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Die Metalltür am Ende des graugestrichenen Ganges war mit schablonengeschriebenen Großbuchstaben als »Forensische Anthropologie« gekennzeichnet. Dahinter verbarg sich das hochmoderne Labor zur Untersuchung von Knochen und anderen menschlichen Überresten. Zu ihrem Erstaunen fand Margo die Tür verschlossen. Seltsam, dachte sie, denn sie war schon unzählige Male hier gewesen und hatte bei der Analyse von peruanischen Mumien oder von Knochen der Anasazi-Indianer mitgeholfen. Niemals war bislang die Tür abgesperrt gewesen. Gerade als Margo die Hand hob, um zu klopfen, wurde die Tür von innen geöffnet, so daß ihr Fingerknöchel in die Luft stieß.

Sie trat ein und blieb abrupt stehen. Das Labor, das normalerweise hell erleuchtet war und von Doktoranden und Assistenzkuratoren nur so wimmelte, war in eine merkwürdige Dunkelheit getaucht Vor die Fenster, die normalerweise einen herrlichen Rundumblick auf den Central Park boten, hatte man schwere Vorhänge gezogen, so daß die Elektronenmikroskope, die Röntgengeräte und die großen Apparate zur Elektrophorese in dem dämmrigen Licht nur als düstere Schatten an der hinteren Wand des Labors zu erahnen waren.

Lediglich der Labortisch in der Mitte des Raumes war von starken Halogenlampen hell erleuchtet. Auf dem Tisch sah Marge ein menschliches Skelett ohne Kopf, dessen braune Knochen noch von zusammengeschrumpften Bändern und Sehnen zusammengehalten wurden. Daneben lag unter einer blauen Plastikplane ein länglicher Gegenstand von etwa derselben Größe. Erst jetzt fiel Margo auf, daß ein schwacher, aber unverkennbarer Leichengeruch den Raum erfüllte.

Sie hörte, wie jemand hinter ihr die Tür schloß und absperrte.

Lieutenant Vincent D'Agosta, der ihr geöffnet hatte, nickte ihr kurz zu und ging dann zurück zu der Personengruppe, die sich um den Tisch herum versammelt hatte. D'Agosta trug denselben Anzug, den er schon bei der Untersuchung der Museumsmorde vor eineinhalb Jahren angehabt hatte und dessen Braun der Farbe des Skeletts auf dem Labortisch nicht unähnlich war. Seit Margo ihn zuletzt gesehen hatte, schien der Lieutenant ein paar Kilo abgenommen zu haben.

Nachdem Margos Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hatten, besah sie sich die Anwesenden: links von D'Agosta stand ein nervös wirkender Mann in einem weißen Laborkittel, der in seiner fleischigen Hand eine Tasse Kaffee hielt. Neben ihm erkannte sie die große hagere Gestalt von Olivia Merriam, der neuen Direktorin des Museums. Weiter hinten in der Dunkelheit befand sich noch eine Gestalt, deren Gesicht Margo aber nicht erkennen konnte.

Die Direktorin wandte sich mit einem matten Lächeln an Margo. »Danke, daß Sie gekommen sind, Dr. Green.

Der Lieutenant hier« – damit deutete sie in Richtung auf D'Agosta – »hat darum gebeten, daß Sie zu dieser Untersuchung hinzugezogen werden.«

Danach sagte niemand etwas, bis D'Agosta gereizt meinte: »Wir können jetzt nicht mehr länger auf ihn warten. Er wohnt irgendwo weit draußen in Mendham, und als ich ihn gestern abend anrief, hatte er keine allzu große Lust, in die Stadt herein zu fahren.« D'Agosta blickte in die Runde der Anwesenden.

»Sie haben heute morgenja sicher die Post gelesen.«

»Ich lese solche Blätter grundsätzlich nicht!« protestierte die Direktorin.

»Dann werde ich kurz noch einmal zusammenfassen, worum es hier geht«, sagte D'Agosta und deutete auf das Skelett. »Darf ich vorstellen: Pamela Wisher, die Tochter von Anette und dem verstorbenen Horace Wisher. Bestimmt haben Sie in den letz ten Wochen ihr Bild gesehen. Es hing überall in der Stadt. Pamela verschwand am 23. Mai um drei Uhr früh, nachdem sie den Abend im Whine Cellar verbracht hatte, einer Kellerdisco in der Nähe des Central Park South. Sie verließ die Tanzfläche, um ein Telefonat zu machen, und seitdem wurde sie nicht wieder gesehen. Bis gestern, genauer gesagt, als wir sie aus dem Humboldt Kill fischten.

Offenbar hat sie der Wolkenbruch vor ein paar Tagen aus dem Entwässerungssystem der Upper West Side gespült«

Margo blickte hinüber zu den Knochen auf dem Tisch. Sie hatte in ihrem Leben zwar schon unzählige Skelette gesehen, aber nie eines von einem Menschen, dessen Namen sie gekannt hatte. Es war schwer zu glauben, daß dieses grausige Knochengerüst einmal die hübsche blonde Frau gewesen sein sollte, von der sie noch vor ein paar Minuten in der Zeitung gelesen hatte.

»Und zusammen mit den sterblichen Überresten von Pamela Wisher haben wir das hier gefunden.« D'Agosta nickte in Richtung auf die blaue Plastikfolie. »Die Presse weiß bisher nur, daß es noch ein zweites Skelett gibt – Gott sei Dank.« Er blickte hinüber zu der Gestalt im Schatten. »Alles weitere soll Ihnen Dr. Simon Brambell, der Oberste Gerichtsmediziner der Stadt New York, erzählen.«

Als Brambell ins Licht trat, sah Margo einen schlanken glatzköpfigen Mann von ungefähr fünfundsechzig Jahren. Er musterte sie wie alle anderen auch mit dunklen Augen, die durch die Gläser seiner altmodischen Hornbrille noch kleiner wirkten, als sie ohnehin schon waren. Sein längliches Gesicht ließ keinerlei Gefühlsregung erkennen.

Brambell legte einen Finger an seine Oberlippe. »Treten Sie doch bitte etwas heran«, sagte er mit einem weichen irischen Akzent, »dann sehen Sie besser, was ich Ihnen gern zeigen möchte.«

Nachdem die Anwesenden zögerlich der Aufforderung gefolgt waren, ergriff Dr. Brambell einen Zipfel der blauen Folie und zögerte noch einen Augenblick, wobei er wie unbeteiligt in die Runde blickte. Dann zog er die Folie mit einem entschlossenen Ruck weg.

Darunter kam ein weiteres, ebenfalls kopfloses Skelett zum Vorschein, dessen Knochen dieselbe braune Farbe aufwiesen wie die von Pamela Wisher. Schon auf den ersten Blick kam das Skelett Margo ziemlich seltsam vor, aber erst nach einer Weile wurde ihr der Grund bewußt, und sie hielt den Atem an: Die überdimensional verdickte n Beinknochen, die bizarren Verformungen der Gelenke – nichts war so, wie es sein sollte.

Was hatte das zu bedeuten?

Auf einmal klopfte es an der Tür.

»Na endlich«, knurrte D'Agosta und ging aufmachen. »Es wurde aber auch Zeit.«

Der Lieutenant öffnete die Tür, und Whitney Cadwalader Frock, der berühmte Evolutionsbiologe, kam in seinem Rollstuhl in den Raum gefahren. Ohne einen Blick auf die Versammelten zu verschwenden, rollte er direkt auf den Labortisch zu und betrachtete die beiden Leichen, wobei seine Blicke auf dem merkwürdig deformierten Skelett verharrten. Nach einer Weile wandte er sich ab und nickte D'Agosta und der Direktorin des Museums zu, wobei ihm eine Strähne seines buschigen weißen Haares auf die breite Stirn fiel. Als er Margo erblickte, huschte ein Ausdruck des Erstaunens über sein Gesicht, der sich aber gleich darauf in ein ehrlich erfreutes Lächeln verwandelte.

Margo lächelte zurück und nickte ihrem pensionierten Doktorvater zu, den sie seit seiner Abschiedsparty nicht mehr gesehen hatte. Dr. Frock hatte das Museum verlassen, um sich ganz seiner Forschung zu widmen und an der Fortsetzung seines berühmten Standardwerks »Die Fraktale Evolution« zu arbeiten, die aber bisher noch nicht erschienen war.

Dr. Brambell, der Frocks Erscheinen mit einem knappen Kopfnicken zur Kenntnis genommen hatte, fuhr nun fort. »Ich möchte Sie einladen«, sagte er freundlich, »sich die Kammbildung an den Langknochen sowie die Spikulabildung und die Osteophyten an der Wirbelsäule und den Gelenken anzusehen. Bemerkenswert sind auch die um zwanzig Grad verschobenen Trochanter am Hüftbein. Und dann beachten Sie bitte, daß die Rippen einen trapezoiden und nicht den üblichen prismatischen Querschnitt aufweisen. Schließlich möchte ich Ihre Aufmerksamkeit noch auf die enorme Verdickung der Oberschenkelknochen lenken. Alles in allem nicht gerade ein Adonis, finden Sie nicht auch? Und dabei habe ich Ihnen nur die auffälligsten Abweichungen gezeigt Den Rest können Sie ja selber sehen.«

D'Agosta atmete laut vernehmlich durch die Nase aus. »Und ob wir das können«, sagte er.

Frock räusperte sich. »Ich will zwar ohne eine genaue Untersuchung keine abschließende Meinung äußern, aber ich frage mich, ob Sie die Möglichkeiten in Betracht gezogen haben, daß wir es hier mit einem krassen Fall von DISH zu tun haben könnten.«

Der Leichenbeschauer musterte Frock, und zwar gründlicher als beim erstenmal. »Eine sehr intelligente Bemerkung«, sagte er, »aber leider absolut nicht zutreffend, Dr. Frock. Mein werter Kollege spricht von der Diffusen Idiopathischen Skelett-Hyperostose, einer besonders schweren Form degenerativer Arthritis, die hier aber keinesfalls in Betracht kommt«, Dr. Brambell hob abwehrend die Hand. »Auch Osteomalazie kann es nicht sein. Ein extrem schlimmer Fall von Skorbut wäre denkbar, aber so etwas kommt Ende des 20. Jahrhunderts eigentlich nicht mehr vor. Ich muß ganz offen sagen, daß ich vor einem Rätsel stehe, was den Zustand dieses Skeletts anbetrifft. Meine Mitarbeiter haben sämtliche medizinischen Datenbanken durchsucht und nichts gefunden, was auch nur annähernd als Erklärung dienen könnte.«

Brambell fuhr der Leiche mit seinen Fingern langsam und fast liebevoll an der Wirbelsäule entlang. »Ich möchte Ihnen nun ein paar ziemlich merkwürdige Spuren zeigen, die wir an beiden Skeletten gefunden haben. Dr. PadeIsky, würden Sie mir bitte das Mikroskop bringen?«

Der übergewichtige Mann im weißen Laborkittel verschwand nach hinten und rollte kurz darauf ein großes Stereomikroskop heran, dessen Objektive er direkt über dem Hals des deformierten Skelettes positionierte.

Nachdem er scharf gestellt hatte, trat er einen Schritt zurück.

Brambell winkte Dr. Frock heran. »Hätten Sie vielleicht die Güte, sich das bitte einmal anzusehen?«

Frock rollte herbei und richtete sich in seinem Rollstuhl so weit auf, daß er in die beiden Okulare blicken konnte. Mehrere Minuten verharrte er bewegungslos in dieser Position und starrte auf die skelettierte Leiche.

Als er sich schließlich wieder in seinen Rollstuhl sinken ließ und vom Mikroskop fortrollte, sagte er kein Wort.

»Dr. Green?« fragte Dr. Brambell und sah Margo an. Als sie an das Mikroskop trat, spürte sie, wie alle Augen auf sie gerichtet waren.

 

Sie mußte eine Weile hinsehen, bis sie erkannte, daß das Mikroskop auf einen Halswirbel eingestellt war. Der Knochen, an dem Fetzen von Knorpel- und Fettgewebe, Muskelfasern und eine undefinierbare bräunliche Masse hingen, wies an einer Seite mehrere flache, regelmäßige Einkerbungen auf.

Als Margo sich langsam aufrichtete, spürte sie, wie eine alte Angst plötzlich wieder Besitz von ihr ergriff. Am liebsten hätte sie sich geweigert, einen Schluß aus den Einkerbungen an dem Knorpel zu ziehen.

»Nun, was meinen Sie, Dr. Green?« fragte der Gerichtsmediziner mit hochgezogenen Augenbrauen.

Margo atmete tief ein. »Ich würde sagen, diese Einkerbungen sehen wie Bißspuren aus.«

Sie und Dr. Frock blickten sich an.

Jetzt wußte sie, warum man Frock zu dieser Zusammenkunft gerufen hatte, und ihr alter Professor wußte es auch.

Brambell wartete geduldig, bis auch alle anderen einen Blick durch das Mikroskop geworfen hatten. Dann rollte er es, ohne ein Wort zu sagen, hinüber zum Skelett von Pamela Wisher und richtete sein Objektiv auf eine Stelle an ihrem Becken. Wieder war Frock der erste, der hindurchsehen durfte, gefolgt von Margo und den anderen. Sie alle sahen dieselben Bißspuren wie an dem anderen Skelett, nur daß sie hier tiefer, zum Teil schon bis ins Knochenmark gedrungen waren.

»Lieutenant D'Agosta hat mir erklärt, daß die beiden Skelette aus der Stadtentwässerung gespült wurden«, sagte der Wissenschaftler und kniff in dem hellen Licht die Augen zusammen.

»Richtig«, bestätigte D'Agosta. »Vom Wolkenbruch letzte Woche.«

»Vielleicht wurden die beiden ja von Hunden angefressen, während sie in der Kanalisation lagen«, meinte Frock.

»Das wäre natürlich eine Möglichkeit«, entgegnete Brambell.

»Aber um diese Spuren zu hinterlassen, wäre ein Druck von etwa fünfundachtzig Kilopond pro Quadratzentimeter nötig. Das dürfte ein bißchen viel für einen Hund sein, finden Sie nicht?«

»Nicht für eine Dogge«, widersprach Frock.

Brambell legte den Kopf schief. »Oder für den Hund von Basketville.«

Der Sarkasmus des Gerichtsmediziners bewegte Frock zu einem Stirnrunzeln. Ach bin mir nicht sicher, ob für diese Bißmarken soviel Kraft von nöten war.«

»Wie wäre es denn mit einem Alligator?« mischte D'Agosta sich in die Auseinandersetzung der beiden Wissenschaftler ein.

Alle Augen wandten sich mit einemmal auf ihn.

»Na ja, Sie wissen doch, daß es in der Kanalisation Alligatoren gibt«, erläuterte D'Agosta »Die Leute kaufen sie als Jungtiere, und wenn sie ihnen zu groß werden, spülen sie sie das Klo hinunter.« Er blickte in die Runde. Jedenfalls habe ich das irgendwo gelesen.«

Brambell ließ ein ohrenbetäubendes Lachen hören. »Alligatoren, mein lieber D'Agosta, haben wie alle anderen Reptilien auch, konusförmige Zähne. Die Bißspuren, die wir gesehen haben, stammen aber von relativ kleinen, dreieckigen Zähnen, wie wir sie unter anderem bei hundeartigen Säugetieren finden.«

»Ach ja? Hundeartig? Vorhin hatten Sie doch noch Ihre Zweifel, daß es ein Hund gewesen sein könnte«, tönte Frock. »Denken Sie doch an das Gleichnis von Occams Rasiermesser: Die einfachste Erklärung ist meistens auch die zutreffende.«

Brambell warf Frock einen amüsierten Blick zu. »Ich weiß, daß Philosophen wie Occam in Ihrer Profession hochgeschätzt werden, Dr. Frock. Ich als Gerichtsmediziner halte es aber lieber mit Sherlock Holmes: Wenn man das Unmögliche eliminiert hat, dann muß das, was übrigbleibt, die Wahrheit sein, und wenn es auch noch so unwahrscheinlich ist.«

»Und was bleibt Ihrer Meinung nach in diesem Fall übrig, Dr. Brambelll?« fauchte Frock.

»Das kann ich Ihnen im Augenblick noch nicht sagen.«

Frock lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück. »Wie dem auch sei, das zweite Skelett ist wirklich interessant.

Möglicherweise ist es sogar die Fahrt von Mendham herein in die Stadt wert Trotzdem dürfen Sie nicht vergessen, daß ich im Ruhestand bin.«

Margo hörte ihm stirnrunzelnd zu. Eigentlich hätte den Professor ein Rätsel wie dieses bei weitem mehr faszinieren müssen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Frock sich vielleicht – genau wie sie selbst auch – an die Vorgänge vor achtzehn Monaten erinnerte und deshalb zögerte. Die Erinnerungen an diese schreckliche Zeit waren nämlich wahrlich nicht dazu angetan, einen harmonischen Ruhestand zu garantieren.

Olivia Merriam ergriff das Wort. »Dr. Frock«, sagte sie, »wir haben eigentlich gehofft, Sie würden uns bei der Untersuchung dieses Skeletts ein wenig unter die Arme greifen. Wegen der außergewöhnlichen Umstände habe ich mich entschlossen, sie hier in diesem Labor durchführen zu lassen. Wenn Sie dabei mithelfen wollen, würden wir Ihnen gerne ein Büro im fünften Stock und eine Sekretärin zur Verfügung stellen.«

Frock hob die Augenbrauen. »Aber das Gerichtsmedizinische Institut der Stadt New York hat doch sicher sehr viel modernere Einrichtungen als das Museum. Ganz zu schweigen von dem überragenden medizinischen Talent eines Dr. Brambell.«

»Mit dem überragenden Talent haben Sie sicher recht, Dr. Frock«, entgegnete Brambell. »Aber in Bezug auf die technischen Einrichtungen irren Sie sich leider gewaltig. Die Haushaltskürzungen der letzten beiden Jahre haben uns schwer getroffen. Darüber hinaus ist die Gerichtsmedizin im Augenblick kein passender Ort für derart delikate Untersuchungen. Zur Zeit wimmelt es dort nur so von Reportern und Fernsehteams.«

Brambell hielt einen Augenblick inne, bevor er mit einem gewinnenden Lächeln hinzufügte: »Vor allem aber fehlt dort eine Kapazität vom Kaliber eines Dr. Whimey Cadwalader Frock.«

»Danke für die Blumen«, brummte Frock und deutete auf das zweite Skelett. »Aber ist es denn wirklich so schwer, jemanden zu identifizieren, der, diesen Knochen nach zu schließen, wie das Missing Link ausgesehen haben muß?«

»Wir haben alles versucht, das können Sie uns glauben«, sagte Lieutenant D'Agosta. »In den vergangenen vierundzwanzig Stunden haben wir sämtliche Vermißtenakten in New York, New Jersey und Connecticut durchforstet und nichts gefunden. Wenn man danach geht, dann hat es so einen deformierten Burschen nie gegeben, geschweige denn einen, der verschwunden ist und in der Kanalisation angeknabbert wurde.«

Frock schien die Antwort auf seine Frage nicht zu hören, sondern blieb mit auf die Brust gesunkenem Kinn mehrere Minuten lang schweigend in seinem Rollstuhl sitzen. Bis auf ein gelegentliches ungeduldiges Zungenschnalzen von Dr. Bramhell herrschte in dem Labor Totenstille. Schließlich richtete Frock sich auf, seufzte tief und sagte mit einer Stimme, in der tiefe Resignation mitschwang: »Na schön. Ich werde Ihnen eine Woche lang zur Verfügung stehen, weil ich ohnehin in der Stadt einiges zu erledigen habe. Vermutlich wollen Sie, daß Dr. Green mich bei meiner Arbeit unterstützt, habe ich recht?«

Zu spät erkannte Margo, daß sie sich bisher noch keine Gedanken darüber gemacht hatte, weshalb sie zu dieser geheimen Zusammenkunft gebeten worden war. Jetzt wußte sie es. Und sie wußte auch, daß Frock ihr rückhaltlos vertraute. Schließlich hatten sie vor eineinhalb jahren gemeinsam das Geheimnis um die Museumskreatur gelüftet. Sie müssen gewußt haben, dachte sie, daß Frock nur mit mir und niemandem sonst zusammenarbeiten würde. »Moment mal«, platzte sie heraus. »Das kann ich unmöglich machen.«

Als alle Köpfe sich in ihre Richtung drehten, wurde Margo klar, daß sie einen schärferen Ton angeschlagen hatte als beabsichtigt. »Ich wollte sagen, daß ich im Augenblick überhaupt keine Zeit habe«, stammelte sie.

Frock sah sie verständnisvoll an. Mehr als alle anderen wußte er, daß dieser Auftrag in ihr angstvolle Erinnerungen wachrufen würde.

Olivia Merriams Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ich werde mit Dr. Hawthorne sprechen«, verkündete sie. »Er wird Sie so lange freistellen, wie die Polizei Ihre Dienste benötigt.«

Margo öffnete den Mund, um zu protestieren, aber dann schwieg sie doch. Sie wußte, daß sie noch nicht lange genug als Kuratorin für das Museum tätig war, um der Direktorin widersprechen zu dürfen.

»Wunderbar«, sagte Brambell mit einem trockenen Grinsen auf seinen dünnen Lippen. »Ich werde natürlich eng mit Ihnen beiden zusammenarbeiten. Bevor wir aber auseinandergehen, möchte ich noch einmal nachdrücklich daraufhinweisen, daß diese Angelegenheit äußerste Diskretion verlangt. Es ist schlimm genug, daß der Fund von Pamela Wishers Leiche in die Schlagzeilen gelangt ist. Wenn nun auch noch herauskommen sollte, daß jemand an unserem Society-Girl herumgenagt hat – egal, ob vor oder nach ihrem Tod, dann ...«

Brambell brachte den Satz nicht zu Ende und fuhr sich mit der Hand über seinen glänzenden Glatzkopf.

Frock warf dem Gerichtsmediziner einen scharfen Blick zu.

»Wollen Sie damit etwa andeuten, daß die Bißspuren Ihrer Meinung nach nicht post mortem erfolgt sind?«

»Das, verehrter Dr. Frock, ist eine der Fragen, deren Beantwortung den Herrn Bürgermeister wie auch den Polizeipräsidenten brennend interessiert.«

Als Frock daraufhin nichts sagte, war allen klar, daß die Besprechung zu Ende war. Alle Anwesenden schienen froh, endlich dem Anblick der beiden bräunlichen Skelette entkommen zu können. Beim Hinausgehen wandte sich die Museumsdirektorin an Margo und sagte: »Wenn ich Ihnen mit irgend etwas behilflich sein kann, lassen Sie es mich bitte wissen.«

Dr. Brambell warf Frock und Margo einen letzten kritischen Blick zu und verließ hinter der Direktorin das Labor.

Lieutenant D'Agosta ging als letzter. Auf der Türschwelle blieb er noch einmal stehen. »Und bewahren Sie absolutes Stillschweigen. Wenn Sie mit irgend jemandem über die Sache reden müssen, dann nur mit mir«, knurrte er und öffnete den Mund, als wolle er noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber doch anders.

Nachdem er sich mit einem kurzen Nicken verabschiedet hatte, drehte er sich um und verschwand. Als sich die Tür hinter ihm schloß, war Margo mit Dr. Frock, Pamela Wisher und dem grotesk deformierten Skelett allein.

Frock setzte sich in seinem Rollstuhl auf. »Bitte verschließen Sie die Tür, Margo«, sagte er, »und schalten Sie die restlichen Lichter ein.« Dann rollte er näher an den Tisch heran. »Am besten ziehen Sie sich Ihre Laborsachen an.«

Margo sah erst zu den beiden Skeletten und dann zu ihrem alten Doktorvater. »Dr. Frock?« fragte sie mit leiser Stimme.

»Erinnert Sie das nicht an ...«

Der Professor drehte sich ruckartig in ihre Richtung. Mit einem seltsamen Ausdruck in seinem rötlichen Gesicht sah er Margo direkt in die Augen. »Nein, Margo!« zischte Frock in scharfem Flüsterton und schüttelte den Kopf. »Sagen Sie nichts, bevor wir uns nicht vergewissert haben.«

Margo hielt seinem Blick eine Weile stand, dann nickte sie und ging hinüber zu den Lichtschaltern. Das, was zwischen ihr und Dr. Frock nicht zur Sprache gekommen war, beunruhigte sie noch mehr als die beiden grausigen Skelette.