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Louis Padelsky sah auf die Uhr und spürte plötzlich, wie sein Magen knurrte. Padelsky war Pathologe am Gerichtsmedizinischen Institut der Stadt New York und buchstäblich kurz vor dem Verhungern. Seit drei Tagen hatte er nichts anderes zu sich genommen als SlimCurve-Schlankheitsdrinks, und heute war der einzige Tag in der Woche, an dem er sich ein normales Mittagessen gönnen durfte. Popeye's Fried Chicken.

Padelskyfuhr sich mit der Hand über seinen dicken Bauch und kniff prüfend hinein, um festzustellen, ob er schon etwas abgenommen hatte. Ja, dachte er. Er war eindeutig dünner geworden.

Der Pathologe nahm einen Schluck aus seiner Tasse mit schwarzem Kaffee – es war die fünfte an diesem Vormittag – und blickte auf das Formular auf seinem Klemmbrett. Aha, endlich mal was Interessantes, dachte er. Nicht wieder einer von diesen unzähligen Erstochenen, Erschossenen oder Drogentoten, mit denen er es sonst immer zu tun hatte.

Die Türen am anderen Ende des Autopsiemumes flogen auf, und Sheila Rocco, eine derAssistentinnen, schob eine Rollbahre herein. Padelsky warf einen raschen Blick auf die Leiche, sah weg und gleich wieder hin.

Leiche war wohl das falsche Wort für das, was da vor ihm lag. Das braune Ding auf der Bahre war nicht viel mehr als ein Skelett an dem nur noch wenige Fetzen Gewebe hingen. Padelsky rümpfte die Nase.

Die Assistentin schob die Rollbahre unter die von der Decke hängenden Arbeitslampen und bückte sich, um den Schlauch am Ablaufstutzen der Bahre einzuhängen.

»Die Mühe können Sie sich sparen, Sheila«, meinte Padelsky.

Das einzig Flüssige in diesem Raum war der Kaffee in seiner Styroportasse. Er nahm sie, leerte sie mit einem langen Zug und warf sie in den Abfalleimer. Nachdem er die Zahlen auf dem am Skelett befestigten Zettel mit denen auf seinem Formular verglichen hatte, schrieb er seine Initialen in das dafür vorgesehene Kästchen und zog sich ein Paar grüne Latex-Handschuhe an. »Na, wen haben Sie mir denn da gebracht?« fragte er Sheila. »Den Neandertaler höchstpersönlich?«

Rocco grinste schief und richtete die Lampen auf das Skelett.

»Riecht so, als wäre er jahrhundertelang begraben gewesen«, fuhr Padelsky fort. »Und zwar in reiner Scheiße. He, vielleicht ist es ja gar kein Neandertaler, sondern König Schitt-anch-Amun aus dem alten Ägypten.«

Rocco verdrehte die Augen und wartete, bis Padelskys lautes Gelächter verklungen war. Dann drückte sie ihm sein Klemmbrett in die Hand, auf dem sie ein neues Formular befestigt hatte.

Padelskys Lippen bewegten sich, während er sich die Informationen über die Leiche durchlas. Schon bei den ersten Zeilen stutzte er. »Aus dem Humboldt Kill«, murmelte er leise. »Na großartig!« Er warf einen Blick auf den Handschuhspender an der Wand und überlegte kurz, ob er sich nicht ein zusätzliches Paar überziehen sollte, entschied sich dann aber dagegen.

»Hm. Enthauptet. Kopf wird immer noch vermißt ... keine Kleidung, aber ein Metallgürtel um die Hüften.«

Padelsky sah hinüber zu der Rollbahre und bemerkte, daß an der Seite ein durchsichtiger Plastikbeutel hing.

»Schauen wir uns doch mal den Gürtel an«, sagte er. Der Beutel enthielt ein dünnes goldenes Band mit einer aufwendig gearbeiteten Schnalle, die ein großer Topas zierte. Padelsky wußte, daß der Gürtel bereits im Labor untersucht worden war, und er wußte auch, daß er ihn trotzdem nicht aus der Verpackung nehmen durfte.

»Teures Stück«, erklärte Padelsky. »Scheint sich wohl eher um Frau Neandertaler zu handeln. Oder um einem prähistorischen Transvestiten.« Abermals brach er in schallendes Gelächter über seinen eigenen Witz aus.

Rocco runzelte die Stirn. »Meinen Sie nicht, wir sollten dem oder der Toten ein wenig mehr Respekt zollen, Doktor Padelsky?«

»Ja, natürlich«, murmelte Padelsky und hängte das Klemmbrett an einen Haken an der Wand. Dann brachte er das Mikrophon, das über der Rollbahre von der Decke hing, in die Höhe seines Mundes. »Wären Sie so freundlich und würden das Tonbandgerät einschalten, mein Engel?« fragte er zuckersüß.

Als das Band lief, nahm Padelskys Stimme einen knappen professionellen Ton an. »Hier spricht Doktor Louis Padelsky. Es ist der zweite August, die Zeit ist 11.55 Uhr am Vormittag. Meine Assistentin ist Sheila Rocco, und wir führen nun die Obduktion von« – er warf rasch einen Blick auf den an dem Skelett befestigten Zettel – »Leiche Nummer A-1430 durch. Vor uns liegt ein Torso ohne Kopf, der praktisch vollständig skelettiert ist Seine Länge beträgt – Sheila, würden Sie die Leiche bitte gerade hinlegen – einhundertzweiundvierzig Zentimeter. Zusammen mit dem noch fehlenden Kopf dürfte die Leiche etwa einhundertsiebenundsechzig bis einhundertsiebzig Zentimeter groß gewesen sein. Versuchen wir nun, das Geschlecht der Leiche zu bestimmen.

Ein breiter Beckenkamm deutet daraufhin, daß wir es mit einer Frau zu tun haben. Keine knöchernen Ausziehungen an den seitlichen Lendenwirbeln, sie war also nicht älter als vierzig Jahre. Schwer zu sagen, wie lange die Leiche im Wasser war. Die Knochen riechen stark nach ... äh ... Kanalisation, und ihre bräunlich-orange Farbe läßt darauf schließen, daß sie lange im Schlamm gelegen sind. Andererseits ist noch genügend Bindegewebe vorhanden, um das Skelett zusammenzuhalten, und an den medialen und lateralen Kondylen des Oberschenkelknochens sowie an Kreuzbein und Steißbein hängen noch Fetzen von Muskelgewebe. Mehr als genug, um eine Blutgruppenbestimmung und genetische Tests durchführen zu können. Schere, bitte!«

Sheila reichte ihm das Instrument, und Padelsky schnitt damit ein Stück Muskelgewebe ab und steckte es in einen kleinen Beutel. »Könnten Sie die Leiche bitte so drehen, daß das Becken seitlich zu liegen kommt, Sheila? Vielen Dank. Jetzt lassen Sie uns mal sehen ... Vom Kopf abgesehen, ist das Skelett auf den ersten Blick fast komplett Der zweite Halswirbel fehlt ebenfalls, die restlichen sind aber vorhanden.«

Nachdem Padelsky das Skelett beschrieben hatte, trat er vom Mikrophon zurück. »Die Knochenzange, bitte.«

Sheila Rocco gab ihm das kleine Instrument, und Padelsky kniff damit die Bänder zwischen Elle und Oberarm knochen durch.

»Den Knochenhautschaber, bitte«, sagte er. Er nahm das Instrument und hobelte damit eine Gewebeprobe von einem der Wirbel ab. Dann setzte er sich eine Schutzbrille aus Plastik auf.

»Säge, bitte.«

Sheila reichte ihm eine kleine, preßluftbetriebene Knochensäge. Padelsky schaltete sie ein und wartete einen Augenblick, bis sie die richtige Drehzahl erreicht hatte. Als sich das diamantbesetzte Sägeblatt durch die Knochen fraß, erzeugte es ein hohes, heulendes Geräusch, das Padelsky immer an einen wütenden Moskito erinnerte. Im Autopsieraum verbreitete sich ein nur schwer erträglicher Geruch von Knochenstaub, Kloake, verwestem Knochenmark und Tod.

Padelsky schnitt aus dem Oberarmknochen mehrere dünne Scheiben heraus, die er dann von Sheila in Plastikbeutel verpacken ließ. »Ich möchte, daß diese Proben unter dem optischen und dem Rasterelektronenmikroskop untersucht werden«, sagte Padelsky, während er von der Rollbahre zurücktrat, seine Handschuhe auszog und das Tonbandgerät ausschaltete.

Rocco schrieb seine Anweisungen mit einem dicken schwarzen Marker auf die Plastikbeutel. Kurz darauf klopfte es an der Tür.

Sheila öffnete und sprach mit jemandem, der draußen auf dem Gang stand.

»Sie haben den Gürtel identifiziert«, erklärte sie, als sie wieder hereinkam. »Er gehörte Pamela Wisher.«

»Ist das nicht diese junge Frau aus der besseren Gesellschaft, nach der seit Monaten gesucht wird?« fragte Padelsky, während er die Schutzbrille abnahm. »Puh!«

»Und außerdem haben wir noch ein zweites Skelett aus dem Humboldt Kill hereinbekommen.«

»Wie? Noch eines?« fragte Padelsky, der sich bereits die Hände wusch. »Wieso haben sie es denn nicht zusammen mit dem ersten hereingebracht, verdammt noch mal? Dann hätte ich beide in einem Aufwasch untersuchen können.« Padelsky sah auf die Uhr. Es war schon Viertel nach eins. Mist. Jetzt würde es mindestens drei Uhr werden, bevor er etwas in den Magen bekam. Er fühlte sich schon ganz flau vor Hunger.

Die Türen flogen auf, und ein zweites Skelett wurde neben das erste geschoben. Padelsky ging hinüber zu seinem Tisch und goß sich noch eine Tasse Kaffee ein, während Sheila alles für die neue Obduktion herrichtete.

»Wieder kein Kopf«, sagte Sheila.

»Machen Sie keine Witze«, entgegnete Padelsky. Er nahm seinen Kaffee und trat an das Skelett heran. Mit der Tasse an den Lippen starrte er ungläubig auf die Rollbahre.

»Was, zum Teufel, ist denn das?« Erstellte die Tasse ab und zog sich ein frisches Paar Latex-Handschuhe an.

Dann beugte er sich über das Skelett und fuhr mit dem Finger über eine der Rippen.

»Was ist?« wollte Sheila wissen.

Padelsky richtete sich auf und steeckte sich. »Decken Sie es ab, und rufen Sie Dr. Brambell. Und sagen Sie niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen über« – er deutete mit dem Kinn in Richtung des Skeletts – »über das da.«

Sheila zögerte und starrte mit weit geöffneten Augen auf die Rollbahre.

»Tun Sie, was ich sage, Schätzchen. Und zwar sofort.«