Betrachtet man die verschiedenen sozialen Schichtungen der im Untergrund von New York wohnenden Menschen wie einen Querschnitt durch eine geologische Formation, dann lassen sich interessante Rückschlüsse ziehen. Ganz oben in der Hierarchie und im wahrsten Sinne des Wortes in der ersten Schicht finden sich all diejenigen, die in einer Art Grauzone zwischen Oberflache und Untergrund leben.

Das sind Menschen, die untertags Suppenküchen, Sozialstationen oder sogar Arbeitsämter besuchen und sich nur nachts in die Tunnels zurückziehen, um dort ungestört Alkohol trinken oder schlafen zu können. Die nächstuntere Schicht stellen Obdachlose dar, die schon länger ohne ein Dach über dem Kopf sind und sich nicht wieder in die »normale« Gesellschaft eingliedern lassen wollen. Diese Menschen ziehen die Dunkelheit und die Warme im Untergrund der hellen, aber oftmals kalten und unwirtlichen Welt an der Oberflache vor. Unter ihnen – auch hier darf man die Bezeichnung wörtlich nehmen – finden wir Drogensüchtige und Kriminelle, die in aufgelassenen U- oder Eisenbahntunnels Schutz vor einer Verfolgung von seiten der Behörden suchen. Am untersten Ende der Hierarchie schließlich finden sich die psychisch labilen Personen, denen das Leben »oben« einfach zu schwierig oder zu schmerzlich geworden ist. Diese Personen haben eine starke Abneigung gegen Obdachlosenasyle und ziehen sich lieber, in die Dunkelheit des Untergrunds zurück, wo man sie mit ihren psychischen Problemen in Ruhe laßt. Und dann gibt es noch diverse andere Gruppierungen, die sich nicht in ein Schema pressen lassen und die mit den eben geschilderten Hauptgruppen mal mehr, mal weniger zu tun haben. Darunter fallen Schwerkriminelle, die im Untergrund anderen Menschen nachstellen, ebenso wie visionäre Utopisten und psychisch Kranke. Seit der Ende der siebziger Jahre gerichtlich angeordneten Schließung vieler psychiatrischer Anstalten machen solche Leute einen wachsenden Anteil an der im Untergrund lebenden Bevölkerung aus.

Allen Menschen angeboren ist die Neigung, sich zu Gruppen zusammenzuschließen, die ihnen Schutz und soziale Geborgenheit geben. Auch die Obdachlosen machen da keine Ausnahme, selbst die tief im Untergrund hausenden sogenannten »Maulwürfe« nicht. Und selbst diejenigen, die sich dazu entschlossen haben, für immer in der Dunkelheit unter der Erde zu leben, bilden ihre Gesellschaften und Gemeinden.

Allerdings darf man bei diesen Gruppierungen nicht von einem »Gemeinwesen« im herkömmlichen Sinn ausgehen, welches das Zusammenleben seiner Mitglieder in geordnete Bahnen zu lenken versucht. Das Leben im Untergrund ist so ungeordnet und chaotisch, daß sich Gemeinschaften von Gleichgesinnten in stetem Wechsel zusammenfinden und wieder auflösen. An einem Ort, an dem das Leben meist kurz, oft brutal und immer ohne natürliches Licht ist, sind Höflichkeit und Rücksichtnahme ein Luxus, den sich nur wenige leisten können.

Aus: L. Hayward, Soziale Hierarchien im

Untergrund von Manhattan (erscheint in Kürze)