6
In einem rauchgeschwängerten Winkel der Cat's Paw Bar zwängte sich Smithback in eine winzige Telefonzelle. Er hielt seinen Whiskey in der einen Hand, während er mit der anderen auf dem schlecht beleuchteten Tastenfeld die Nummer seines Büros eintippte. Dabei fragte er sich, wie viele Nachrichten wohl diesmal für ihn eingegangen waren.
Bill Smithback zweifelte nicht im geringsten daran, daß er einer der besten Journalisten in New York war, wenn nicht sogar der beste überhaupt. Vor eineinhalb Jahren hatte er die Welt mit seiner aufsehenerregenden Story über die Museumskreatur beglückt, die geradezu eine Revolution gegenüber dem reservierten blutleeren Geschreibsel gewesen war, das man sonst überall las. Rein Wunder übrigens, denn schließlich war Smithback damals zusammen mit D'Agosta und einer Gruppe von Ausstellungsbesuchern durch die Katakomben des Museums geirrt und hatte die Angst vor dem Monster hautnah am eigenen Leib verspürt. Der überwältigende Erfolg seines aufgrund dieser Erfahrungen verfaßten Buches hatte ihm seine jetzige Stellung als Polizeireporter der Post verschafft. Nun arbeitete er an dem Fall Wisher, der ihm wie ein Geschenk des Himmels vorkam. Spektakuläre Geschichten waren nämlich sehr viel seltener, als Smithback es sich vorgestellt hatte, und außerdem lauerten Konkurrenten wie dieser unsägliche Bryce Harriman von der Times nur darauf, sie einem vor der Nase wegzuschnappen. Smithback wußte, daß der Fall Wisher mindestens dasselbe Potential hatte wie die Museumsmorde vor achtzehn Monaten, wenn nicht gar mehr. Er mußte ihn nur richtig angehen.
Ein großer Journalist, dachte Smithback, während er dem Klingelton im Hörer lauschte, ergreift die Gelegenheiten, die sich ihm bieten. Ein gutes Beispiel dafür war die Wisher-Story, bei der er zunächst überhaupt nicht an die Mutter des Opfers gedacht und dann unverhofft herausgefunden hatte, was für eine außergewöhnliche Frau sie doch war. Unter dem Eindruck seines Besuches bei ihr hatte er für die Morgenausgabe der Post einen Artikel verfaßt, in dem er Pamela Wisher als den »Engel von Central Park South« bezeichnet und ihren Tod in den tragischsten Tönen geschildert hatte. Eine herzzerreißende Geschichte, aber der wirkliche Geniestreich war seine Idee gewesen, für Hinweise auf den Täter eine Belohnung von einhunderttausend Dollar auszusetzen. Die Idee war ihm beim Schreiben des Artikels gekommen, und er hatte sofort alles stehen – und liegengelassen, mit sie Arnold Murray, dem neuen Chefredakteur der Post, zu unterbreiten. Der hatte sie begeistert aufgenommen und Smithback grünes Licht gegeben, ohne auch nur Rücksprache mit dem Verleger zu nehmen. Schließlich wurde das Telefon abgehoben, und Ginny, die Redaktionssekretärin, erzählte Smithback aufgeregt, daß schon über zwanzig Anrufe wegen der Belohnung eingegangen wären. Leider waren sie alle unbrauchbar.
»Sonst gibt es nichts?« fragte Smithback ein wenig enttäuscht.
»Doch. Ein wirklich komischer Kerl hat nach Ihnen gefragt«, plapperte Ginny weiter. Sie war eine kleine, hagere Frau, die in Ronkonkoma lebte und eine Schwäche für Smithback hatte.
»Und was war das für ein Kerl?«
»Na ja, er war völlig zerlumpt und hatte einen ziemlich strengen Körpergeruch. Mein Gott, hat der gestunken.
Außerdem war er besoffen oder high oder so.«
Vielleicht ist das der heiße Tip, auf den ich schon die ganze Zeit warte, dachte Smithback aufgeregt »Was wollte der Mann?«
»Er hat gesagt, er hätte Informationen über den Wisher-Mord. Er will, daß Sie ihn in einer Herrentoilette in der Pennsylvania Station treffen.«
Fast hätte Smithback sein Glas fallen lassen. »In einer Herrentoilette? Soll das ein Scherz sein?«
»Tut mir leid, aber das hat er gesagt Meinen Sie, er ist ein Perversling?« fragte Ginny mit nur schlecht verhehltem Interesse.
»Hat er gesagt, in welcher Herrentoilette?«
Smithback hörte das Rascheln von Papier. »Einen Augenblick. Hier steht's: im nördlichen Untergeschoß, links neben dem Aufzug zu Gleis zwölf. Heute abend um acht Uhr.«
»Hat er gesagt, um welche Information es sich handelt?«
»Nein.«
»Danke, Ginny«, sagte Smithback. Noch während er den Hörer auflegte, sah er auf seine Armbanduhr. Es war 7.45 Uhr. Eine Herrentoilette in der Pennsylvania Station? Man mußte schon verrückt oder völlig verzweifelt sein, wenn man so einem Tip nachging.
Smithback war noch nie zuvor in einer Bahnhofstoilette auf den Penn Station gewesen, und er kannte auch niemanden, der einen solchen Ort je betreten hätte. Als er die Tür öffnete und in den großen, stickig-heißen kaum trat, raubte ihm der Gestank nach Urin und Durchfall den Atem. Lieber würde ich in die Hose pinkeln, dachte er, als freiwillig hierher zu gehen.
Smithback hatte sich fünf Minuten verspätet und hoffte fast, daß der Mann schon wieder fort sei. Oder vielleicht war das Ganze ja doch nur ein übler Scherz. Der Journalist machte kehrt und wollte die Toilette gerade wieder verlassen, als er hinter sich eine rauhe Stimme hörte.
»William Smithback?«
»Wer spricht da?« Smithback blickte sich rasch in dem menschenleeren Raum um, bis er in dem Spalt unter der letzten Toilettenkabine ein Paar Füße entdeckte. Die Tür öffnete sich, und ein kleiner magerer Mann schlurfte mit unsicheren Schritten auf Smithback zu. Sein längliches Gesicht war schmutzig, seine Kleider starrten vor Dreck, und seine fettigen, zerzausten Haare standen abenteuerlich in alle Richtungen ab. Ein völlig verfilzter Bart von unbeschreiblicher Farbe hing bis knapp oberhalb des Bauchnabels hinab, der durch einen langen Riß im Hemd des Mannes hervorspitzte.
»Sind Sie William Smithback?« fragte der Mann noch einmal.
»Wer sonst?«
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte sich der Mann um und stapfte zurück zu der offenen Toilettentür.
Dort blieb er stehen und drehte sich um. Er wartete offenbar darauf, daß Smithback ihm folgte.
»Was haben Sie für Informationen für mich?« fragte der Journalist.
»Kommen Sie mit«, entgegnete der Mann und deutete in die Toilettenkabine.
»Nein, das werde ich nicht tun«, entgegnete Smithback. »Wenn Sie mit mir reden wollen, dann mit Sie es hier. Ich werde jedenfalls nicht mit Ihnen dort hineingehen. Das können Sie sich abschminken.«
»Aber das ist nun mal der Weg.«
»Der Weg wohin?«
»Nach unten.«
Smithback näherte sich vorsichtig der offenen Tür. Der Mann war inzwischen in die Kabine getreten und hatte ein großes lackiertes Blech an der Hinterwand beiseite geschoben. Dahinter bemerkte Smithback ein schwarzes Loch in der gekachelten Wand, die so aussah, als habe sie seit Jahren niemand mehr saubergemacht.
»Da soll ich hinein?« fragte er.
Der Mann nickte.
»Und wo kommt man da hin?«
»Nach unten«, sagte der Mann abermals.
»Nicht mit mir«, erklärte Smithback und wollte sich umdrehen.
Der Mann sah ihm direkt in die Augen. »Ich soll Sie zu Mephisto bringen«, sagte er. »Mephisto möchte mit Ihnen über den Mord an dem Mädchen sprechen. Er weiß viel.«
»Jetzt hören Sie aber auf!«
Der Mann wandte den Blick nicht von Smithbacks Gesicht »Sie können mir vertrauen«, sagte er leise.
Irgendwie glaubte Smithback dem Mann, trotz seines verdreckten Äußeren und seines zugedröhnten Blickes.
»Was weiß er?«
»Das wird Mephisto Ihnen selber sagen.«
»Und wer ist dieser Mephisto?«
»Er ist unser Anführer«, entgegnete der Mann mit einem Achselzucken, so, als wäre damit auch alles gesagt.
»Wessen Anführer?«
»Na, der Leute von Route 666.«
Trotz seiner Zweifel verspürte Smithback auf einmal eine seltsame Erregung. Gab es dort im Untergrund tatsächlich eine organisierte Gemeinde? Das wäre ja allein für sich schon eine tolle Geschichte. Und wenn dieser Mephisto dann auch noch tatsächlich etwas über den Wisher-Mord wußte ...
»Wo sind diese Leute von Route 666?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber ich führe Sie hin.«
»Wie heißen Sie?« wollte Smithback wissen.
»Man nennt mich den Heckschützen«, antwortete der Mann mit einem Anflug von Stolz in seinen wäßrigen Augen.
»Passen Sie mal auf, Mr. Heckschütze«, sagte Smithback. »Ich würde Ihren Mephisto ja gerne kennenlernen, aber Sie müssen auch verstehen, daß ich nicht so einfach mit Ihnen in dieses Loch da hineinkriechen kann.
Wer weiß, was mich da drinnen erwartet – ein Hinterhalt, ein Überfall, sonst was.«
Der Mann schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde Sie beschützen. Jeder weiß, daß ich der Läufer von Mephisto bin. Ihnen wird nichts geschehen.«
Smithback musterte den Mann mit kritischen Blicken: glasige Augen, laufende Nase und dieser schmutzige Bart, der ihn an einen alten Zauberer erinnerte. Immerhin hatte dieser Mann den weiten Weg in die Redaktion der Post auf sich genommen, was einem Burschen, der so heruntergekommen wie er aussah, bestimmt nicht leichtgefallen war.
Auf einmal mußte Smithback an Bryce Harrimans selbstzufriedenes Gesicht denken und stellte sich vor, wie sein Konkurrent einen Rüffel von seinem Chefredakteur bekam, weil er, Smithback, ihm schon wieder eine tolle Story vor der Nase weggeschnappt hatte.
Diese Vorstellung gefiel ihm sehr.
Smithback trat in die Kabine und kroch also hinter dem Mann, der sich Heckschütze nannte, in das dunkle Loch. Als sie auf der anderen Seite der Toilettenwand angekommen waren, zog sein Führer das Blech wieder vor die Öffnung.
Smithback sah, daß er sich in einem langen, engen Tunnel befand. Über seinem Kopf liefen Wasser- und Fernwärmeleitungen wie dicke graue Adern an der Decke entlang, die gerade hoch genug war, daß Smithback aufrecht stehen konnte. Durch im Abstand von etwa dreißig Metern angebrachte Gitterroste sickerte schwaches Abendlicht in die Dunkelheit herab.
Mit umsicheren Schritten folgte der Reporter der kleinen gebückten Gestalt, die vor ihm durch das Dämmerdunkel lief. Ab und zu bebte der schmale Gang vom Rumpeln eines U-Bahnzugs, das Smithback mehr spürte, als er es vernahm.
Nachdem sie eine Viertelstunde lang den nicht enden wollenden Tunnel entlang gegangen waren, wurde Smithback langsam unruhig. »Entschuldigen Sie«, wandte er sich an den Heckschützen, »warum müssen wir eigentlich so weit laufen?«
»Weil Mephisto will, daß die direkten Zugänge zu seinem Territorium ein Geheimnis bleiben.«
Smithback nickte und stieg über den aufgequollenen Kadaver eines Hundes, der mitten im Gang lag. Er konnte die Vorsicht dieses Mephisto zwar verstehen, aber irgendwann mußte damit auch Schluß sein. Sicher waren sie jetzt schon so weit, um unter dem Central Park zu sein.
Schließlich machte der Tunnel eine sanfte Rechtskurve, und Smithback konnte in der glatten Betonwand eine Reihe von massiv aussehenden Stahltüren ausmachen. An der Decke lief ein dickes Rohr, aus dessen Isoliermantel Wasser tropfte. Ein Schild an der Isoliermatte verkündete: ACHTUNG ASBEST! STAUB VERMEIDEN! GEFAHR VON KREBS UND LUNGENERKRANKUNGEN.
Der Heckschütze blieb stehen und kramte aus einer seiner Taschen einen Schlüssel hervor, den er in das Schloß der ersten Metalltür steckte.
»Wo haben Sie denn den Schlüssel her?« fragte Smithback.
»Wir haben geschickte Leute in unserer Gemeinde«, antworte te der Mann und hielt dem Reporter die Tür auf.
Als sie sich hinter ihnen schloß, umfing sie tiefe Dunkelheit.
Auf einmal wurde Smithback klar, wie sehr er sich auf das schwache Licht verlassen hatte, das durch die Gitterroste in den Tunnel gefallen war. Er spürte, wie Panik in ihm aufstieg.
»Haben Sie denn keine Taschenlampe?« stammelte er.
Smithback hörte ein kratzendes Geräusch und sah, wie ein Streichholz aufflammte. In seinem flackernden Licht erblickte er eine Reihe von Betonstufen, die einen halben Meter vor ihm in die Tiefe führten.
Der Heckschütze machte eine rasche Handbewegung, und das Streichholz verlosch.
»Zufrieden?« fragte er mit monotoner Stimme.
»Nein«, entgegnete Smithback rasch. »Zünden Sie noch eines an.«
»Erst, wenn es nötig ist.«
In der Dunkelheit tastete sich Smithback vorsichtig die Treppe hinab, wobei er sich mit den Händen an den kalten, glatten Wänden abstützte. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er den Abstieg geschafft hatte. Als schließlich ein weiteres Streichholz aufflammte, sah Smithback, daß die Treppe in einem gewaltigen Eisen
bahntunnel endete, dessen Wände das orangefarbene Flackern der kleinen Flamme nur schwach reflektierten.
»Und wo sind wir jetzt?« fragte Smithback.
»Das ist Gleis hundert«, antwortete der Heckschütze. »Zwei Stockwerke unter der Oberfläche.«
»Wann sind wir endlich da?«
Das Streichholz ging aus, und Smithback starrte wieder in die Dunkelheit.
»Folgen Sie mir«, kam die Stimme aus der Finsternis. »Aber wenn ich ›Halt!‹ sage, bleiben Sie stehen, und zwar sofort«
Langsam gingen sie auf die Gleise zu. Smithback stolperte über eine Schiene und hatte mit einer weiteren Panikattacke zu kämpfen.
»Halt!« hörte er den Heckschützen sagen und hielt an. Ein weiteres Streichholz flammte auf. »Sehen Sie das?« fragte der Heckschütze und deutete auf eine glänzende, mit einem dicken gelben Strich auf den Schwellen gekennzeichnete Metallschiene in der Mitte der Gleise. »Da sollten Sie besser nicht drauftreten, denn das ist die Stromschiene.«
Das Streichholz erlosch. Smithback hörte, wie der Mann langsam weiterging.
»Halt! Zünden Sie noch ein Streichholz an!« rief er.
Eine kleine Flamme erschien, in deren Licht Smithback vorsichtig über die Stromschiene stieg.
»Gibt es viele von der Sorte?« fragte der Journalist.
»Ja. Aber ich zeige sie Ihnen schon.«
»Gott im Himmel«, murmelte Smithback, als die Flamme erlosch. »Was passiert eigentlich, wenn man auf so ein Ding da drauftritt?«
»Der Strom ist so stark, daß Ihr Körper explodiert«, sagte die Stimme des Heckschützen aus dem Nirgendwo.
»Er reißt Ihnen Arme, Beine und sogar den Kopf ab.« Der Heckschütze schwieg eine Weile, dann meinte er trocken: »Sie steigen also besser nicht drauf.«
Wieder ging ein Streichholz an und beleuchtete eine weitere gelb gekennzeichnete Schiene. Smithback stieg vorsichtig darüber und sah, wie der Heckschütze auf ein kleines Loch in der Tunnelwand deutete, das man im trüben Licht des Streichholzes nur mit Mühe erkennen konnte. Es war in die Ziegelwand eines zugemauerten Torbogens hineingebrochen und etwa einen halben Meter hoch und einen Meter breit.
»Da müssen wir hinunter«, erklärte der Heckschütze.
Smithback spürte einen warmen Luftzug aus dem Loch aufsteigen. Neben einem fauligen Gestank, der Smithback fast den Magen umdrehte, wehte er auch den schwachen Rauch eines Holzfeuers herauf.
»Hinunter?« fragte Smithback ungläubig und drehte das Gesicht zur Seite. »Schon wieder? Und wie soll ich das bitte schön machen? Soll ich etwa auf allen vieren da hineinkriechen?«
Er hörte, wie der Heckschürze sich bereits durch das Loch zwängte.
»Das mache ich nicht mit!« rief Smithback ihm hinterher. »Ich komme nicht mit hinunter, hören Sie? Wenn dieser Mephisto mit mir reden will, dann soll er sich gefälligst zu mir heraufbequemen.«
Es folgte eine längere Stille, dann hörte Smithback von der anderen Seite der Ziegelwand die hohl klingende Stimme des Heckschützen: »Mephisto kommt nie weiter herauf als Ebene drei.«
»Dann wird er diesmal eben eine Ausnahme machen müssen«, entgegnete Smithback undv ersuchte, dabei zuversichtlicher zu klingen, als er sich fühlte. Auf einmal wurde ihm klar, daß er sich in eine unmögliche Situation gebracht hatte. Er hätte diesem bizarren, unsicheren Typen niemals vertrauen dürfen.
Jetzt hatte er den Salat: er steckte in der rabenschwarzen Dunkelheit unter der Stadt und hatte keine Ahnung, wie er wieder nach oben gelangen konnte.
Wieder war es lange still.
»Sind Sie noch da?« rief Smithback schließlich in das Loch hinein.
»Warten Sie hier!« befahl die Stimme des Heckschützen.
»Gehen Sie etwa fort? Dann lassen Sie mir wenigstens ein paar Streichhölzer da!« Smithback spürte, wie ihn etwas am Knie berührte, und erschrak fürchterlich. Als er nach unten griff, spürte er eine durch das Loch gestreckte Hand, in der er drei Streichhölzer ertasten konnte. »Ist das alles?« fragte er.
»Mehr kann ich nicht erübrigen«, ließ sich die Stimme vernehmen. Dann hörte Smithback, wie sich auf der anderen Seite der Wand langsam Schritte entfernten. Der Heckschütze sagte noch etwas, was Smithback aber nicht mehr verstehen konnte.
Eine totale Stille brach über Smithback herein. Da er sich nicht traute, sich hinzusetzen, ging er in die Hocke und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Die Hand fest um seine drei Streichhölzer gekrampft, fing er an, sich massive Vorwürfe zu machen. Wie hatte er nur einem Penner bis hierher folgen können? Keine Story auf der ganzen Welt war es wert, sich in eine solche Gefahr zu begeben. War es denn möglich, mit nur drei Streichhölzern wieder nach oben zu finden? Smithback schloß die Augen und versuchte, sich daran zu erinnern, welchen Weg er und der Heckschütze genommen hatten. Schließlich mußte er einsehen, daß er keine Chance hatte. Seine drei Streichhölzer würde er allein schon brauchen, um die gefährlichen Stromschienen zu erkennen.
Als Smithback die Knie weh taten, richtete er sich auf und starrte mit weit geöffneten Augen in den stillen Tunnel. Die Dunkelheit war so undurchdringlich, daß er anfing, sich irgendwelche schemenhaften Bewegungen einzubilden. Smithback zwang sich, ruhig zu bleiben und gleichmäßig zu atmen.
Es kam ihm vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, seit der Heckschütze ihn allein gelassen hatte. Wenn der Kerl bloß nicht ...
»Schreiberling!« hörte er auf einmal eine geisterhafte, körperlose Stimme aus dem Loch zu seinen Füßen.
»Was?« rief Smithback erstaunt und fuhr herum.
»Ich spreche doch mit William Smithback, dem Schreiberling, oder etwa nicht?« Die Stimme war dumpf und rauh und stieg wie ein sinistrer Singsang aus der Tiefe empor.
»Ja, ich bin Smithback. Bill Smithback. Und wer sind Sie?« rief Smithback in das Loch hinein. Es war ein beunruhigendes Gefühl, sich mit einer Stimme aus der Dunkelheit zu unterhalten.
»Ich bin Mephisto«, kam die Antwort, wobei das S wie ein böses Zischen klang.
»Wieso haben Sie so lange gebraucht?« fragte Smithback nervös und ging vor dem Loch in der Ziegelwand in die Hocke.
»Der Weg ist weit hier herauf.«
Smithback konnte es kaum glauben, daß dieser Mann, der jetzt irgendwo unter ihm stehen mußte, mehrere Ebenen nach oben hatte steigen müssen, um an diesen Ort zu gelangen.
»Kommen Sie zu mir herauf?« fragte Smithback.
»Neinl Sie sollten sich geehrt fühlen, Schreiberling, daß ich überhaupt hier bin. So weit oben war ich in den vergangenen fünf Jahren nicht«
»Warum das?« wollte Smithback wissen und tastete nach seinem Diktiergerät.
»Weil wir hier in meinem Territorium sind. Ich bin der Herr von allem, was Sie hier sehen.«
»Aber ich sehe überhaupt nichts.«
Ein trockenes Kichern kam aus dem Loch in der Ziegelwand.
»Falsch! Sie sehen Dunkelheit, und die Dunkelheit ist mein Reich. Direkt über Ihnen fahren die U-Bahnen und noch weiter oben rennen die Oberflächenbewohner herum wie aufgescheuchte Hühner. Aber das Gebiet unter dem Central Park – und dazu zählen die Route 666, der Ho-Chi-Minh-Pfad und das Blockhaus – gehört mir.«
Smithback dachte einen Augenblick nach. Route 666 war eine ironische Anspielung auf die berühmte Route 66, aber was hatten die beiden anderen Namen zu bedeuten? »Was ist der Ho-Chi-Minh-Pfad?« rief er nach unten.
»Das war mal eine Gemeinde wie die anderen auch«, zischte die Stimme. »Aber jetzt gehört sie zu mir und genießt meinen Schutz. Vor langer Zeit kannten viele von uns den richtigen Ho-Chi-Minh-Pfad ziemlich gut Das waren die armen Schweine, die man in den Dschungel geschickt hat, um ein unschuldiges Dritte Welt-Land in den Krieg zu stürzen. Heute will die Gesellschaft von diesen Leuten nichts mehr wissen. Viele leben jetzt hier unten im selbstgewählten Exil, wo sie atmen, sich fortpflanzen und sterben. Sie wie wir alle wollen nur eines: daß man uns in Ruhe läßt.«
Smithback hielt sein Diktiergerät in das Loch und hoffte, daß es in der feuchten Luft auch richtig funktionierte.
Natürlich hatte er schon davon gehört, daß Obdachlose Schutz in den U-Bahnschächten suchten, aber daß es unter der Erde ganze Gemeinden geben sollte, war ihm neu ...
»Sind denn alle Ihre Bürger Obdachlose?« fragte er.
Mephisto ließ sich mit der Antwort Zeit. »Uns gefällt dieses Wort nicht besonders, Schreiberling«, sagte er dann. »Wir haben ein Obdach hier unten, und wenn Sie nicht so ängstlich wären, dann könnte ich es Ihnen zeigen. Glauben Sie mir, wir haben hier alles, was wir brauchen. Aus den Leitungen zapfen wir Wasser zum Kochen und Waschen, und die Stromkabel versorgen uns mit Elektrizität. Die paar Dinge, die wir von der Oberfläche benötigen, bringen uns die Läufer. Im Blockhaus haben wir sogar eine Krankenschwester und einen Schullehrer. Andere Gebiete im Untergrund, wie zum Beispiel die Bahndepots in der West Side, sind wilde gesetzlose Orte, aber bei uns hier geht es zivilisiert zu.«
»Sie haben eben einen Schullehrer erwähnt Heißt das etwa, daß es auch Kinder bei Ihnen gibt?«
»Sie sind ganz schön naiv, Schreiberling. Viele von uns sind nur deshalb hier, weil sie Kinder haben und ein grausamer Staat sie ihnen wegnehmen und in ein Heim stecken will. Diese Menschen ziehen meine Welt der Wärme und der Dunkelheit Ihrer eiskalten Welt der Verzweiflung vor, Schreiberling.«
»Warum nennen Sie mich eigentlich immer ›Schreiberling‹?«
Wieder tönte ein heiseres Kichern zu Smithback herauf. »Aber das sind Sie doch, oder? William Smithback, der Schreiberling?«
»Ja, aber ich ...«
»Für einen Journalisten sind Sie erstaunlich schlecht belesen. Beschäftigen Sie sich erst einmal mit Popes ›Die Dummköpfe‹ bevor wir uns noch mal über dieses Thema unterhalten.«
Langsam begann es Smithback zu dämmern, daß er mit einem sehr viel gebildeteren Menschen sprach, als er erwartet hatte.
»Wer sind Sie eigentlich wirklich?« fragte er. »Wie ist Ihr richtiger Name?«
Wieder schwieg der Mann eine Weile. »Meinen Namen habe ich oben in Ihrer Welt gelassen, zusammen mit allem anderen«, zischte es schließlich aus dem Loch herauf. Jetzt bin ich Mephisto, und ich rate Ihnen, mir niemals wieder diese Frage zu stellen. Ebensowenig wie irgendeinem anderen hier unten.«
Smithback schluckte schwer. »Tut mir leid«, sagte er.
Trotz seiner Entschuldigung schien er Mephisto verärgert zu haben, denn dessen Stimme klang jetzt viel schärfer. »Ich habe Sie aus einem ganz bestimmten Grund hier herunterbringen lassen.«
»Wegen des Wisher-Mordes, oder?« fragte Smithback eifrig.
»In Ihren Artikeln haben Sie geschrieben, daß bei der Leiche der jungen Frau und dem anderen Skelett die Köpfe fehlten. Ich habe Sie hierherbringen lassen, um Ihnen mitzuteilen, daß die Enthauptung noch das Harmloseste ist, was den beiden hat zustoßen können.« Die Stimme ging in ein heiseres freudloses Lachen über.
»Wie meinen Sie das?« fragte Smithback. »Und wissen Sie, wer es getan hat?«
»In gewisser Weise schon«, zischte Mephisto. »Es waren dieselben, die auch meinen Leuten nachstellen. Die Wrinkler.«
»Die Wrinkler? Wer sind die Wrinkler?« fragte Smithback. »Ich verstehe nicht ganz ...«
»Dann halten Sie den Mund und hören Sie mir zu, Schreiberling! Lange Zeit war meine Gemeinde ein sicherer Zufluchtsort, aber seit dem vergangenen Jahr stellt man uns nach. Außerhalb der Sicherheitszone werden meine Leute angegrfffen und auf bestialische Weise ermordet. Meine Schützlinge haben große Angst. Immer wieder habe ich Läufer hinauf zur Polizei geschickt. Zur Polizei!« Smithback hörte ein verächtliches Spucken, bevor die Stimme in einer höheren Tonlage fortfuhr: »Diese korrupten Wachhunde der Gesellschaft sind mo
ralisch am Ende. Für sie sind wir nichts weiter als Abschaum, den man entweder einsperrt oder verrecken läßt Was bedeutet denen schon unsereiner? Fat Boy, Hector, Dark Annie, der Master Sergeant – sie und viele andere wurden getötet, und kein Hahn hat je nach ihnen gekräht. Aber wehe, wenn so ein kleines Gesellschaftshäschen mit seidener Unterwäsche enthauptet wird! Dann ist die ganze Stadt im Aufruhr!«
Smithback befeuchtete sich die Lippen und fragte sich, wie stichhaltig Mephistos Informationen wohl sein mochten. »Was meinten Sie vorhin, als Sie sagten, man stelle Ihren Leuten nach?« wollte er wissen.
»Daß jemand Jagd auf sie macht«, ließ sich die zischende Stimme nach einer Weile vernehmen. »Und zwar von draußen.«
»Von draußen?« fragte Smithback. »Wie meinen Sie das? Bedeutet das von der Oberfläche?«
»Nein. Von außerhalb der Route 666. Außerhalb des Blockhauses«, kam die Antwort, die so leise wie ein Flüstern war. »Es gibt hier unten noch einen anderen, einen verlassenen verbotenen Ort. Vor einem Jahr etwa hörten wir die ersten Gerüchte, daß sich jemand dort aufhalten soll. Bald darauf begannen die Morde, und immer mehr von meinen Leuten verschwanden. Zuerst schickten wir noch Suchtrupps nach ihnen aus, aber die meisten der Opfer waren wie vom Erdboden verschluckt. Die wenigen, die wir fanden, hatten keine Köpfe mehr, und ihr Fleisch war ihnen vom Körper weggefressen worden.«
»Einen Moment mal«, unterbrach Smithback. »Was soll das heißen, weggefressen? Wollen Sie damit etwa sagen, daß es dort unten Kannibalen gibt, die Menschen töten, ihnen die Köpfe abschneiden und sie dann verspeisen?« Smithback konnte kaum glauben, was er da hörte. Vielleicht war dieser Mephisto ja doch verrückt? Nicht zum erstenmal drängte sich Smithback die Frage auf, wie er wohl wieder zurück an die Oberfläche gelangen sollte.
»Der zweifelnde Ton in Ihrer Stimme gefallt mir nicht, Schreiberling«, entgegnete Mephisto. »Aber meine Antwort auf Ihre Frage lautet: ja. Genau das wollte ich damit sagen. Heckschütze?«
»Ja?« sagte eine Stimme direkt neben Smithback.
Der Journalist schrie vor Schreck laut auf und machte einen Satz zur Seite. »Wie ist denn der wieder hier heraufgekommen?« stieß er hervor.
»Mein Reich hat viele verschlungene Wege«, antwortete Mephistos Stimme. »Und wer lange genug in dieser herrlichen Dunkelheit lebt, entwickelt eine erstaunlich gute Nachtsicht«
Smithback schluckte. »Hören Sie«, sagte er, »es geht nicht darum, ob ich Ihnen glaube oder nicht, aber ...«
»Seien Sie still!« warnte Mephisto. »Wir haben schon viel zu lange geredet. Heckschütze, bring ihn zurück nach oben.«
»Aber was ist mit der Belohnung? Interessiert Sie die denn nicht?«
»Haben Sie mir denn überhaupt nicht zugehört?« zischte es aus dem Loch. »Euer Geld bedeutet mir nichts.
Die Sicherheit meiner Leute ist das einzige, worum ich mir Sorgen mache. Gehen Sie hinauf in Ihre Welt, und schreiben Sie Ihren Artikel. Erzählen Sie Ihren Leuten, was ich Ihnen erzählt habe. Sagen Sie ihnen, daß diejenigen, die Pamela Wisher getötet haben, auch meine Leute töten. Und daß diese Morde aufhören müssen.«
Es kam Smithback vor, als hätte sich die körperlose Stimme während der letzten Sätze immer weiter entfernt.
»Und denken Sie dran«, hallte sie aus irgendwelchen Tunnels weit unter seinen Füßen herauf. »Wir können auch zu anderen Mitteln greifen, um unseren Worten Gehör zu verschaffen.«
»Aber ich brauche noch ...«, setzte Smithback an.
Da packte ihn eine Hand am Ellenbogen. »Mephisto ist schon fort«, sagte der Heckschütze neben ihm. »Ich bringe Sie jetzt wieder nach oben.«