56
Während das Boot über das dunkle Wasser des Hudson glitt, zog Snow sich unter Deck den Taucheranzug an und spürte, wie die beiden kräftigen Dieselmotoren den Rumpf erzittern ließen. Das Innere des Bootes war derart mit Navigationsinstrumenten, Sonar und Radargeräten vollgestopft, daß es kaum genügend Platz zum Stehen gab. Der Anzug, den Commander Rachlin ihm in die Hand gedrückt hatte, war keiner der bei den Polizeitauchern üblichen, überall abgedichteten Trockentaucheranzügen, sondern bestand aus Neopren, so daß er sich mit Wasser vollsaugen würde. Angesichts dieser Tatsache bereute es Snow, daß er den Vorschlag gemacht hatte, durch das Klowerk ins Kanalsystem hineinzuschwimmen. Zu spät, dachte er, während er sich in den Anzug zwängte. Das Boot schaukelte so stark, so daß er mit dem Kopf schmerzhaft gegen ein Schott stieß.
Snow rieb sich die Stirn mit der Hand. Es tat weh, und das bedeutete, daß er nicht träumte. Er befand sich wirklich in einem Boot voller bis an die Zähne bewaffneter Navy SEALs, die irgendeine geheime Mission in den Abwässerkanälen von New York zu erledigen hatten. Eine Mischung aus Angst und Aufregung machte sich in ihm breit Er wußte, daß diese Unternehmung vielleicht seine einzige Chance war, sich in den Augen des Sergeants und seiner Kollegen wieder zu rehabilitieren. Er würde dafür sorgen, daß er sie nicht verspielte. Snow setzte seine Taucherbrllle auf und überprüfte ihren Sitz, zog sich die Handschuhe an und ging nach oben an Deck. »Wieso haben Sie so lange gebraucht?« schnauzte ihn Commander Rachlin an. »Und wo ist Ihre Schminke, Mann?«
»Die Ausrüstung ist ein wenig anders als gewohnt, Sir«, erwiderte Snow.
»Dann gewöhnen Sie sich gefälligst daran.«
»Ja, Sir.«
»Donovan, schwärzen Sie Snows Gesicht«, befahl Rachlin.
Donovan kam wortlos herüber und begann, Snows Wangen und Stirn mit dicker schwarz-grüner Schminke einzuschmieren.
Rachlin holte die restlichen Männer zusammen, um ihnen letzte Anweisungen zu geben. »Hört zu, Leute«, sagte er und deutete auf eine seiner wasserfesten Karten. »Wir werden über das Absetzbecken in das Kanalsystem einsteigen. Laut Snow ist das der kürzeste Weg.« Der Commander fuhr mit dem Finger auf der Karte entlang. »Wenn wir erst mal hier sind« – er zeigte auf einen bestimmten, blau markierten Punkt –, »dann folgen wir unserer ursprünglich geplanten Route bis zu dieser Kreuzung der beiden Kanäle hier. Das wird unser Sammelpunkt. Wenn wir den erreicht haben, übernehmen die Teams Alpha, Beta und Gamma die ihnen zugewiesenen Seitenkanäle. Ich führe Alpha und habe die Leitung. Snow und Donovan bilden Team Delta. Sie bleiben am Sammelpunkt und geben uns Rückendeckung. Noch Fragen?«
Snow hatte einige Fragen, aber er traute sich nicht, sie zu stellen. Sein Gesicht brannte von Donovans ruppiger Schminkaktion, und das Zeug, das er ihm millimeterdick auf die Haut gekleistert hatte, roch wie ranziger Rindertalg.
Der Commander nickte. »Wir gehen rein, legen die Ladungen und verschwinden wieder. Ganz einfach und ohne Komplika tionen, so, wie wir es im Training gelernt haben. Mit den Sprengungen verschließen wir die unteren Verbindungen des großen Tunnelsystems zum Sammelkanal, während ein anderes Team, das von der Oberfläche her kommt, die oberen Zuläufe in die Luft jagt. Müssen echte Profis sein, nach allem, was ich gehört habe. Die haben uns doch glatt geraten, NSGs zu verwenden. Ist denn das zu glauben?«
»Was sind denn NSGs?« fragte Snow automatisch.
»Nachtsichtgeräte, Kleiner. Aber versuchen Sie mal, so was unter der Taucherbrille zu tragen.« Er spuckte über die Bordwand ins Wasser. »Wir SEALs haben keine Angst vor der Dunkelheit. Und wer uns was anhaben will, dem wünsche ich viel Vergnügen dabei.«
Commander Rachlin stand auf. »Okay. Hastings, Clapton und Beecham, ihr seid die Waffenträger eurer Teams. Lorenzo, Campion und Donovan, ihr nehmt den Sprengstoff. Wir haben für jede Sprengung eine Ersatzladung dabei, es wird also ganz schön was zum Schleppen geben. Und jetzt macht euch fertig!«
Snow sah zu, wie die Männer ihre Waffen schulterten. »Und was ist mit mir?« fragte er.
Rachlin drehte sich zu ihm um. »Keine Ahnung. Was soll denn mit Ihnen sein?«
»Ich möchte auch für was gut sein.«
Rachlin sah ihn eine Weile an, dann zuckte ein rasches Lächeln über sein Gesicht »Okay«, sagte er. »Sie können den Knaller machen.«
»Was ist der Knaller?«
»Der Knaller ist ein echter Knaller«, erwiderte der Commander kryptisch. »Beecham! Werfen Sie mal den Sack für den Knaller rüber!« Rachlin fing den wasserdichten Seesack auf und hängte ihn Snow um den Hals.
»Den behalten Sie immer am Mann, verstanden?«
»Ja, Sir. Aber bekomme ich denn keine Waffe?« fragte Snow.
»Gebt dem Mann eine Waffe«, sagte Rachlin. Jemand drückte ihm eine Harpune in die Hand, die sich Snow rasch über die Schulter hängte. Er glaubte, ein leises Kichern zu hören, tat aber so, als habe er es nicht bemerkt. Als Tauchlehrer hatte er es schon oft mit Harpunen zu tun gehabt, aber noch nie mit einer so langen oder so gefährlich aussehenden wie dieser, deren Speer dicke Sprengstoffkapseln an der Spitze aufwies.
»Schießen Sie damit bloß nicht auf Alligatoren«, frotzelte Donovan. Die sind nämlich vom Aussterben bedroht.« Es war das erstemal, daß der Mann in Snows Gegenwart überhaupt etwas von sich gab.
Das Tuckern der Diesel wurde langsamer, und das Boot glitt auf einen Landungssteg aus Beton zu, hinter dem die dunkle Silhouette des Klärwerks in den Nachthimmel ragte. Als Snow den großen Betonbau sah, rutschte ihm das Herz in die Hose.
Seit seiner Inbetriebnahme vor fast fünf Jahren hatte das vollautomatische, hochmoderne Klärwerk hauptsächlich durch eine nicht abreißende Serie von Pannen auf sich aufmerksam gemacht. Snow hoffte inständig, daß sein Vorschlag, durch das Absetzbecken ins Abwassersystem zu gelangen, auch wirklich durchführbar war. »Sollten wir den Leuten da drin nicht Bescheid sagen, daß wir kommen?« fragte Snow.
Rachlin sah ihn amüsiert an. »Das ist längst passiert, Kleiner. Ich habe das erledigt, während Sie sich umgezogen haben. Wir werden erwartet.«
Eine Jakobsleiter wurde über die Bordwand geworfen, und die Männer kletterten rasch hinunter auf den Anlegesteg. Snow sah sich um. Weil er die Anlage während seiner Ausbildung besichtigt hatte, wußte er, daß der Kontrollraum nicht weit vom Anleger entfernt war. Von den anderen gefolgt stieg Snow eine Treppe hinauf und ging an einer langen Reihe von Klär und Regenerierungsbecken vorbei, über denen wie giftiger Nebel der Gestank von Methangas und Fäulnis hing. Am anderen Ende der Becken blieb Snow vor einer knallgelben Metalltür stehen, deren Farbe einen starken Kontrast zum faden Grau der Betonwände darstellte. Auf der Tür stand mit roten Buchstaben: TÜR NICHT ÖFFNEN. ALARMGESICHERT. Rachlin schob Snow zur Seite und riß die Tür auf, hinter der ein leerer, von hellen Neonröhren erleuchteter Korridor zum Vorschein kam. Eine Sirene begann zu heulen.
»Weiter!« sagte Rachlin zu Snow.
Der Polizeitaucher ging voran zu einer Treppe, die zu einer weiteren, mit KONTROLLRAUM beschrifteten Tür führte.
Rachlin trat in einen großen Raum, der nach fauligem Abwasser stank. An den Wänden waren Monitore und große Schalttafeln angebracht, in der Mitte saß an einer Konsole ein einzelner Mann, der offenbar das ganze Klärwerk überwachte. Er hatte zerzauste Haare, als wäre er gerade aus dem Schlaf gerissen worden, und legte einen Telefonhörer auf die Gabel. »Wissen Sie, wer das war?« fragte er und deutete auf das Telefon.
»Das war der stellvertretende Direktor der Stadtwerke, und er wollte...«
»Wunderbar«, unterbrach ihn Rachlin. »Bestimmt wollte er, daß Sie keine Zeit verlieren. Sie müssen sofort die Propellerpumpe am Hauptzufluß stoppen.«
Der Mann sah Rachlin an, als wäre er eine Erscheinung aus dem Jenseits. Als er dann die anderen SEALs erblickte, riß er die Augen noch weiter auf.
»Verdammt noch mal«, sagte er in einem fast andächtigen Ton und starrte auf Snows Harpune, »der Mann hat recht gehabt«
»Beeilen Sie sich, Kleiner«, knurrte Rachlin, »oder wir werfen Sie in den Tank und verstopfen den Auslaß mit Ihrem fetten Bauch.«
Der Mann sprang auf, ging zu einer Schalttafel und legte ein paar Hebel um. »Fünf Minuten, länger kann ich Ihnen nicht geben«, erklärte er. »Sonst staut sich die Scheiße bis zur Lennox Avenue.«
»Fünf Minuten reichen uns«, sagte Rachlin mit einem Blick auf seine Uhr. »Und jetzt bringen Sie uns zum Hauptklärbecken.«
Hörbar schnaufend führte der Mann die Gruppe zurück ins Treppenhags und ein Stockwerk tiefer, wo er einen langen Korridor entlangging. Am anderen Ende öffnete er eine Tür und stieg eine rotgestrichene Wendeltreppe aus Metall hinunter, die auf einen schmalen Laufsteg über einer blubbernden braunen Flüssigkeit führte.
»Wollen Sie wirklich da drinnen herumtauchen?« fragte der Klärwerksangestellte und sah den Commander und seine Leute ungläubig an.
Snow blickte hinab auf die schaumbedeckte Brühe und rümpfte unwillkürlich die Nase. Warum war ausgerechnet er an diesem Abend in der Einsatzzentrale gewesen, und warum nur hatte er diesen Einstiegspunkt vorgeschlagen? Erst der Humboldt Kill, und jetzt das ...
»Ist das hier das Absetzbecken?« wollte der Commander wissen.
Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Der Haupteinlaß befindet sich etwa zwei Meter unter der Oberfläche an der Ostseite des Tanks«, sagte er. »Und passen Sie in der Propellerpumpe auf. Ich habe sie zwar abgeschaltet, aber der Wasserstrom dürfte sie immer noch drehen. Seien Sie also vorsichtig.«
Rachlin nickte. »Und wo ist das erste Steigrohr?«
»Genau hundertsieben Meter hinter dem Becken«, erwiderte der Angestellte. »Halten Sie sich links, wenn sich der Kanal verzweigt.«
»Gut. Das ist alles, was wir wissen müssen«, meinte Rachlin.
»Gehen Sie jetzt wieder hinauf, und schalten Sie wieder alles an, sobald Sie an Ihrem Arbeitsplatz sind.«
Der Mann hielt inne und sah die Taucher zweifelnd an.
»Nun machen Sie schon!« bellte Rachlin, und der Angestellte setzte sich in Richtung Treppe in Bewegung.
Snow ließ sich als erster nach rückwärts in die blubbernde Flüssigkeit fallen. Als er vorsichtig die Augen öffnete, sah er zu seinem Erstaunen, daß sie relativ klar und bei weitem nicht so dickflüssig wie die im Humboldt Kill war. Er spürte, wie die Nässe seinen Anzug durchdrang und zwang sich, an etwas anderes zu denken.
Snow schwamm gegen eine leichte Strömung auf die sich langsam drehenden Blätter der Propellerpumpe am Zulauf des Absetzbeckens zu, das den Eingang in den Kanal verschloß. Vor der Pumpe wartete er auf Rachlin und die sechs weiteren SEALs. Rachlin deutete auf Snow, der mit seinen Fingern bis drei zählte, bevor er und Donovan an den Blättern des Propellers vorbei in den Kanal schwammen. Als nächstes kam das Alpha-Team, gefolgt vom Beta und Gamma-Team.
Hinter dem Ventil befand sich ein riesiges Rohr aus rostfreiem Edelstahl, das in tiefe Finsternis führte.
Snow spürte, wie in ihm dieselbe lähmende Angst aufstieg, die ihn auch bei seinem Tauchgang im Humboldt Kill heimgesucht hatte. Er kämpfte dagegen an, indem er seinen Atem verlangsamte und bewußt versuchte, seine Herzschläge zu zählen. Diesmal durfte er nicht in Panik geraten.
Rachlin und sein Partner tauchten hinter ihm durch die Propellerblätter. Der Commander kam sofort auf Snow zu und deutete energisch nach vorn. Rasch schwamm der Polizeitaucher, gefolgt von den anderen Teams, immer tiefer in den Kanal hinein. Von hinten hörte er, wie die Pumpe ansprang, und er spürte an der stärker werdenden Strömung, daß sich die Propellerblätter wieder drehten. Jetzt gab es kein Zurück mehr, selbst wenn sie gewollt hätten. Der Tunnel führte nach unten. An der Gabelung nahm Snow den linken Abzweig.
Nach einer Strecke, die ihm schier endlos vorkam, erreichte er schließlich das erste Steigrohr, einen engen Schacht mit Stahlwänden, der kaum breiter als Snows Schultern war. Rachlin bedeutete dem Polizeitaucher, daß er von nun an die Führung übernehmen würde.
Snow gliederte sich zwischen die SEALs ein und schwamm im Strom der von ihnen ausgestoßenen Luftblasen nach unten, bis Rachlin nach ein paar Metern anhielt, um sich in ein horizontales Rohr zu zwängen, das noch enger als der vertikale Schacht war. Als Snow hinter Donovan hineinschwamm und spürte, wie seine Preßluftflaschen an der Wand entlangschrammten, bekam er fast Platzangst.
Plötzlich ging der im Licht der Unterwasserlampen glänzende Edelstahl in ein altes Eisenrohr über, dessen Wand mit einer schwammartig weichen Rostschicht überzogen war. Die Flossenbewegungen der Taucher vor Snow lösten dicke orangefarbene Flocken davon ab, die ihm vor die Taucherbrille wirbelten. Einmal hielten sie kurz an, weil Rachlin auf seine wasserfeste Karte sehen mußte, dann ging es um zwei weitere Abzweigungen herum, bis sie schließlich zu einem nach oben führenden Schacht kamen. Nachdem Snow diesen ein paar Meter hinaufgeschwommen war, spürte er, wie sich die Wasseroberfläche teilte und sein Kopf an die Luft kam. Er befand sich in einem großen Tunnel mit gemauerten Wänden, der einen Durchmesser von etwa fünf Metern hatte und zur Hälfte mit einer trüben, langsam dahinfließenden Flüssigkeit gefüllt war.
Das mußte der große Sammelkanal sein.
»Snow und Donovan nach hinten«, befahl Rachlin, »die anderen bilden die besprochene Formation. Bleibt mit dem Kopf über Wasser, Leute, aber atmet weiter aus den Preßluftflaschen. Die Luft hier unten ist bestimmt voller Methangas.« Nach einem kurzen Blick auf die Karte, die mit einer Schnur an seinem Taucheranzug befestigt war, setzte sich der Commander wieder in Bewegung.
Hintereinander her schwamm die Gruppe durch ein verschlungenes System von großen und kleinen Kanälen.
Snow, der eigentlich immer stolz auf seine Leistungen als Langstreckenschwimmer gewesen war, hatte seine liebe Mühe, mit dem Tempo der sieben Kampftaucher mitzuhalten.
Schließlich gelangten sie in einen großen fünfeckigen Raum, von dessen mit gelblichen Stalaktiten besetzter Decke eine dicke Eisenkette herabhing. Ein dünnes Rinnsal rann die Kette hinab und tropfte von dem massiven verrosteten Haken an ihrem Ende ins Wasser. An den Wänden des Raums entlang lief ein breiter, trockener Sims, von dem aus man in drei trockene Tunnels gelangen konnte.
»Das hier ist unsere Operationsbasis«, erklärte Rachlin. »Von hier aus dürfte es ein Kinderspiel sein, die Ladungen anzubringen. Trotzdem gehen wir streng nach Vorschrift vor. Wenn ihr auf Widerstand stoßen solltet, gebt ihr euch zu erkennen und schaltet den Gegner im Falle eines Angriffs sofort aus. Sollte etwas schiefgehen und ihr eure Kameraden verlieren, schlagt euch alleine zum Kanalschacht an der 125th Street durch, wo wir wieder an die Oberfläche gehen. Gibt es noch Fragen?« Als keiner der SEALs etwas sagte, blickte sich der Commander noch einmal im Kreis seiner Männer um. »Okay, Leute, dann wollen wir uns mal unsere Brötchen verdienen.«