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Smithback schob einen Mann im Leinenanzug zur Seite, rammte einem anderen den Ellenbogen in die Rippen und versuchte, sich so einen Weg durch die immer dichter werdende Menschenmenge zu bahnen. Er hatte ihre schiere Masse schlichtweg unterschätzt: Die Leute stauten sich schon drei Blocks weit die Fifth Avenue hinunter, und jede Minute kamen neue hinzu. Mrs. Wishers Eröffnungsrede hatte er bereits verpaßt, und jetzt wollte er wenigstens noch bei der ersten Mahnwache dabeisein, bevor sich der Demonstrationszug wieder in Bewegung setzte.
»Drängle nicht so, du Arschloch«, schnauzte ein junger Mann, der gerade einen silbernen Flachmann von den Lippen nahm.
»Schieb dir doch eine Aktie in den Arsch«, gab Smithback zurück. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Polizisten erfolglos versuchten, wenigstens die Fahrbahn frei zu bekommen. Inzwischen waren mehrere Fernsehteams eingetroffen, deren Kameramänner auf die Dächer ihrer Kleinbusse stiegen, um von oben die Menge zu filmen. Sie kamen, ebenso wie die Polizei, viel zu spät. Mrs. Wisher hatte die Stadt wieder einmal überrumpelt.
»He, Smithback!« hörte der Journalist auf einmal eine Stimme hinter sich rufen. Er drehte sich um und sah Clarence Kozinsky, den Börsenreporter der Post. »Das hier ist wirklich unglaublich. Hat sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer.«
»Ich schätze, das liegt wohl an meinem Artikel«, antwortete Smithback stolz.
Kozinsky schüttelte den Kopf »So leid's mir tut, Smithback, aber dein Artikel ist erst vor einer halben Stunde erschienen. Die Aufforderung zur Demo lief aber schon am Nachmittag über die verschiedenen Börsennetze.
Sieht so aus, als wäre die Finanzwelt komplett auf Mrs. Wisher abgefahren. Fast scheint es so, als wäre diese Frau die Lösung für alle Sorgen, die unsere armen Broker so plagen.« Kozinsky kicherte kurz und trocken.
»Es geht jetzt nicht mehr bloß um die Bekämpfung der Kriminalität, sondern um alles, was nach Meinung der Finanzwelt in dieser Stadt sonst noch schief läuft. In den einschlägigen Bars spricht man schon davon, daß Mrs. Wisher die Fürsorge kappen, die Obdachlosen von den Straßen bringen, die Dodgers zurück nach Brooklyn holen und wieder einen Republikaner ins Weiße Haus bringen wird. Und das alles auf einmal.«
Smithback sah sich um. »Ich wußte gar nicht, daß es so viele Finanztypen auf der Welt gibt, geschweige denn in Manhattan.«
Kozinsky kicherte abermals. »Die Leute halten den typischen Börsenmenschen eben noch immer für einen Retro-Yuppie in einem langweiligen Anzug, der rund um die Uhr arbeitet und in irgendeiner Vorstadt in New Jersey mit seiner Frau und zweieinhalb Kindern am Wochenende ein stinklangweiliges Familienleben führt.
Niemand denkt daran, daß die Wall Street auch so etwas wie einen Unterleib hat. Da gibt es Devisenhaie, Zinstrickser, Geldwäscher und Leute, die ihr Geld mit dem Verschieben von Schweinebäuchen machen. Das sind keine Oberklassenyuppies, sondern Typen, die an der Wall Street die Drecksarbeit machen. Außerdem rekrutiert diese Wisher ihre Leute schon längst nicht mehr nur in der Börse allein. Zur Zeit laufen sämtliche Handys, Pager und Faxgeräte heiß, damit auch die kleinen Angestellten der Banken und Versicherungen was von dem Spaß haben.«
Als Smithback auf einmal einige Meter vor sich Mrs. Wisher entdeckte, verabschiedete er sich von Kozinsky und drängte weiter. Mrs. Wisher stand direkt vor dem Bergdorf Goodman-Kaufhaus und blickte, flankiert von einem katholischen und einem protestantischen Priester sowie einem Rabbi, auf einen riesigen Haufen frischer Blumen. Daneben bemerkte Smithback einen erschöpften jungen Mann mit langen Haaren, der einen Nadelstreifenanzug und violette Socken trug. Smithback erkannte den Trauernden an seinem vergrämten Gesicht als Viscount Adair, den Freund der verstorbenen Pamela Wisher.
Die Mutter der Toten hatte sich die hellen Haare streng nach hinten gekämmt und kein Make-up aufgelegt, was sie schlicht und würdevoll zugleich wirken ließ. Diese Frau ist zum Führen geboren, dachte Smithback, während er sein Diktiergerät einschaltete.
Mrs. Wisher blieb eine Weile bewegungslos und mit gesenktem Kopf vor den Blumen stehen. Dann wandte sie sich zu den Demonstranten um, ließ sich ein kabelloses Mikrophon reichen und räusperte sich laut und hörbar.
»Bürger und Bürgerinnen von New York«, rief sie, woraufhin das Tosen der Menge augenblicklich verstummte. Smithback, den die Klarheit und Lautstärke ihrer Stimme erstaunte, sah sich um und erkannte, daß mehrere, an strategisch günstigen Punkten postierte junge Männer an Metallstangen befestigte Lautsprecher in die Höhe hielten. Auch wenn die Demonstration noch so spontan aussah, hatten Mrs. Wisher und ihre Leute das Ereignis ganz offenbar bis ins kleinste Detail vorausgeplant.
Als die Stille vollkommen war, fuhr Mrs. Wisher mit leiserer Stimme fort: »Wir haben uns hier versammelt im Gedenken an Mary Arm Cappiletti, die am 14. Märe an dieser Stelle überfallen und erschossen wurde. Lassen Sie uns ein stilles Gebet für sie sprechen.«
Zwischen ihren Sätzen hörte Smithback, wie die Polizei die Menge über Megaphon aufforderte, sich zu zerstreuen. Berittene Polizisten erschienen am Rand der Demonstration und drehten, als sie die dichtgedrängt stehende Menge sahen, wieder ab. Smithback wußte, daß Mrs. Wisher die Demonstration absichtlich nicht angemeldet hatte, um die Stadtverwaltung zu überrumpeln und das größtmögliche Chaos zu produzieren. Die Verbreitung des Aufrufs über private Kanäle war nicht nur hocheffizient gewesen, sondern hatte auch dafür gesorgt, daß Behörden und Medien wirklich erst Wind von der Sache bekamen, als es schon zu spät war.
»Es ist lange her«, ergriff Mrs. Wisher wieder das Wort. »Und zwar sehr, sehr, lange, daß Kinder ohne Angst durch die Straßen von New York spazieren konnten. Inzwischen fürchten auch wir Erwachsene uns, wenn wir durch gewisse Straßen oder nachts durch den Park gehen. Oder wenn wir U-Bahn fahren!«
Bei der Anspielung auf das jüngste Massaker ließen sich aufgebrachte Rufe aus der Menge vernehmen.
Smithback, der das Diktiergerät in die Luft hielt, fragte sich, ob Mrs. Wisher wohl jemals in ihrem Leben die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt hatte.
»Heute nacht!« rief sie auf einmal aus und blickte mit funkelnden Augen in die Menge. »Heute nacht werden wir das alles ändern. Heute nacht erobern wir uns den Central Park zurück. Genau um Mitternacht werden wir dort alle zusammen mitten auf der großen Rasenfläche stehen, und wir werden keine Angst haben!«
Das Brüllen der Menge, das auf diese Worte folgte, war so gewaltig, daß Smithback sein Diktiergerät ausschalten mußte.
Mit dieser Lautstärke wurde das kleine Gerät nicht fertig. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich die Ereignisse genau zu merken. Smithback wußte, daß inzwischen jede Menge anderer Journalisten von lokal und landesweit verbreiteten Medien anwesend sein mußten, aber er war der einzige Reporter, der direkten Zugang zu Anette Wisher hatte, der einzige, den sie in ihre Pläne eingeweiht hatte. Am späten Nachmittag war bereits eine Sonderausgabe der Post mit einer genauen Beschreibung der Demonstrationsroute und der einzelnen Haltepunkte erschienen, an denen der jeweiligen Mordopfer gedacht werden sollte. Smithback sah, daß viele der Anwesenden diese Ausgabe dabeihatten, und verspürte einen Anflug von Stolz. Kozinsky hatte ganz offenbar also doch nicht recht gehabt. Auch er, Smithback, hatte entscheidend dazu beigetragen, daß so viele Menschen zu der Demonstration gekommen waren. Und was noch viel besser war: Diese Ausgabe hatte sich nicht nur unter Arbeitern und Angestellten, den angestammten Lesern der Post, hervorragend verkauft, sondern auch in den besseren Kreisen, die normalerweise zur Timer griffen.
Hämisch grinsend dachte Smithback daran, wie Kollege Harriman diesen Umstand wohl seinem verknöcherten stockkonservativen Chefredakteur beibringen wollte.
Die Sonne war soeben hinter den stattlichen Häusern von Central Park West untergegangen, und ein warmer Sommerabend senkte sich auf die Stadt. Mrs. Wisher zündete eine kleine Kerze an und nickte den Geistlichen zu, die daraufhin das gleiche taten.
»Meine lieben Freunde«, sprach sie in ihr Mikrophon und hielt die Kerze hoch in die Luft »Mögen unsere kleinen Flämmchen und unsere leisen Stimmen sich zu einem lodernden Mahnfeuer und einem lauten Schrei der Wut vereinen. Wir haben nur eine einzige Forderung an die Behörden, und die können sie nun nicht länger ignorieren oder beiseite schieben. Und diese Forderung lautet Säubert New York! Wenn ihr es nicht tut, dann werden wir es eben selber tun!«
Während die Menge durch lautes Gebrüll ihre Zustimmung signalisierte, setzte Mrs. Wisher sich in Bewegung.
Smithback schob ein paar Demonstranten beiseite und drängte sich in den inneren Kreis um sie, in dem eine Ruhe herrschte wie im Auge des Sturms.
»Wie schön, daß Sie hier sind, Bill«, sagte Mrs. Wisher, als begrüße sie ihn zu einem Kaffeekränzchen.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte Smithback mit einem breiten Grinsen.
Als sie mit langsamen Schritten die Grand Army Plaza betraten, drehte Smithback sich mit und betrachtete die riesige Menschenmenge, die ihnen folgte. Sie sah aus wie eine gigantische Schlange, deren geschmeidiger Körper am Central Park entlangglitt. Vor sich sah er weitere Gruppen, die aus der Sixth und Seventh Avenue herbeiströmten und sich ihnen aus westlicher Richtung kommend anschlossen. Als er die Gesichter in der Menge studierte, fielen ihm neben den ruhigen, dezent gekleideten Mitgliedern der besseren Gesellschaft auch viele von den jungen Männern, die Kozinsky vorhin erwähnt hatte, auf: Jungbroker, kleine Banker, subalterne Versicherungsangestellte, die, zum Teil schon ziemlich alkoholisiert, johlten und pfiffen und es offenbar kaum mehr erwarten konnten, daß es endlich Zoff gab. Smithback erinnerte sich daran, wie wenig es bei der letzten Demonstration bedurft hatte, daß Flaschen auf den Bürgermeister geflogen waren, und fragte sich, ob Mrs. Wisher diesmal die Menge wohl noch unter Kontrolle würde halten können, wenn die Stimmung aggressiver wurde.
Die Autofahrer auf der Central Park South hatten längst das Hupen aufgegeben und ihre Fahrzeuge verlassen, um der Demonstration zuzuschauen oder sich ihr anzuschließen, aber aus der Richtung des Columbus Circle ertönte noch immer ein gellendes Hupkonzert. Smithback atmete tief durch und sog die chaotische Stimmung ein wie Nektar. Entfesselte Massen hatten schon immer eine fast berauschende Wirkung auf ihn gehabt.
Ein junger Mann eilte auf Mrs. Wisher zu und reichte ihr ein Handy. »Es ist der Bürgermeister«, keuchte er.
Mrs. Wisher steckte das Mikrophon in ihre Handtasche und nahm das Telefon ans Ohr. »Ja?« fragte sie unterkühlt, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Eine Weile hörte sie zu, dann sagte sie: »Es tut mir leid, daß Sie das so sehen, aber die Zeiten, in denen man eine Demonstration angemeldet hat, sind für uns ein für allemal vorbei. Sie scheinen noch nicht begriffen zu haben, daß sich diese Stadt im Kriegszustand befindet. Mit unserer Kundgebung hier machen wir Sie zum letztenmal darauf aufmerksam. Sorgen Sie dafür, daß wieder Frieden einkehrt in New York. Das ist Ihre letzte Chance.«
Wieder hörte Mrs. Wisher zu, wobei sie sich ihr freies Ohr zuhalten mußte, um bei dem Lärm der Menge überhaupt etwas zu verstehen. »Es tut mir leid, daß wir Ihre Polizei behindern, Herr Bürgermeister. Und wenn der Polizeipräsident endlich etwas unternimmt, dann soll er es von mir aus tun. Aber wo waren eigentlich Ihre Polizisten, als meine Pamela ermordet wurde? Hat da vielleicht ein ...«
Mrs. Wisher verstummte abrupt und lauschte in das Telefon.
»Daß ich nicht lache«, sagte sie dann. »Diese Stadt versinkt im Verbrechen, und da wollen Sie mir mit einer gerichtlichen Vorladung drohen? Wenn Ihnen nichts Besseres einfällt, dann ist dieses Gespräch für mich beendet. Ich habe Wichtigeres zu tun.«
Sie drückte auf einen Knopf an dem Handy und gab es dem jungen Mann zurück. »Wenn er noch mal anruft, bestellen Sie ihm, daß ich beschäftigt bin.«
Sie machte einen Schritt auf Smithback zu und hängte sich bei ihm ein. »Unser nächster Halt wird die Stelle sein, an der meine Tochter verschwunden ist. Da muß ich meine ganze Kraft zusammennehmen. Wollen Sie mir dabei zur Seite stehen, Bill?«
Smithback fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Selbstverständlich, Anette«, sagte er.