Lebewesen teilte, die ebenso intelligent oder intelligenter als die Menschen waren.
Die Raumfahrt gab es jetzt schon mehr als 200
Jahre, und was hatte man bisher erreicht? Das Sonnensystem war erforscht und einige Welten waren einem Terraforming-Prozeß unterzogen worden. Ungefähr 50 Longliners hatten sich auf die Reise ins Unbekannte gemacht, und diejenigen, die sich noch einmal gemeldet hatten, berichteten von einer grenzenlosen Leere dort draußen, und vom Grauen und der Degeneration auf den Schiffen.
Einige wenige fremde Sonnensysteme waren von den unglaublich teuren Sternenschiffen besucht worden. Eine einzige außerirdische Rasse hatte man dabei entdeckt. >Was für eine Leistung<, dachte er hämisch.
Austins letztes und Keas vorletztes Semester verliefen ebenfalls problemlos. Bargeta machte seinen Abschluß. Nicht mit Auszeichnung - das hätte keine noch so hohe Bestechung zuwege gebracht-, aber bequem im oberen Drittel seines Jahrgangs. Kea war Bester seines Semesters. Er wußte, daß er im nächsten Jahr der beste Absolvent des gesamten Instituts sein würde. Mit diesem Abschluß dürfte er keine Schwierigkeiten haben, eine geeignete Anstellung zu finden. Vielleicht bei Bargeta Shipping. Vielleicht woanders. Schon bald, womöglich schon in drei oder vier Jahren, würde Kea ins All reisen. Die Zukunft sah rosig aus. An diesem langen, durchfeierten Wochenende, das Bargeta nach seinem Diplom veranstaltete und an dem er die Katze aus dem Sack ließ, wurde sie sogar blendend. Er wußte, daß er Kea viel verdankte, und er wollte, daß auch alle anderen es erfuhren, besonders seine Familie. Er wollte, daß Kea diesen Sommer bei ihm als Gast verlebte - oder zumindest einen Teil des Sommers, denn dieser Sommer würde doppelt so lange dauern wie alle anderen, die Kea jemals erlebt habe. Kea müsse noch einige kleine Korrekturen an seinen Plänen vornehmen; er könne sein letztes Jahr am Cal Tech nicht vor dem ersten Semester "85 beginnen.
Austins Grinsen wurde breiter, als er sah, wie Kea bei den Vorschlägen hinsichtlich seines zukünftigen Lebens die Stirn kraus zog. Dann erklärte er ihm alles. Der Grund für Keas verspätete Rückkehr zur Schule lag an der Fahrtzeit. Im kommenden September würde er sich nämlich noch immer im Feriendomizil der Familie Bargeta aufhalten. In Yarmouth, in der Nähe der Ophir-Schlucht, die heute ein Süßwasserozean ist.
Auf dem Mars.
Während Austin ihn angrinste, kam sich Kea plötzlich wie schwerelos an Bord eines der frühen Raketenraumschiffe vor. Die Schule konnte warten.
Seine Karriere konnte warten. Der Weltraum ... Es war der Anfang vom Ende.
Mars, A.D. 2184
Sie hieß Tamara. Sie war siebzehn. Groß.
Dunkelhaarig. Ein schlanker, kurvenreicher Körper.
Kecke Brüste. Augen, die herausforderten, Augen, die Kea verrieten, daß keine Aufforderung verboten war - solange er den Mut hatte, ihr auch zu folgen.
Und sie war Austins Schwester.
Sie sah ihm nur vage ähnlich. Sie war perfekt.
Vielleicht bemerkte Kea, daß die wenigen Kleinigkeiten, die Gott Tamara vorenthalten hatte, von den besten kosmetischen Chirurgen
nachgereicht worden waren. Aber selbst wenn - es hätte ihn wahrscheinlich wenig gekümmert. Es lag wohl daran, daß Kea von so vielen Dingen wie betäubt war, daß er sie erst nach einer gewissen Zeit wahrnahm.
Seine Hirntrunkenheit hatte in dem Moment eingesetzt, als das Schiff abhob. Eine
Vergnügungsreise zum Mars war nach wie vor nur wenigen reichen Leuten vorbehalten; die Fahrt kostete in etwa soviel wie die allerbeste Luxuskabine auf einem Luxuskreuzfahrtschiff auf der Erde zur Zeit der Cunards. Die Suite, die er sich mit Austin und einem völlig mit Berichten überladenen Faktotum der Familie teilte, war die größte auf diesem Transporter. Sie maß vier auf sieben Meter. Austin erzählte Kea, daß das immer der schlimmste Teil der Reise sei - und daß er sich wie in einer Mausefalle fühle.
Kea fiel es nicht einmal auf. Zum einen war die Suite nicht viel kleiner als die Wohnung, in der er und Leong Suk lange Jahre gelebt hatten. Zum anderen besaß die Suite ein "Bullauge" - eigentlich einen Vid-Bildschirm, der mit Aufnahmegeräten an mehreren Stellen der Außenhülle des Raumschiffs in Verbindung stand. Auf den Bildern, die die Frontkamera lieferte, wurde der Mars immer größer.
Als sich das Raumschiff dem Planeten des Kriegsgottes näherte, konnte Kea die ersten Details erkennen. Valles Marineris. Tharsis. Olympus Mons.
Alles gewaltig und spektakulär. Aber was Kea am meisten faszinierte, waren die von Menschenhand geschaffenen Gebilde. Nicht nur der Dunst der neuen Marsatmosphäre, die Meere und Seen, die funkelnden Lichter der neuen Städte, sondern die Wunder außerhalb des Planeten, von denen man einigen erlaubt hatte, zur Erinnerung und als Mahnmale bestehenzubleiben. Eine Raumstation.
Die Erste Basis auf Deimos. Einer der großen Spiegel, mit deren Hilfe man die Eiskappen geschmolzen hatte und der im geosynchronen Orbit über dem Nordpol hing.
Ihm wurde klar, daß zumindest dieser Spiegel kein freiwillig zurückgelassenes Monument war. Er war das zentrale Stück eines Schrotthaufens. Kea schmeichelte sich bis auf die Brücke zu den Piloten vor, lernte, wie man die Aufnahmekontrollen bediente, und untersuchte den Schrott, der um den Planeten kreiste. Die Gründe dafür kannte er selbst nicht. Doch dort schwebten tote Fernraumschiffe, die er aus Büchern, Museen und von Modellen her kannte, die er sich damals als Junge nie hatte leisten können. Ein Longliner, der niemals fertiggestellt und auf die Reise geschickt worden war. Eine Raumstation, ausgebrannt und zerfranst. Kea erinnerte sich, von dieser Katastrophe gelesen zu haben, die sich vor etwa einhundert Jahren ereignet hatte.
Und auf einer Seite, ganz allein, ein winziges Schiff. Noch eins dieser Sternenschiffe. Das zweite, das er jemals gesehen hatte. Er wunderte sich, weshalb er offensichtlich der einzige war, der sie als Mischung aus Triumph und Niederlage betrachtete, als Versprechen und Tragödie zugleich. Als unvollkommen. Als Raumschiffe, denen es verdammt noch mal nur an der richtigen
Energiequelle fehlte ...
Kea kehrte zur Suite zurück und bereitete sich auf die Landung vor. Bargeta Senior, Austins Vater, erwartete sie. Ein furchteinflößender Mann. Kea fragte sich, ob er dem Mann mit den gleichen Gefühlen gegenübergetreten wäre, wenn er nicht gewußt hätte, wieviel Macht er in seinen Händen hielt. Er kam zu dem Schluß, daß es nichts daran geändert hätte. Es lag an Bargetas Gesicht. Harte, taxierende Augen. Die dünnen Lippen eines gestrengen Zuchtmeisters. Und dabei die Gesichtszüge eines Genußmenschen und ein Körper, der nicht durch körperliche Arbeit, sondern nur durch hochbezahlte Trainer so in Form gehalten werden konnte. Es war das gleiche Gesicht, erkannte Kea, das Austin einst tragen würde, sollte man ihn auserwählen, Bargeta abzulösen. In etwa vierzig Jahren.
Mr. Bargeta war sehr freundlich zu Kea. Er erwies sich dem Mann gegenüber, der seinem Jungen aus dieser schwachsinnigen Schule herausgeholfen hatte, in die er da gerutscht war, als sehr dankbar. Er sagte, Austin habe Richards oft in seinen Briefen erwähnt. Kea wußte, daß er log.
Austin setzte sich mit seiner Familie nur dann in Verbindung, wenn er etwas wollte, und dann sehr knapp und direkt; dabei ging es entweder um einen Vorschuß oder um eine Erhöhung der Zahlungen für das nächste Semester.
Der ältere Mann sagte, daß sie vor Keas Rückreise zur Erde miteinander über die Zukunft reden müßten. Über Keas Zukunft. Kea kam sich vor, als wäre er mitten in einem Mafiavid aus dem 20. Jahrhundert, und zwar in der Szene, in der man versuchte, ihn zu einem Mitglied der
Verbrecherfamilie zu machen. Das war
wahrscheinlich nicht nur romantische Dummheit, dachte er, schob den Gedanken jedoch rasch beiseite.
Auf dem Anwesen hielten sich zwischen zehn und fünfzehn Bargetas auf, darunter Cousins und Cousinen und angeheiratete Familienmitglieder. Und das Personal der Familie. Er fragte nach, und man klärte ihn darüber auf, daß man für jeden "Gast"
dreißig Männer oder Frauen beschäftigte. Zu
"besonderen" Anlässen natürlich mehr. Kea fühlte sich daran erinnert, daß die Superreichen sich doch deutlich vom gemeinen Volk unterschieden.
Der Besitz der Bargetas war nur einhundert Meter von der Kante der beinahe senkrecht in die Tiefe stürzenden Klippe entfernt, an deren Fuß sich der neue Ozean befand. Auf dem gleichen Grundstück war damals eine der ersten Blasen errichtet, später von den Bargetas erworben und in einen
Vergnügungsdom umgewandelt worden. Das war es auch geblieben, selbst als die Kunststoffkuppel, für die schon bald keine Verwendung mehr bestanden hatte, abgerissen worden war. Auf dem Gelände standen jetzt mehrere Häuser und Nebengebäude sowie Hallen zum Trinken oder Tennisspielen.
Selbst Kea konnte sich dafür begeistern, was man auf einem Planeten mit niedriger Schwerkraft so alles mit einem Ball anstellen konnte. Hinzu kamen Rasenflächen. Beheizte Schwimmbäder. Erst vor kurzem hatte man am Klippenrand eine Cabana errichtet. Von dort aus führte ein runder, rundum verglaster Fahrstuhl mit einer McLean-Plattform bis hinunter zu einem schwimmenden Dock, das auf dem schäumenden Ozean schaukelte.
Genau dort schwamm Tamara in sein
Bewußtsein. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er mühte sich gerade mit den Segeln und dem Tauwerk eines Trimaran ab, der am Dock festgemacht war.
Kea war zwar auf der Erde schon einige Male gesegelt, aber nur auf Booten mit einem Rumpf. Er versuchte gerade sich vorzustellen, was wohl bei einer scharfen Wende mit dem Boot passieren würde. Vielleicht würde es zu schlingern anfangen; vielleicht würde ein Ausleger abbrechen - dann könnte er versuchen, es wie einen Katamaran zu steuern. Vielleicht würde es aber auch völlig manövrierunfähig werden ... Und dann kam Tamara wie ein Seehund aus dem Wasser aufs Deck geschossen.
Zuerst dachte er, sie hätte überhaupt nichts an; dann sah er, daß die Farbe ihres winzigen, einteiligen Badeanzugs genau auf ihre tief gebräunte Haut abgestimmt war. Nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hatte, fragte er sich, warum sie nicht zitterte. Er selbst trug einen einteiligen Neoprenanzug mit kurzen Armen und Beinen gegen die frische Brise und das kalte Wasser. Dann fiel ihm die Miniheizung auf, die in Höhe der Taille in ihrem Badeanzug versteckt war. Ohne ein Wort zu sagen, kam Tamara auf ihn zugeschlendert. Sie betrachtete Kea interessiert. Kea drehte sich ein wenig zur Seite. Sein Anzug lag sehr eng an, und er wollte sich nicht in eine peinliche Situation bringen.
"Du bist Austins Heiliger Georg." Ihre Stimme klang wie ein Schnurren.
"Stimmt. Meine Karte habe ich leider in der anderen Rüstung vergessen. Drachen retten, Jungfrauen erschlagen, das sind so meine Spezialitäten."
Tamara lachte. "Na ja, hier auf dem Mars gibt es jedenfalls keine Drachen. Du kannst dich also entspannen." Sie stellte sich vor und ließ sich neben ihm nieder, wobei ihre Schulter die seine berührte.
"Sieht so aus, als würde dir die Familie etwas schulden, weil du meinem Bruder geholfen hast", sagte sie.
Kea zuckte die Achseln. "Meiner Meinung nach nicht. Wir sind quitt."
"Kann schon sein. Bleibst du den ganzen Sommer über bei uns?"
"Genau. Der Rückflugtermin auf meinem Ticket wurde offengelassen. Aber Austin meinte, am besten nehmen wir die ... wie heißt sie gleich ... die Copernicus. Sie soll am ... herrje, ich habe mich noch immer nicht darum gekümmert, wie hier die Monate gezählt werden ... Jedenfalls nach Erddatum gemessen, fliegt sie in der ersten Septemberwoche."
Kea erkannte flüchtig, daß er hirnlos
drauflosquasselte.
"Da ist noch lange hin", erwiderte sie. "Wir müssen dafür sorgen, daß du dich nicht langweilst.
Findest du nicht auch?"
"Ich, äh, glaube nicht, daß ... Ich meine, wie kann man sich auf dem Mars langweilen?"
"Das ist nicht die Art von Langeweile, von der ich geredet habe", verkündete Tamara mit Nachdruck. Sie fuhr mit einem Fingernagel an Keas Arm hinunter; er fühlte sich heiß an, wie ein Brandeisen. Sie stand schon wieder. "Der Mondaufgang auf dem Mars ist etwas ganz Besonderes. Am besten sieht man ihn von der Cabana aus. Sie liegt ein wenig von den anderen Gebäuden entfernt, deshalb stört dort kein Licht."
Sie ging zur Kante des Trimaran. "Weit genug entfernt", fuhr sie fort, "um so ungestört zu sein, wie man nur möchte." Sie lächelte, als ob sie an etwas denken oder sich an etwas erinnern würde; dann hechtete sie mit einem Kopfsprung in das sprudelnde, mit CO2 versetzte Wasser. Keas Mund war wie ausgetrocknet.
Die Cabana verfügte über vier Schlafzimmer.
Alle vier waren vpr-bereitet. Vier Männer mit nichtssagendem Gesichtsausdruck standen als Personal zur Verfügung. Sie fragten, ob Kea etwas brauche, ob sie etwas für ihn tun könnten. Sie zeigten ihm, wo man die Getränke kühlte und wo es etwas zu essen gab, und sie wiesen ihn darauf hin, daß er nur das Funkgerät antippen müßte, und innerhalb weniger Minuten wäre jemand bei ihm.
Dann zogen sie sich zurück. Der Hauptraum der Cabana war kreisförmig, mit gläsernen Wänden, die sich auf Knopfdruck abdunkeln ließen. Genau in der Mitte stand ein riesiges, in den Boden eingelassenes Sofa vor einem Kamin; unter der Abzugshaube des Kamins lagen Holzscheite, die bei der Berührung mit einem brennenden Streichholz sofort fauchend aufloderten. Ein offener Kamin? Auf dem Mars?
Das war angesichts des Umweltgesetzes und all der Beglaubigungen und Erlaubnisscheine, die nötig waren, bevor man irgend etwas mit einem Baum anstellen konnte, höchst unwahrscheinlich. Kea fand schnell heraus, daß die Feuerstelle künstlich war.
Nach einigen Augenblicken hatte er die korrekte Einstellung vorgenommen, bei der die Scheite weit heruntergebrannt waren und die kleinen Flammen zuckende Schatten an die Wände warfen. Fehlten nur noch die Drinks.
Und Tamara war da. Sie trug grellgrüne Hosen, dazu ein passendes, ärmelloses Top. Die Hose war bis weit unterhalb ihres Bauchnabels ausgeschnitten, und das Top endete ungefähr an ihrem Rippenbogen.
Ungefähr. Tamara nahm zwei bereits gefüllte Gläser in die Hand; eine mit einem Stück Stoff umhüllte Flasche stand bereits wieder in dem Kübel neben ihr.
"Auf... die Nacht", sagte sie. Sie tranken. Dann füllten sie ihre Gläser erneut und kehrten zu der Couch zurück. Sie unterhielten sich. Kea konnte sich später nie mehr daran erinnern, worüber sie sich eigentlich unterhalten hatten. Jedenfalls erzählte er ihr seine Lebensgeschichte, und Tamara hörte völlig fasziniert zu. Sie saß dicht neben ihm. Dann gingen ihm die Worte aus.
Tamara setzte ihr Glas ab. Irgendwie war es ihnen gelungen, die Flasche mit diesem perlenden Wein restlos zu leeren. Sie streckte eine Hand aus und berührte seine Lippen.
"Weich", murmelte sie. Sie beugte sich näher heran, und ihre Zunge zuckte über Keas Lippen. Er fing an, sie zu küssen - da zog sie sich zurück. Sie stand auf und entfernte sich mit schaukelnden Hüften ein Stück von ihm. An dem Top mußte ein Halter versteckt gewesen sein, denn plötzlich löste es sich. Tamara streifte es über die Schultern, drehte sich um und sah ihn mit ernstem Gesichtsausdruck an.
Sie berührte ihre Körpermitte, und die Hose glitt herunter, verwandelte sich in einen seidenen Teich zu ihren Füßen. Tamara stieg aus dem Teich und streckte sich lang und genüßlich. Kea starrte sie an, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen.
Langsam ging sie in ein abgedunkeltes Zimmer, drehte sich noch einmal um und lächelte. Dann verschwand sie in dem Schlafzimmer. Eine künstliche Kerze verbreitete anheimelndes Licht.
Kea löste sich aus seiner Starre. Jetzt war er bereit, ihr zu folgen.
"Nein", sagte Tamara. "Diesmal... diesmal siehst du einfach nur zu." Sie wickelte ihre Schärpe auf und fing an, sie in bestimmten Abständen zu verknoten. "Beim nächsten Mal... bist du dran." Der Mars wurde ein verschwommener Schatten, ein undeutlicher Fleck. Das Zentrum der Welt war allein Tamaras Körper. Die Nächte waren ein Wirbel aus Bewegung, Ekstase, einem plötzlichen Aufblitzen süßer Qual, die Tage bestanden aus Erforschung und Wagemut. Sie liebten sich überall. Tamaras Leidenschaft schien sich zu steigern, je größer die Gefahr war, daß sie dabei entdeckt oder überrascht wurden. Insbesondere dann, wenn es sich dabei um ein Familienmitglied handeln konnte. Kea kam nicht gerade als Unschuldslamm in Tamaras Bett. Sie lernte auch von ihm.
Sie wollte etwas Neues. Und so zeigte er ihr, anfangs noch widerstrebend, einige der Techniken, die er ein-oder zweimal in den Bordellen von Maui ausprobiert hatte oder von denen er bisher selbst nur gehört hatte.
Sie lernte rasch und praktizierte diese Abseitigkeiten als eifrige Schülerin. Sie kombinierte sie mit anderen Fertigkeiten, mit denen sie bereits vertraut war. Am liebsten mochte sie Sex als in die Länge gezogenen, exotischen Akt mit einem blitzoder schockartigen Höhepunkt aus Schmerzlust. Kea kam sich manchmal vor wie ein Stück Holz, das am Rande eines Mahlstroms kreiste und dann hinuntergezogen wurde bis in sein Zentrum.
Er war in Tamara verliebt. Das konnte eine Katastrophe für ihn bedeuten. Seinen Untergang.
Aber so war es eben. Was die Sache noch schlimmer
- oder vielleicht auch besser - machte, war die Tatsache, daß Tamara ebenso berauscht,
leidenschaftlich und hingerissen zu sein schien wie Kea. Kea erlaubte sich sogar, von einer Zukunft zu träumen; von einer Zukunft, die sich gehörig von der unterschied, die er sich zuvor ausgemalt hatte. Eine Zukunft, die aus zwei Menschen bestand.
Kea staunte. Tamara schien ihm wirklich jeden Wunsch mit größter Begeisterung zu erfüllen. Es war fast so, als wäre er der Herrscher, und nicht...
Seine Gedanken scheuten sich, den Rest zu formulieren. Einmal fuhren sie zu den Werften von Capen City Ihn faszinierte die Ansammlung so vieler unterschiedlicher Schiffstypen. Hier landeten die Raketen auf großen, hochaufragenden Gerüsten statt im Wasser, und Kea konnte sogar unter ihren gewaltigen Hüllen hindurchgehen und erst jetzt richtig begreifen, wie riesig sie waren. Tamara, die sich nicht sonderlich für die Schiffe selbst interessierte - "Aber Schatz, uns gehört die Hälfte davon!" -, bekam ihre Kicks von den Farben, dem Dreck und der lauernden Gefahr. Mehrere Male sagte sie ihm, wie sicher sie sich an seiner Seite fühlte.
Etwas störte Kea. Warum waren die Besatzungen dieser Raumschiffe so nachlässig gekleidet, ganz anders als in den Vids, die sich immer noch hin und wieder mit der Raumfahrt beschäftigten? Warum waren so viele Stellenausschreibungen vor dem örtlichen Heuerbüro angepinnt? Und warum waren diese Nachrichten so verwittert, als hätte man sie schon vor sehr langer Zeit dort aufgehängt und als wäre niemand verzweifelt genug, um darauf zu reagieren?
Tamara und Kea fanden einen Platz in einer überfüllten Kneipe, die sich Cafe nannte, tranken eine schrecklich süße Mixtur, die Tamara beim Barkeeper bestellt hatte, und er versuchte, die Sache zu durchdenken. Abgesehen von den Bodencrews waren alle Leute, die sie getroffen hatten, egal ob Männer oder Frauen, Raumfahrer. Sie begaben sich hinaus ins absolute Vakuum. Weshalb drehten sich dann alle Unterhaltungen, die er belauschte, um Suff oder Drogen und darum, wie voll sie in der Nacht zuvor mal wieder gewesen waren? Oder aber darum, wie schrecklich die Bedingungen an Bord waren und welches das allerletzte Höllenschiff war, auf dem man bloß nicht anheuern sollte. Sie redeten nicht wie Wissenschaftler oder Ingenieure, sondern ihre mit schwerer Zunge heruntergeleierten Monologe oder plötzlichen Wutausbrüche enthüllten arme, verzweifelte Menschen. Es hörte sich an wie im Säuferheim. Warum waren die Augen dieser mutigen Raumpioniere so stumpf? So tot?
Hier hörte er zum ersten Mal den Begriff Schleuse 33, ein Ausdruck, der immer so benutzt wurde, als handele es sich dabei um das Tor zum Hades. Er fragte nach und erfuhr, daß es sich dabei um die Standardabschottung zwischen den Bereichen Maschinen/Mannschaften und
Fracht/Passagiere handelte. Etwas war da faul. Sehr faul. Aber er wußte nicht, was. Er trank aus und nahm Tamaras Hand. Sie starrte wie verzaubert eine Frau am anderen Ende des Tresens an, deren speckiger, tief ausgeschnittener Schiffsanzug sehr viel Haut sehen ließ - und diese Haut war über und über mit Tätowierungen bedeckt. Die Frau schien ebenso interessiert an Tamara Bargeta zu sein.
Tamara zog mißmutig die Stirn kraus, als Kea sagte, er wolle gehen, doch sie widersprach nicht.
Als sie die Kneipe verließen, schenkte sie der tätowierten Frau ein breites Lächeln, ein Lächeln, an das sich Kea nur zu gut aus anderen, intimen Situationen erinnerte. In dieser Nacht schlief er allein. Er wollte Tamara nicht mit seinen finsteren Gedanken verstören, die sich noch immer mit dem beschäftigten, was er da gesehen hatte. Er versuchte zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte. Am nächsten Tag fegte sie alle seine Entschuldigungen mit einem Lachen beiseite. Sie war am Abend noch einmal nach Capen City geflogen, um ein paar "alte Freunde" zu besuchen.
Das Ende kam eine Woche später im hellen Sonnenlicht, an Deck des Trimaran, auf dem alles begonnen hatte. Kea hatte den ganzen Morgen damit verbracht, sich auf diesen Moment vorzubereiten, sich die richtigen Worte zurechtzulegen. Dann war es soweit. Er hoffte inständig, daß er sich auf diese Herzensangelegenheit so vorbereitet hatte, als wäre es die wichtigste Prüfung, die er jemals ablegen würde. Und als genau das stellte sie sich heraus.
Tamara hörte seinem Gestammel, das recht bald flüssiger wurde, schweigend zu. Dann war er fertig.
Kea wartete auf eine Antwort. Er erhielt sie in Form eines Kicherns, das schnell zu lautem Gelächter wurde. "Kea", sagte sie, nachdem sie sich vor Lachen ausgeschüttet hatte. "Sage mir bitte, ob ich völlig danebenliege. Du findest, wir sollten ...
Zusammensein? Wenn dieser Sommer vorüber ist?
Sogar dort, auf der Erde?" Kea spürte, wie sein Innerstes Purzelbäume schlug, als hätte er gerade einen A-Grav-Schacht betreten, in dem die McLean-Generatoren ausgefallen waren. Er nickte.
"Zusammenleben? Oder... oder meinst du mit einem Vertrag? Kea, mein Schatz, du hörst dich an wie ein Oldie, der etwas von heiraten faselt! Ach, mein Lieber, das ist wirklich köstlich. Du? Mich?
Oje, oje!" Sie wollte sich schon wieder ausschütten vor Lachen. Kea stand auf, ging wie betäubt über das Deck und stieg in den Fahrstuhl, der ihn hinauf zum Rand der Klippe brachte.
Kurz darauf fand er sich im großen Haus wieder.
Es war dunkel. Kea hatte weder gegessen noch sein Zimmer aufgesucht. Er hatte versucht, für alle diese Bargetas unsichtbar zu sein. Ein Dienerpaar fragte, ob er etwas brauche. Kea schüttelte den Kopf. Er sah, wie die Augen der Frau sanft wurden. Sie wollte etwas sagen, legte jedoch nur die Hand auf seinen Arm. Dann machte sie ein erschrockenes Gesicht und lief eilig davon.
Er wußte nicht, was er jetzt tun sollte. Wie konnte er Tamara für den Rest des Sommers aus dem Weg gehen, eines Sommers, der sich direkt vom Paradies in ein Fegefeuer verwandelt hatte ? Er konnte nicht einfach abreisen. Austin war sein Freund. Alles, wonach ihn verlangte, war ein Versteck, wo er sich verkriechen konnte, um die tiefe Wunde zu lecken, die Tamara ihm gerissen hatte.
Er hörte ein Lachen. Austin. "Ach du Schreck", sagte er mit seiner markanten Stimme. "Hat er das ernst gemeint?"
"Wenn nicht, dann ist er der größte Spaßvogel auf dem ganzen Mars." Tamara.
"Ich vermute, es kam nicht ganz unerwartet", sagte jemand mit nachdenklicher Stimme. Bargeta Senior.
"Tut mir leid, Vater", sagte Tamara. "Aber ich dachte -"
"Du mußt dich dafür nicht entschuldigen", unterbrach sie ihr Vater. "Es geht mich nichts an, ob dir dieser einfache Bursche gefallen hat oder nicht.
Oder wie du dich kratzt, wenn es dich juckt.
Es wäre wohl höchst heuchlerisch, wenn ich von meiner Tochter verlangte, in Abgeschiedenheit von der Welt zu leben, wo doch jeder weiß, daß die Familie seit jeher eine gewisse Vorliebe für die ...
rauhere Seite des Lebens gehabt hat, was?"
Jetzt lachten alle drei. Gelöstes Familiengelächter nach der nebensächlichen Erwähnung eines kleinen offenen Geheimnisses.
"Dann ist es also mein Fehler." Austin.
"Eigentlich nicht", erläuterte sein Vater. "Du bist lediglich an eine Lektion erinnert worden, die deinem Bewußtsein vielleicht schon entfallen war, als du den jungen Mann für seine Unterstützung damit belohnt hast, daß du ihm Zugang zu deinem Leben gewährt hast. Aber es ist keine neue Lektion.
Erinnere dich daran, wie schlimm es für dich war, als du erfahren hast, daß deine Kindermädchen keine Bargetas waren und auf eine ganz bestimmte Art behandelt werden mußten. Denk an die Kinder, die wir unseren Dienern erlaubten, damit ihr Spielkameraden hattet, und wie du geweint hast, als die Zeit gekommen war, sie wegzuschicken. Mach dir keine Vorwürfe, Austin. Wir müssen diese Lektion immer wieder von neuem lernen."
"Und was tun wir jetzt?" Tamara. "Ich meine, ich kann mir gut vorstellen, wie öde es wird, wenn wir Kea bis zum Ende des Sommers wie einen
mondsüchtigen Bauernburschen hier
herumschmollen lassen."
"Keine Sorge", sagte Bargeta Senior. "Vielleicht verschwindet er einfach. Oder er springt in eine Schlucht. Oder er segelt in den Sonnenuntergang davon. Mondsüchtige Einfaltspinsel tun oft derlei Dinge."
Das Klingen von Gläsern. Jemand goß ein Getränk ein. Dann Austins Stimme: "Eigentlich ist diese ganze Geschichte, wenn man nicht näher darüber nachdenkt, ziemlich lustig, Vater. Findest du nicht?"
Tamaras Gekicher. Ein leises Lachen von Bargeta. Dann lachten alle drei laut los. Herzhaftes, unbeschwertes Lachen. Kea hörte nichts mehr davon. Ihre Heiterkeit verschwand aus seinem Bewußtsein. Ebenso wie die Bargetas und Yarmouth selbst. Das einzige, was ihm in diesem ganzen Universum noch blieb, war ein vergilbter, halbzerrissener Aufruf mit der Aufschrift STELLEN
FREI an der Wand eines Anmusterungsbüros für Raumschiffsbesatzungen.