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Im Krisenkontrollzentrum der New Yorker Polizei liefen sämtliche Kommunikationsfäden für das Ablassen des Reservoirs zusammen. Als Margo hinter Pendergast und D'Agosta den großen Raum betrat, sah sie eine Reihe von Computerterminals, die auf Rolltischen standen und mit dicken, von Isolierband zusammengehaltenen Kabelsträngen miteinander verbunden waren. Vor den Bildschirmen saßen Polizisten in Uniform, die etwas eintippten oder telefonierten. Andere waren über große, auf langen Tischen ausgerollte Pläne gebeugt.

An einem Schreibtisch in der Mitte des Raumes entdeckte Margo auch Horlocker und Waxie, denen der Schweiß über Stirn und Wangen lief. Neben ihnen hockte ein kleiner Mann mit einem buschigen Schnurrbart und hackte auf einer Computertastatur herum.

»Was machen denn Sie hier?« fragte Horlocker, als er die drei kommen sah. »Haben Sie nichts Besseres zu tun?«

»Sir«, sagte D'Agosta, »Sie dürfen das Reservoir nicht ablassen.«

Horlocker legte den Kopf schief. »D'Agosta, ich habe jetzt wirklich keine Zeit für Sie. Nicht genug damit, daß wir die Obdachlosen aus dem Untergrund vertreiben müssen, jetzt hat diese Mrs. Wisher auch schon wieder eine Demonstration angezettelt Ich weiß gar nicht mehr, wo ich genügend Leute für das alles hernehmen soll.

Schreiben Sie mir eine Meldung, und ich kümmere mich bei Gelegenheit darum, okay?« Horlocker hielt inne und musterte die drei Ankömmlinge, als nehme er sie jetzt erst wirklich wahr. »Wie sehen Sie überhaupt aus?

Waren Sie beim Schwimmen, oder was?«

»Das Reservoir ist voller höchst gefährlicher Pflanzen«, sagte Pendergast und trat einen Schritt vor. »Es handelt sich dabei um lilicea mbwunensis, die Pflanze, nach der die Museumskreatur süchtig war und aus der Kawakita seine Droge hergestellt hat. Sie steht kurz vor dem Aussamen.« Mit diesen Worten warf Pendergast die feuchte schlammige Pflanze, die er aus dem Reservoir mitgebracht hatte, auf Horlockers Schreibtisch. »Da ist sie, voll ausgewachsen und randvoll mit Glaze. Jetzt wissen wir, wo die Süchtigen in den Astortunnels ihren Nachschub angebaut haben.«

»He, was soll denn das?« polterte Horlocker. »Nehmen Sie sofort dieses Ding da von meinem Schreibtisch.«

»Jetzt kenne ich mich überhaupt nicht mehr aus, Vinnie«, mischte Waxie sich ein. »Zuerst tust du alles, um uns davon zu überzeugen, daß da unten in den Tunnels irgendwelche grünen Monstren herumlaufen, und jetzt, wo wir sie in ihrem Bau ertränken wollen, hast du plötzlich was dagegen. Kann man es dir denn überhaupt nicht recht machen?«

D'Agosta warf dem dicken, schwitzenden Captain einen verächtlichen Blick zu. »Du kannst mich mal, Jack. Das mit dem Reservoir war deine Idee, du mieser Drecksack.«

»Lieutenant D'Agosta, ich muß schon sehr bitten ...«

»Aber meine Herren!« unterbrach Pendergast und hob beschwichtigend die Hände. »Das bringt uns doch nicht weiter. Für Schuldzuweisungen und persönliche Vorwürfe ist jetzt keine Zeit. Wir haben herausgefunden, daß das Virus in der Pflanze durch Salzwasser aktiviert wird. Das bedeutet, daß wir auf keinen Fall zulassen dürfen, daß Teile davon ins Meer gespült werden. Dr. Greens Experimente haben eindeutig erwiesen, daß die Droge, die von diesem Virus erzeugt wird, auf eine große Anzahl von Organismen eine verheerende Wirkung hat. Das reicht vom simplen Einzeller die ganze Nahrungskette hinauf bis zu uns Menschen. Wollen Sie wirklich die Verantwortung für eine weltweite ökologische Katastrophe tragen, Chief Horlocker?«

»Ach, hören Sie doch auf!« tönte Waxie. »Das ist doch alles nichts als ...«

Horlocker legte Waxie beschwichtigend eine Hand auf den Unterarm und blickte auf die Pflanze, die noch immer auf dem Tisch vor ihm lag und seine Karten und Papiere durchnäßte.

»Sieht eigentlich ganz harmlos aus«, meinte er.

»Aber das ist sie nicht«, schaltete sich Mmgo ein. »Diese Variante der lilicea mbwunensis dürfte sogar besonders gefährlich sein, denn nach allem, was wir wissen, wurde sie mit einer gentechnisch manipulierten Form des Reovirus infiziert.«

Horlocker blickte zwischen Margo und der Pflanze hin und her.

»Ich kann Ihre Skepsis gut verstehen, Chief«, sagte Pendergast ruhig. »Seit der Konferenz heute vormittag hat sich eine Menge getan. Alles, worum ich Sie bitte, ist ein Aufschub von vierundzwanzig Stunden, damit Dr. Green die Pflanze in ihrem Labor testen kann. Dann erst können wir nämlich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob sie das Virus enthält, das bei Kontakt mit Salzwasser ins Ökosystem des Ozeans gelangen würde. Zwar bin ich mir sicher, daß wir recht haben, sollte sich aber unsere Annahme doch als falsch erweisen, dann können Sie das Reservoir morgen noch immer ablassen.«

»Wieso mischen Sie sich eigentlich ständig ein, Pendergast?« fragte Waxie erregt »Das ist doch überhaupt kein Fall für das FBI.«

»Daß Sie sich da mal nicht täuschen, Captain«, entgegnete Pendergast ruhig. Jetzt, wo Drogen mit im Spiel sind, könnte ich Ihnen den Fall in Null Komma nichts entziehen. Ist es vielleicht das, was Sie wollen?«

»Einen Moment, bitte«, unterbrach Horlocker den Wortwechsel und warf Waxie einen warnenden Blick zu.

»Dazu besteht überhaupt kein Anlaß. Was spricht eigentlich dagegen, daß wir die Pflanzen mit einer ordentlichen Dosis Unkrautvernichtungsmittel einfach abtöten?«

»Das dürfte bei einem Trinkwasserreservoir nicht allzu leicht sein«, entgegnete Pendergast. »Auf die Schnelle fallt mir kein Herbizid ein, das zuverlässig sämtliche Pflanzen vernichtet und gleichzeitig keine Gefahr für die Menschen dieser Stadt darstellt. Wissen Sie vielleicht eines, Dr. Green?«

»Höchstens Thyoxin käme in Frage«, antwortete Margo nach kurzem Nachdenken. »Aber das bräuchte vierundzwanzig Stunden, um zu wirken. Besser wären achtundvierzig, denn es arbeitet sehr langsam.« Margo runzelte nachdenklich die Stirn.

Irgendwo hatte sie doch kürzlich das Wort Thyoxin gelesen.

Aber wo? Und dann fiel es ihr ein: Es war eines der wenigen Worte gewesen, die sie in Kawakitas halbverbranntem Labortagebuch hatte entziffern können.

»Wir sollten es auf alle Fälle schon mal ins Wasser schütten«, sagte Horlocker. »Aber dazu muß ich erst die Umweltbehörde informieren, was die Angelegenheit noch mal komplizierter macht.«

Sein Blick wanderte hinüber zu dem verschüchtert aussehenden Mann am Computer, der noch immer irgendwelche Daten eingab.

»Stan!«

Der Mann hob ruckartig den Kopf.

»Star, unterbrechen Sie das Ablassen des Reservoirs«, sagte Horlocker und seufzte. »Wir warten damit, bis diese Angelegenheit geklärt ist. Waxie, rufen Sie Masters an. Sagen Sie ihm, daß er mit der Räumung der Tunnels wie gehabt fortfahren, aber die Obdachlosen einen Tag länger in den Asylen halten soll.«

Margo bemerkte, wie der Mann am Computer plötzlich leichenblaß wurde.

»Ist was, Duffy?« fragte Horlocker. »Haben Sie mich nicht verstanden?«

»Wir können die Ablaßsequenz nicht mehr stoppen, Sir«, antwortete Duffy kleinlaut.

»Wie bitte?« fragte Pendergast mit scharfer Stimme.

Margo spürte, wie kalte Angst in ihr hochstieg. Bisher war sie davon ausgegangen, daß sie lediglich Horlocker überzeugen mußte, um die benötigte Zeit zu gewinnen.

»Was soll das, Duffy?« polterte Horlocker los. »Geben Sie Ihrem verdammten Computer doch einfach den Befehl, das Wasser im Reservoir zu lassen.«

»So funktioniert das nicht«, sagte Duffy.

»Aber das habe ich doch alles schon Captain Waxie erklärt: Wenn die Sequenz erst einmal eingeleitet ist, nimmt alles seinen Lauf. Unzählige Tonnen Wasser lassen sich nicht einfach von einer Minute auf die andere aufhalten. Die Hydraulik wird automatisch gesteuert, und ich kann ...«

Horlocker schlug mit der Faust auf den Tisch. »Wovon reden Sie überhaupt, Mann?« brüllte er.

»Ich kann hier am Computer nichts mehr machen«, erklärte Duffy bedrückt.

»Davon hat er mir kein Wort gesagt«, verteidigte sich Waxie.

»Wenn ich das gewollt hätte, dann ...«

Horlocker brachte den Captain mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen, bevor er sich mit leiser Stimme an den Ingenieur von den Stadtwerken wandte. »Ich will nicht wissen, was Sie nicht tun können, Duffy, sondern ob es eine Möglichkeit gibt, das Ablassen des Reservoirs noch irgendwie zu stoppen.«

»Na ja«, antwortete Duffy widerstrebend, »es müßte jemand unter den Hauptschieber gehen und die Hydraulikventile von Hand schließen. Aber das kann gefährlich werden, und außerdem hat man die Ventile nicht mehr betätigt, seit vor zehn Jahren das automatische System installiert wurde. Kein Mensch kann sagen, ob sie überhaupt noch funktionieren. Und dann wäre da noch das Wasser, das in das Reservoir nachfließt. Die Schleusen in den Bergen wurden bereits geöffnet und haben Millionen Liter Wasser auf den Weg geschickt, die sich jetzt nicht mehr aufhalten lassen. Selbst wenn es uns gelänge, den Hauptschieber von Hand zu schließen, dann würde dieses Wasser das Reservoir zum Überlaufen bringen. Der ganze Central Park würde überschwemmt und ...«

»Es ist mir scheißegal, ob dieser Park sich in einen gottverdammten See verwandelt oder nicht. Ich will, daß diese verdammten Ventile geschlossen werden, und zwar sofort. Nehmen Sie Waxie und so viele Männer, wie Sie brauchen, und machen Sie sich auf die Socken.«

»Aber Sir!« protestierte Waxie mit weit aufgerissenen Augen.

»Wäre es nicht besser, wenn ich ...« Als er Horlockers Gesicht sah, hielt er mitten im Satz inne.

Duffy wischte seine kleinen, schweißnassen Hände an der Hose ab. »Aber es ist nicht so leicht, hinunter zu den Ventilen zu kommen«, stammelte er. »Sie sind direkt unter dem Reservoir am Ablaßschacht ...«

»Haben Sie mich nicht verstanden, Duffy?« unterbrach ihn Horlocker. »Machen Sie, daß Sie von hier wegkommen, und drehen Sie diese Ventile zu. Wird's bald?«

»Ja, Sir«, murmelte Duffy, dessen Gesicht noch blasser geworden war.

»Und Sie, Waxie, gehen gefälligst mit«, wandte sich Horlocker an den mißmutig dreinblickenden Captain. »Sie haben uns die Suppe eingebrockt, und jetzt löffeln Sie sie gefälligst auch aus. Noch Fragen?«

»Ja, Sir!«

»Wie bitte?«

»Ich meine: Nein, Sir.«

Eine Weile sagte niemand ein Wort, bis Horlocker schließlich brüllte: »Worauf warten Sie noch? Raus, alle beide.«