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Als Smithback die große Eingangshalle des Restaurants Four Seasons betrat, war er froh, der Hitze, dem Lärm und dem Gestank der Park Avenue entkommen zu sein. Gemessenen Schrittes näherte er sich der quadratischen Bar, an der er schon so oft gesessen war und sehnsüchtig an dem Gemälde von Picasso vorbei ins unerreichbare Paradies geschaut hatte. Diesmal brauchte er sich nicht an der Bar herumzudrücken, er steuerte vielmehr direkt auf den Oberkellner zu.
Die Nennung eines bestimmten Namens genügte, und schon wurde Smithback ins Allerheiligste des berühmten Lokals geleitet.
Obwohl der Pool-Room bis auf den letzten Platz besetzt war, sorgte schon allein die schiere Größe des Raumes für eine ruhige und entspannte Atmosphäre. Der Oberkellner führte Smithback an Industriemagnaten, Immobilienhaien und Zeitungszaren vorbei zu einem der begehrten Tische direkt neben dem Springbrunnen, wo Mrs. Wisher bereits Platz genommen hatte.
»Mr. Smithback«, sagte sie. »Danke, daß Sie gekommen sind. Bitte, setzen Sie sich doch.«
Während Smithback sich auf dem Stuhl gegenüber niederließ, blickte er sich nach allen Seiten um und hoffte, daß ihm genügend Zeit blieb, um dieses Mittagessen auch wirklich zu genießen. Um sechs Uhr war Redaktionsschluß, und er hatte noch nicht allzuviel von seinem Artikel für die morgige Ausgabe der Post geschrieben.
»Trinken Sie ein Glas Amarone mit mir?« fragte Mrs. Wisher, die eine frisch gestärkte safranfarbene Bluse und einen dunklen Faltenrock trug.
»Gerne«, antwortete Smithback und sah ihr in die Augen.
Diesmal fühlte er sich in Mrs. Wishers Gegenwart sehr viel wohler als bei ihrer letzten Begegnung in ihrer abgedunkelten Wohnung, wo er stocksteif auf dem Sofa gesessen und sich in Grund und Boden geschämt hatte.
Jetzt, nachdem er ihrer toten Tochter den Beinamen »Engel von Central Park South« gegeben, seinen Chefredakteur zum Aussetzen der Belohnung bewegt und auch noch den wohlwollenden Artikel über die Demonstration auf der Grand Army Plaza geschrieben hatte, war ihm Mrs. Wishers Wertschätzung gewiß.
Mrs. Wisher winkte den Weinkellner herbei und wartete, bis dieser Smithbacks Glas gefüllt und sich wieder zurückgezogen hatte. »Mr. Smithback«, begann sie dann, »Sie werden sich sicher fragen, weshalb ich Sie zum Mittagessen eingeladen habe.«
»Da haben Sie recht«, erwiderte Smithback und probierte den Wein, der ausgezeichnet war.
»Dann will ich Sie nicht lange raten lassen. In dieser Stadt werden sich demnächst gewisse Ereignisse zutragen, und ich möchte, daß Sie sie dokumentieren.«
»Ich?« fragte Smithback und stellte sein Weinglas ab.
Mrs. Wishers Mundwinkel hoben sich leicht. Fast sah es so aus, als würde sie lächeln. »Ich dachte mir schon, daß Sie das überraschen würde. Aber Sie müssen wissen, Mr. Smithback, daß ich seit unserem letzten Treffen Erkundigungen über Sie eingezogen habe. Und außerdem habe ich mir ihr Buch über die Museumsmorde besorgt«
»Sie haben sich tatsächlich ein Exemplar gekauft?« fragte Smithback hoffnungsfroh.
»Nein, ich habe es mir in der städtischen Bücherei ausgeliehen. Spannend geschrieben, meine Hochachtung.
Ich wußte gar nicht, daß Sie damals mittendrin im Geschehen waren.«
Smithback warf einen raschen Blick auf ihr Gesicht, konnte aber keine Anzeichen von Sarkasmus entdecken.
»Ihren Artikel über die Demonstration habe ich auch gelesen«, fuhr Mrs. Wisher fort. »Er hatte einen positiven Grundtenor, den ich bei so manch anderem Blatt vermißt habe. Und dann wollte ich mich noch bei Ihnen bedanken.«
»Bedanken? Wofür?« fragte Smithback und wurde ein wenig nervös.
»Nun, schließlich haben Sie mich davon überzeugt, daß sich hier in New York nur dann etwas verändert, wenn man der Stadtverwaltung auf die Füße steigt. Erinnern Sie sich noch daran, was Sie bei unserem ersten Treffen gesagt haben? ›Die Menschen in dieser Stadt nehmen etwas erst dann wahr, wenn man es ihnen um die Ohren haut‹. Wenn Sie nicht gewesen wären, würde ich jetzt wohl noch immer in meinem Wohnzimmer sitzen und fruchtlose Beschwerdebriefe an den Bürgermeister schreiben, anstatt meinen Schmerz in etwas Nutzbringendes zu verwandeln.«
Smithback nickte. An dem, was die Frau sagte, war etwas dran.
»Seit der Demonstration hat unsere Bewegung enormen Zustrom bekommen«, erklärte Mrs. Wisher. »Wir haben mit unserem Anliegen offenbar einen Nerv getroffen. Viele Menschen haben sich zusammengetan, Menschen mit viel Macht und beträchtlichem Einfluß. Aber das bedeutet noch lange nicht, daß sich unsere Botschaft nicht auch an den ganz normalen Mann auf der Straße richtet. Und genau den können wir über Ihre Zeitung erreichen.«
Smithback wurde zwar nur ungern daran erinnert, daß er hauptsächlich von kleinen Leuten gelesen wurde, aber er ließ es sich nicht anmerken. Außerdem hatte Mrs. Wisher ja völlig recht.
»Deshalb möchte ich Ihnen folgenden Vorschlag machen«, fuhr sie fort und legte ihre kleinen, perfekt manikürten Finger auf das Tischtuch. »Ich werde Ihnen zu jeder Aktion, die wir in Zukunft planen, privilegierten Zugang verschaffen. Die meisten dieser Aktionen werden ohne offizielle Anmeldung erfolgen, damit die Verwaltung erst dann davon erfährt, wenn sie keine wirksamen Gegenmaßnahmen mehr ergreifen kann. Sie werden als einziger Journalist darüber informiert, was wann, wo und wie laufen wird. Wenn Sie wollen, können Sie bei den Demonstrationen immer in meiner unmittelbaren Umgebung sein und somit aus dem Mittelpunkt des Geschehens berichten. Sammeln Sie Erfahrungen aus nächster Nähe, und hauen Sie sie Ihren Lesern um die Ohren.«
Smithback hatte Mühe, seine Begeisterung im Zaum zu halten.
Das war doch zu schön, um wahr zu sein!
»Ich könnte mir auch vorstellen, daß Sie vielleicht wieder mal ein Buch schreiben wollen«, fuhr Mrs. Wisher fort »Nach dem erfolgreichen Abschluß unserer Aktion ›Säubert New York‹ haben Sie meinen Segen dazu.
Ich selbst werde mich für Interviews zur Verfügung stellen, und Hiram Bennett, der Chef von Arcadia House, ist einer meiner engsten Freunde. Ich könnte mir vorstellen, daß er großes Interesse an einem solchen Manuskript hätte.«
Großer Gott, dachte Smithback. Hiram Bennett war einer der einflußreichsten Verleger der Stadt. Er konnte sich schon ausmalen, wie Arcadia House und Octavo, der Verlag, der sein Buch über die Museumsmorde herausgebracht hatte, sich gegenseitig überboten. Er würde seinen Agenten die Rechte richtiggehend versteigern lassen – mit einem unteren Limit von zweihundert Riesen – oder halt, besser zweihundertfünfzig- und zehn Prozent Beteiligung und ...
»Als Gegenleistung dafür verlange ich folgendes«, riß ihn Mrs. Wishers kühle Stimme in die Realität zurück:
»Ich möchte, daß Sie sich von nun an ausschließlich der Berichterstattung über die Aktion ›Säubert New York‹ widmen. Damit meine ich, daß sich alle Ihre Zeitungsartikel einzig und allein auf dieses Thema konzentrieren.«
»Wie bitte?« fragte Smithback ungläubig. »Aber ich bin Kriminalreporter, Mrs. Wisher, und als solcher habe ich Verpflichtungen gegenüber meiner Redaktion.« Seine Träume von schriftstellerischem Ruhm verflogen so rasch, wie sie gekommen waren, und wichen dem Bild seines tobenden Chefredakteurs, der auf der Ablieferung der vereinbarten Artikel bestand.
Mrs. Wisher nickte. »Das weiß ich. Aber machen Sie sich keine Sorgen, denn bald wird es nichts Wichtigeres in dieser Stadt mehr geben als unsere Aktion. Sobald wir unsere Planung abgeschlossen haben, teile ich Ihnen die Einzelheiten mit. Vertrauen Sie mir, diese Zusammenarbeitwird für beide Seiten äußerst fruchtbar sein.«
Smithback dachte rasch nach. In ein paar Stunden mußte sein Artikel über das, was er bei der Museumskonferenz belauscht hatte, in Druck gehen. Er hatte ihn ohnehin schon aufgeschoben, weil er – leider vergeblich – auf weiterführende Informationen gehofft hatte. Aber auch so würde ihm diese Geschichte endlich die langersehnte Gehaltserhöhung bringen und diesem Schnösel von Harriman ein für allemal den Wind aus den Segeln nehmen.
Aber würde sie das wirklich? Die groß angekündigte Belohnung hatte keine brauchbaren Hinweise ergeben, und seine Geschichte über Mephisto hatte nicht das Echo gefunden, das er sich eigentlich erhofft hatte. Was den Artikel anlangte, den er heute schreiben wollte, so war Smithback sich nicht sicher, ob er nach der Veröffentlichung nicht Scherereien wegen seines unerlaubten Eindrängens in das Museum bekommen würde. Außerdem war die Verbindung zwischen Brambells Ermordung und dessen Enthüllungen während des Vortrags, die er in seinem Artikel ziehen wollte, nur schwer zu beweisen.
Der Vorschlag hingegen, den Mrs. Wisher ihm soeben unterbreitet hatte, barg möglicherweise mehr und journalistischeren Sprengstoff als der für morgen geplante Museumsartikel. Smithbacks Reporterinstinkt sagte ihm, daß es sich dabei möglicherweise mit einen echten Glücksfall handelte. Vielleicht konnte er sich ja krank melden und Murray ein paar Tage lang hinhalten. Und dann würde er ihn mit einer Geschichte überraschen, die es wirklich in sich hatte.
Smithback blickte auf. »In Ordnung, Mrs. Wsher, ich mache mit.«
»Nennen Sie mich doch Anette«, sagte Mrs. Wisher und blickte ihm mit einem Anflug von Lächeln in die Augen, bevor sie ihre Aufmerksamkeit der Speisekarte zuwandte. »Und jetzt lassen Sie uns bestellen. Ich würde Ihnen die Kammuscheln mit Kaviar an Zitronenschaum empfehlen. Die sind hier nämlich ganz ausgezeichnet«