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Pendergast stand auf einem kleinen metallenen Laufsteg und blickte hinunter auf den trägen Abwasserstrom, der eineinhalb Meter unter ihm vorbeifloß. Auf den Monitoren seines VisnyTek-Nachtsichtgeräts glühte er seltsam grün und irreal. Der Geruch, der Pendergast in die Nase stieg, ließ auf eine gefährlich hohe Methangaskonzentration schließen, so daß der FBI-Agent von Zeit zu Zeit in die Tasche seines Kampfanzugs griff und aus einem kleinen Mundstück reinen Sauerstoff atmete.
Der Laufsteg war über und über mit aufgeweichtem und wieder getrocknetem Papier und anderen weniger leicht identifizierbaren Dingen verklebt, die sich offenbar beim letzten Unwetter dort verfangen hatten. Zudem war das Eisen des Steges so stark von Rostausblühungen überzogen, daß Pendergasts Stiefel darin versanken wie in einem Teppich aus Moos. Sorgfältig suchte der FBI-Agent die schleimüberzogenen Wände nach der Metalltür ab, die den letzten Teil des Abstiegs in die Astortunnels markierte. Alle zwanzig Schritte zog er eine kleine Spraydose aus der Tasche und sprühte zwei Punkte einer Farbe an die Wand, die für das menschliche Auge unsichtbar war, in dem auf Infrarotmodus geschalteten Nachtsichtgerät aber gespenstisch aufglühten.
Die Punkte sollten ihm helfen, seinen Rückweg auch dann zu finden, wenn er – aus welchem Grund auch immer – keine Zeit mehr zum Kartenlesen haben sollte.
Nachdem er eine Weile über dem Kanal entlanggegangen war, entdeckte Pendergast die mit dicken Nieten besetzte Metalltür, nach der er gesucht hatte. Sie war durch ein massives Vorhängeschloß gesichert, das, ebenso wie die Tür selbst, von einer dicken Schicht aus Kalk und Rost überzogen war. Mit einer kleinen akkubetriebenen Säge, die er in einer Tasche Beines Anzugs mitgebracht hatte, rückte Pendergast dem Schloß zu Leibe. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte sich das diamantbesetzte Sägeblatt mit einem laut kreischenden Geräusch und hell sprühenden Funken durch das Metall des Schließbügels gefressen, und das Schloß fiel scheppernd auf den Laufsteg. Schließlich durchschnitt Pendergast auch noch die verrosteten Angeln der Tür, so daß sie sich mit geringem Kraftaufwand nach vorne kippen und über das Geländer des Laufstegs hinunter in den Kanal werfen ließ. In der Wand des Tunnels gähnte nun ein schwarzes Loch, in dem ein schmaler Schacht hinunter in eine bodenlose Tiefe führte.
Pendergast verstaute die Säge wieder in seinem Anzug, wischte den Rost von seinen Latex-Handschuhen und spähte mit seiner Nachtsichtbrille hinab in die Dunkelheit. Selbst mit eingeschalteten Infrarotdioden war kein Boden zu erkennen.
Wieder griff Pendergast in eine der großen Außentaschen seines Tarnanzugs und holte ein langes, dünnes Seil aus Kevlar hervor, dessen eines Ende er um einen massiven in die Wand des Schachtes eingelassenen Eisenbolzen knotete. Dann warf er das Seil hinunter in das Loch, legte einen Sitzgurt aus Nylongewebe an und hängte ihn mittels eines mit einer mechanischen Bremse versehenen Karabinerhakens an das Seil.
Dann stieg er in den Schacht und glitt an dem Seil entlang rasch nach unten.
Als er nachgiebigen, weichen Boden unter den Füßen spürte, hakte er sich aus und verstaute den Gurt wieder in seinem Anzug. Dann sah er sich mit Hilfe seiner Nachtsichtbrille um.
Er befand sich in einem langen Tunnel mit glatten Wänden.
Der Schlamm am Boden war etwa zehn Zentimeter tief und so dick und zäh wie Schmierfett Pendergast studierte die Karte auf dem Innenfutter seiner Anzugjacke. Wenn sie stimmte, dann befand er sich in einem Servicetunnel, der parallel neben der privaten U-Bahn-Linie verlief, die sich die Millionäre der Stadt vor fast einem Jahrhundert hatten bauen lassen. In etwa vierhundert Metern mühte er eigentlich auf den Kristallpavillion stoßen, einen luxuriösen Wartesaal tief unter dem längst vergessenen Knickerbocker Hotel, das früher einmal an der Ecke Fifth Avenue und Central Park South gestanden hatte.
Der Kristallpavillon war laut Al Diamond der größte Wartesaal der Linie gewesen, größer noch als seine Pendants unter dem Waldorf Astoria Hotel und den reichen Anwesen in der Fifth Avenue. Wenn es im Dachboden des Teufels überhaupt einen zentralen Punkt gab, dann war das ohne Zweifel eben dieser Kristallpavillon.
Vorsichtig arbeitete sich Pendergast den Tunnel entlang. Obwohl ihm von dem fauligen Geruch fast schwindelig wurde, sog er von Zeit zu Zeit die Luft durch die Nase ein und prüfte sie auf einen bestimmten ziegenartigen Gestank, den er zum erstenmal vor achtzehn Monaten im Keller des Museums wahrgenommen hatte.
Vom Geruch her deutete nichts daraufhin, daß sich in dem Tunnel andere Lebewesen außer ihm aufhielten, aber als Pendergast zu Boden sah, durchfuhr ihn plötzlich ein eisiger Schreck: Im Schlamm entdeckte er die Abdrücke von nackten Füßen, die offenbar ganz frisch waren und in dieselbe Richtung führten, die auch er gewählt hatte.
Pendergast nahm ein paar tiefe Züge Sauerstoff aus seinem Mundstück und ging in die Hocke, um die Spuren zu untersuchen. Auf den ersten Blick sahen sie wie die Abdrücke etwas breiterer menschlicher Füße aus, aber dann bemerkte er, daß die Zehen in lange, krallenartig spitze Fortsätze ausliefen und durch Schwimmhäute miteinander verbunden waren.
Pendergast richtete sich auf. Wenn ihn nicht alles täuschte, war er auf die Fußspuren der sagenumwobenen Wrinkler gestoßen.
Der FBI-Agent blieb einen Augenblick stehen und gönnte sich noch eine Lunge voll Sauerstoff, bevor er mit gezogener Waffe den Fußspuren bis zu dem Punkt folgte, an dem der Servicestollen auf den U-Bahn-Tunnel stieß.
Hier mündeten die Fußspuren in einen offenbar viel begangenen Trampelpfad, der in der Mitte der Gleise entlangführte.
Pendergast bückte sich und untersuchte den Weg: viele verschiedene Abdrücke nackter Füße und nur wenige Schuhsohlen. Manche der Füße waren extrem breit und erinnerten Pendergast an das Blatt eines Spatens, andere wiederum wirkten vollkommen normal.
Nachdem er sich noch einmal gründlich umgesehen hatte, ging Pendergast weiter. Sein Weg führte ihn an mehreren Seitentunnels vorbei, aus denen heraus weitere Pfade auf den Hauptgang stießen. Pendergast erinnerte dieses Geflecht an die vielen schmalen Pfade, wie er sie bei der Jagd in Botswana und Namibia kennengelernt hatte; unzählige Tiere hatten auf ihrem Anmarsch zu den Wasserstellen oder zu ihrem Bau getrampelt.
Vor sich sah Pendergast nun einen langen, vom Schlamm unzähliger unterirdischer Fluten überkrusteten Bahnsteig auftauchen. Über eine Treppe am Ende des Perrons stieg Pendergast von den Gleisen hinauf in den Bahnhof. Wenn Al Diamond recht hatte, dann mußte gleich hinter dem Bahnsteig der Kristallpavillon liegen.
Vorsichtig tastete sich Pendergast durch die Dunkelheit, während auf den Monitoren seiner Nachtsichtbrille nach und nach eine phantastische Szenerie des Verfalls entstand: Filigrane Gaslaternen, die längst kein Glas und keine Glühkörper mehr hatten, hingen an den mit gesprungenen Mosaikkacheln verzierten Wänden, die über und über mit dem Schlamm vergangener Sturzfluten verschmiert waren. Auch die Decke des Bahnhofs bestand aus einem prächtigen Mosaik, das die zwölf Tierkreiszeichen darstellte.
Am hinteren Ende des Bahnsteigs liefen die vielen verschiedenen Trampelpfade vor einem niedrigen Torbogen zusammen.
Als Pendergast darauf zuging, schlug ihm ein warmer Wind entgegen, der einen unmißverständlichen Geruch mit sich trug. Pendergast blieb sofort stehen und holte aus seinem Anzug eine Argon-Blitzlampe hervor, wie sie auch beim Militär Verwendung findet. Sie konnte Blitze erzeugen, die einen Menschen selbst in der heilen Mittagssonne zeitweise erblinden ließen, hatte aber den Nachteil, daß sie mehrere Sekunden brauchte, bis sie wieder voll aufgeladen war. Zudem enthielt der Batteriepack nur Energie für ein Dutzend Blitze. Pendergast nahm noch einen Zug Sauerstoff, dann trat er, die Blitzlampe in der einen und seine Pistole in der anderen Hand, durch den Torbogen.
Der Raum dahinter war so groß, daß Pendergast die Empfindlichkeit seines Nachtsichtgeräts anders einstellen mußte, bevor er erkannte, daß er sich in einem weiten runden Saal befand.
Hoch über seinem Kopf hingen schief und verdreckt die Überreste eines riesigen Kristalleuchters von der Mitte des Gewölbes herab, an denen lange, wie Seegras anmutende Schmutzfetzen baumelten. Die gewaltige Deckenkuppel rings tun den Lüster war vollständig mit Spiegeln ausgekleidet, von denen die meisten allerdings erblindet und gesprungen waren. Als Pendergast hinaufsah, hatte er das Gefühl, als würde ein zerstörter Himmel über ihm schweben. Sein Nachtsichtgerät war selbst auf höchster Stufe noch zu schwach, als daß Pendergast genau hätte erkennen können, was sich in der Mitte des großen Saales befand. Er sah lediglich eine Reihe von ungleich hohen, sanft ansteigenden Steinstufen, die mit unzähligen schlammigen Fußabdrücken bedeckt waren. Am Ende der Stufen befand sich ein verschwommenes Etwas, das vielleicht einmal ein alter Kiosk oder Pavillon war.
Die Wände des runden Saales waren mit aus zerbröckelndem Gips modellierten dorischen Säulen geschmückt, zwischen denen sich riesige Wandgemälde aus bemalten Kacheln befanden. Pendergast trat auf eines von ihnen zu, auf dem ein stiller See mit Biberdamm und Biber, Berge, Wälder und ein nahender Gewittersturm dargestelltwaren.Der angegriffene Zustand des Wandgemäldes hätte Pendergast an Pompeji erinnert, wären da nicht die Haufen von Abfall zu Füßen des Bildes und die breiten braunen Kotstreifen gewesen, die in verrückten Mustem an den Kacheln hinabliefen. Als er oberhalb der Nische den aus goldenen Mosaiksteinen zusammengesetzten Namen ›Astor‹ entdeckte, mußte Pendergast trotz der gespenstischen Umgebung lächeln. Der Millionär Astor, dem dieses Wandgemälde gewidmet war, hatte einst den Grundstein zu seinem sagenhaften Vermögen durch den Verkauf von Biberpelzen gesetzt.
Daß auch der anderen reichen New Yorker Familien der damaligen Zeit in dem Wartesaal gedacht worden war, sah Pendergast an dem nächsten Wandgemälde, das eine Dampflokomotive zeigte, die vor dem Panorama schneebedeckter Bergriesen einen langen Güterzug über eine Brücke zog. In den goldenen Lettern darüber las er den Namen des Mannes, der mit Eisenbahnen reich geworden war: ›Vanderbilt‹.
Langsam ging Pendergast an der Wand des runden Raumes entlang und fand mit ›Morgan‹ und ›Jesup‹ zwei weitere Namen des Goldenen Zeitalters der Stadt New York. In der letzten Nische schließlich, deren Wandgemälde unter dem Schriftzug ›Rockefeller‹ mehrere in eine bukolische Landschaft eingebettete Erdölfördertürme zeigte, stand eine alte Ottomane mit halb abgerissenen Armlehnen, aus deren aufgeplatzter Polsterung schimmeliges Roßhaar quoll. Daneben befand sich ein Schild mit der Aufschrift ZUM HOTEL, das in einen kurzen Korridor mit zwei reich verzierten Fahrstühlen wies. Die von Grünspan überzogenen Messingtüren der zerstörten Kabinen standen weit offen, an ihrem Boden kringelten sich wie metallene Schlangen die abgerissenen Aufzugskabel.
An der Wand entdeckte Pendergast ein verzogenes, von Holzwürmern durchlöchertes Mahagonibrett, auf dem noch Reste des alten Fahrplans zu lesen waren:
Neben dem Fahrplan war ein kleiner Warteraum mit zusammengefallenen Stühlen und Sofas, zwischen denen sogar noch ein Konzertflügel stand. Das Holz des Instruments war längst den unzähligen Überschwemmungen und gefräßigen Mikroorganismen zum Opfer gefallen, so daß Pendergast nur noch einen skelettartigen Metallrahmen mit wilden Knäueln gerissener Saiten und groteskerweise vollkommen intakten Tasten sah.
Der FBI-Agent ging wieder zurück in den großen Saal und lausc hte angestrengt in die Dunkelheit, aber die tiefe Stille dort wurde nur vom leisen Geräusch tropfenden Wassers unterbrochen, das an mehreren Stellen durch die Decke sickerte. Auch der Rundumblick mit dem Nachtsichtgerat zeigte keine weißen Punkte, die im Infrarotspektrum das Vorhandensein eines warmen Körpers signalisiert hätten.
Trotzdem wurde der ziegenartige Gestank immer stärker.
Mit langsamen Schritten ging Pendergast nun auf den Umriß in der Mitte des Raumes zu, der auf den grünlich leuchtenden Monitoren der VisnyTek-Brille immer mehr Gestalt annahm.
Je näher er kam, desto deutlicher sah er, daß es sich um eine krude, aus weißen Steinen erbaute, runde Hütte handelte. Erst als Pendergast direkt davorstand, bemerkte er, daß ihre Wände aus aufeinandergetürmten menschlichen Schädeln bestanden.
Der FBI-Agent nahm ein paar tiefe Atemzüge von seirnem Sauerstoff, bevor er die Totenköpfe genauer betrachtete. Ihre Gesichter zeigten alle nach außen, aber durch die Augenhöhlen sah er, daß in den meisten Hinterköpfen große Löcher klafften. Überschlagsmäßig schätzte Pendergast, daß die makabre Behausung aus etwa vierhundertfünfzig Schädeln bestehen müßte. Die meisten von ihnen waren, wie man an der daran klebenden Kopfhaut erkennen konnte, noch ziemlich frisch.
Pendergast ging einmal um die Hütte herum und verharrte dann mehrere Minuten lang regungslos vor ihrem Eingang, vor dem sämtliche Trampelpfade zusammenliefen. Auf dem Schädel direkt über der Türöffnung erkannte er drei mit einer dunklen Flüssigkeit geschriebene japanische Schriftzeichen:
Schließlich, nachdem er über längere Zeit weder ein Geräusch noch eine Bewegung bemerkt hatte, holte er noch einmal tief Luft, bückte sich und trat ein.
Das Innere des runden Raumes war leer bis auf viele entlang der Wand auf dem Boden aufgereihte tönerne Trinkbecher, die offenbar irgendwelchen zeremoniellen Zwecken dienten.
Pendergast schätzte ihre Zahl auf mindestens hundert. Rasch verließ er die Hütte wieder und besah sich den runden Steintisch direkt vor dem Eingang. Er war etwas mehr als einen Meter hoch, maß einen knappen Meter im Durchmesser und war von einem niedrigen Zaun umgeben, zu dem man menschliche Arm und Beinknochen mit Lederbändern zusammengebunden hatte. Auf der glatten Tischplatte lagen einige merkwürdig aussehende Gegenstände, die in einer Art Muster angeordnet und mit verwelkten Blumen geschmückt waren.
Pendergast nahm einen und betrachtete ihn erstaunt. Es war ein flaches Stück Metall mit einem abgenutzten Gummigriff, von dem er nicht wußte, wozu es dienen sollte. Auch die anderen Gegenstände gaben ihm keinen Hinweis auf ihre Herkunft. Er beschloß, ein paar von ihnen mitzunehmen und später an der Oberfläche in Ruhe zu untersuchen.
Kaum hatte er die Metallstücke in die Tasche gesteckt, da huschte etwas Weißes über die Monitore seines Nachtsichtgeräts. Rasch ging Pendergast hinter dem Tisch in Deckung. Als er sich von dort aus umsah und nichts entdecken konnte, fragte er sich, ob er sich wohl getäuscht hatte. Manchmal tiefen bestimmte Luftschichtungen auf dem Infrarotschirm falsche Signale hervor.
Dann aber sah er es wieder, und diesmal deutlicher als zuvor: Es war eine menschliche – oder zumindest fast menschliche – Gestalt, die vom Bahnhof her durch den Torbogen gerannt kam und auf den Infrarotmonitoren eine weiße Wärmeschleppe hinter sich herzog. Sie kam beängstigend schnell näher, und Pendergast sah, daß sie im Laufen etwas Großes, Rundes an ihre Brust drückte.
In der dichten Finsternis des alten Wartesaals hob Special Agent Pendergast lautlos Pistole und Blitzlampe und machte sich bereit.