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Vor dem Eingang zum Whine Cellar, einem jener schicken Kellerclubs, die in den letzten jahren überall in Manhattan wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, hatten sich viele tausend Demonstranten versammelt. Smithback stand mit dem Rücken an die Jugendstilfassade des Hampshire House gelehnt und betrachtete die Menge, die rechts und links von dem Gebäude bis hin zu den alten Ginkgo-Bäumen reichte, hinter denen sich der Eingang zum Central Park befand. Viele der Menschen hatten in stillem Andenken die Köpfe gesenkt, während andere – meist jüngere Männer, die ihre Krawatten gelockert und die Ärmel ihrer weißen Hemden hochgekrempelt hatten – aus in braunen Papiertüten versteckten Flaschen Bier und andere alkoholische Getränke zu sich nahmen. Ganz in Smithbacks Nähe hielt ein Mädchen eine Papptafel hoch, auf die mit großen Lettern PAMELA, WIR VERGESSEN DICH NIE gepinselt war. In der anderen Hand hielt das Mädchen, dessen Wangen naß von Tränen waren, die Extraausgabe der Post. Während die Demonstranten vor dem Hampshire House schweigend ihre Gedenkminute abhielten, mischten sich am Rand der Versammlung die Rufe der Marschierer und das Hupen erboster Autofahrer mit dem Gekrächz aus Polizeimegaphonen und dem Heulen von Sirenen.
Mrs. Wisher, die direkt neben Smithback stand, stellte eine brennende Kerze vor das an der Hauswand angebrachte Porträt ihrer Tochter. Dann kniete sie nieder und sprach ein kurzes Gebet, während eine kühle Abendbrise das kleine Flämmchen zum Flackern brachte. Als Mrs. Wisher schließlich wieder aufstand und hinüber zu den unzähligen Blumengebinden trat, die vor dem Gebäude auf dem Gehsteig lagen, stellten Freunde der Verstorbenen weitere Kerzen vor das Porträt. Mrs. Wisher blieb schweigend ein paar Minuten stehen, bis sie schließlich einen letzten Blick auf das nun von einem Ring von Kerzen umgebene Foto warf. Einen Augenblick lang kam es Smithback so vor, als würde sie ein wenig schwanken, aber als er zu ihr trat und ihren Arm nahm, sah sie ihn mit einem so erstaunten Blick an, als wäre sie in Gedanken gerade ganz woanders gewesen. Dann verschwand der abwesende Ausdruck aus ihrem Gesicht, und Mrs. Wisher ließ Smithbacks Arm los, um sich an die geduldig wartenden Demonstranten zu wenden.
»Danke, daß Sie meinen Schmerz mit mir teilen«, sagte sie mit klarer Stimme. »Hier an dieser Stelle sollten wir aber auch all der anderen Mütter gedenken, die wie ich ihre Kinder verloren haben. Sie haben sie verloren, weil sich das Verbrechen in dieser Stadt und in diesem Land ausgebreitet hat wie eine alles verschlingende Seuche. Das dürfen wir nicht mehr zulassen.«
Vor den Objektiven der Fernsehkamems, die sich inzwischen bis in die vorderste Reihe der Demonstranten vorgearbeitet hatten, hob Mrs. Wisher die Hand und rief: »Und jetzt auf nach Central Park West!«
Als sich die Menge wie von einer unsichtbaren Macht gelenkt in Bewegung setzte, blieb Smithback in Mrs. Wishers Nähe.
Obwohl einige der jüngeren Demonstranten sichtlich angetrunken waren, schien der Protestmarsch bis jetzt in relativ geordneten Bahnen zu verlaufen. Smithback hatte bei der Gedenkminute sogar das Gefühl gehabt, als wären sich die meisten Anwesenden der Würde des Augenblicks vollauf bewußt.
Als der Demonstrationszug die Seventh Avenue überquerte, sah der Journalist eine lange, mehrreihige Schlange von roten Rücklichtern. Das Heulen der Polizeisirenen war hier sehr viel deutlicher zu hören und schien aus allen Richtungen zu kommen. Im Weitergehen sah Smithback auf die Uhr. Es war halb zehn.
Genau diese Zeit hatte er in seinem Artikel für den Abmarsch nach Central Park West angegeben – es klappte also alles ganz hervorragend. Noch drei Stopps, und dann würden sie alle auf der großen Rasenfläche im Central Park die abschließende Mitternachts-Mahnwache abhalten.
Als der Demonstrationszug in einem weiten Bogen um den Columbus Circle herummarschierte, konnte Smithback einen Blick den Broadway entlang werfen. Hier hatte die Polizei offenbar mehr Zeit gehabt und Straßensperren errichtet, so daß die breite Straße bis hin zum Times Square seltsam leer und verlassen wirkte. Hinter der Absperrung standen auffallend wenige Polizisten und nur ein paar Streifenwagen. Smithback vermutete, daß die Beamten anderswo gebraucht wur den, um den Verkehr zu regeln und zu verhindern, daß der Demonstrationszug noch weiter anwuchs. Der Journalist nickte anerkennend mit dem Kopf. Mrs. Wisher hatte es wieder einmal geschafft, praktisch die gesamte Innenstadt von New York für ein paar Stunden lahmzulegen.
Jetzt konnte niemand mehr vor dem Anliegen dieser Frau die Augen verschließen, ebensowenig wie man seine Artikel zu dem Thema ignorieren konnte.
Smithback hatte sich bereits genau zurechtgelegt, was er in den nächsten Tagen schreiben wollte: Einem ausführlichen Insiderbericht über die Demonstration würde eine ganze Serie von Interviews mit Teilnehmern, Betroffenen und Behördenvertretern folgen, die er später alle mit in sein Buch aufnehmen wollte. Eine halbe Million Dollar an Tantiemen müßten eigentlich allein für die Hardcover-Ausgabe drin sein, plus noch mal das Doppelte für die Taschenbuchrechte, von den Übersetzungen in die verschiedenen Sprachen ganz zu schweigen ... Auf einmal hielt Smithback mit seinen Berechnungen inne, weil er ein merkwürdiges grollendes Geräusch hörte, das ein paar Sekunden später kurz aussetzte, um dann wieder anzuschwellen. Die Demonstranten hatten es offenbar auch gehört, denn ihr Rufen und Johlen war merklich leiser geworden. Und dann sah Smithback, wie sich mitten auf der leeren Fahrbahn des Broadway auf einmal ein Kanaldeckel in die Höhe hob. In einer dichten Nebelwolke kletterte hustend, niesend und spuckend ein dreckverschmierter, abgemagerter Mann heraus, den Smithback sofort als den Heckschützen wiedererkannte.
Dem Läufer von Mephisto folgten mehrere andere Männer, die ebenso mitgenommen aussahen wie er. Einer von ihnen blutete aus einer Wunde direkt über der rechten Schläfe.
»Was ist denn das?« fragte Mrs. Wisher, die neben Smithback stehengeblieben war und fassungslos die zerlumpten Gestalten anstarrte.
Noch bevor Smithback antworte n konnte, flog ganz in der Nähe der Demonstranten ein weiterer Kanaldeckel auf, und eine Reihe von laut hustenden Menschen kletterte an die Oberfläche. Sie waren so abgerissen und dreckverkrustet, daß Smithback nicht einmal feststellen konnte, ob es sich um Männer oder Frauen handelte.
Manche von ihnen hielten Eisenstücke und Knüppel in der Hand, und ein Mann mit einer schmutzigen Wollmütze auf dem Kopf fuchtelte mit einem Gegenstand herum, der aussah wie ein nagelneuer Polizei-Gummiknüppel. Die Demonstranten waren jetzt alle stehengeblieben und beobachteten das seltsame Schauspiel.
Smithback hörte, wie die älteren Teilnehmer des Protestmarsches beunruhigt etwas zu murmeln begannen, während die jüngeren sich über die aus dem Untergrund heraufgestiegenen Gestalten lustig machten und ihnen schon leicht angetrunken dumme Kommentare zuriefen. Auch aus den Aufgängen des U-Bahnhofs Columbus Circle quollen jetzt dichte Gasschwaden, und hustende Gestalten hastete n die Treppen herauf.
Rasch wurden es immer mehr, und bald stand den Demonstranten eine große Gruppe von Obdachlosen gegenüber, deren Stimmung angesichts der Provokationen von seiten der jüngeren Marschierer immer gereizter wurde.
Schließlich trat der Mann mit der Wollmütze vor die erste Reihe der Demonstranten, stieß einen unartikulierten, wütend wie frustriert klingenden Schrei aus und ließ seinen Gummiknüppel bedrohlich über seinem Kopf kreisen.
Die anderen Obdachlosen stimmten in sein Gebrüll mit ein und fuchtelten ebenfalls mit ihren improvisierten Waffen herum. Viele von ihnen bluteten aus offenen Wunden und sahen ganz so aus, als hätten sie bereits einen schweren Kampf hinter sich.
Wo kommen nur diese ganzen Penner her? fragte sich Smithback. Was ist denn da im Untergrund los? Einen Augenblick lang dachte er an das U-Bahn-Massaker, aber dann fielen ihm Mephistos Worte ein, die dieser ihm damals in der Dunkelheit tief unter Manhattan zugezischt hatte: »Wir können auch zu anderen Mitteln greifen, um unserem Anliegen Gehör zu verschaffen.«
Aber hoffentlich nicht jetzt, dachte Smithback. Jetzt ist absolut nicht der richtige Zeitpunkt für so was.
Der Abendwind wehte einen Fetzen der aus den Kanaldeckeln aufgestiegenen Wolke quer über den Broadway, und Smithback spürte ein Brennen in seinen Augen und sah, wie einige Demonstranten zu husten begannen. Der Nebel, den er zunächst für Wasserdampf gehalten hatte, war offenbar Tränengas. Aus der U-Bahnstation tauchte nun eine kleine Gruppe von Polizisten in verschmutzten Uniformen, Schutzhelmen und Gasmasken auf. Verdammt, da unten muß was passiert sein, dachte Smithback.
»Wo ist Mephisto?« schrie einer der Obdachlosen.
»Den haben diese Scheißbullen geschnappt«, antwortete ein anderer.
»Verdammte Wichser! Die prügeln ihn bestimmt windelweich!«
Die Maulwürfe wurden immer unruhiger.
»Wo kommt denn auf einmal der ganze Abschaum da her?« hörte Smithback einen der jungen Börsianer hinter sich fragen. »So spät am Abend kann man sich doch keine Sozialhilfe mehr ausbezahlen lassen.« Aus den Reihen der jüngeren De monstrante n waren ein paar vereinzelte Lacher zu hören.
»Mephisto!« begannen die Obdachlosen zu skandieren. »Wo ist Mephisto?«
»Die Dreckschweine wollen ihn umbringen!«
In die Demonstranten links von Smithback kam auf einmal Bewegung, als das große Gitter über einem U-Bahn-Notausstieg von unten angehoben wurde und noch mehr Maulwurfsmenschen an die Oberfläche drängten.
»Sie haben Mephisto umgebracht!« schrien ihnen die zuerst Angekommenen zu.
»Hört mal alle her!« rief der Mann mit dem Gummiknüppel, der immer noch ein paar Schritte vor den anderen stand, in die bedrohlich angewachsene Menge.
Er hob theatralisch die Arme und brüllte: »Diese Bullenschweine haben uns vergast!«
Die Maulwürfe antworteten mit wütendem Gebrüll.
»Sie haben unseren Anführer ermordet!«
Das Geschrei der Obdachlosen schwoll orkanartig an.
»Rache!« kreischte der Mann. »Macht kaputt, was euch kaputtmacht! Schlagt alles kurz und klein!«
Mit diesen Worten schleuderte er einen großen Stein ins Schaufenster einer Bankfiliale, das mit lautem Geklirr zerbarst.
Eine Alarmsirene heulte los, was aber sogleich im heiseren Triumphgeschrei der Obdachlosen unterging.
»He!« rief der junge Mann hinter Smitbback. »Habt ihr gesehen, was dieses Arschloch gerade gemacht hat?«
Die Obdachlosen fingen jetzt an, auch andere Schaufenster auf dem Broadway mit allen möglichen Geschossen zu bombardieren. Noch immer hielt der Zustrom von zerlumpten Gestalten an, die aus Kanalisationsschächten und U-Bahnausgängen auftauchten und sich sofort den anderen anschlossen. Bald waren der Broadway und Central Park West mit den Scherben eingeschlagener Schaufenster übersät.
Smithback zuckte zusammen, als er durch den Lärm und das weit entfernte Heulen von Polizeisirenen auf einmal die über Lautsprecher verstärkte Stimme von Mrs. Wisher vernahm.
»Sehr ihr das?« wandte sie sich direkt an die Demonstranten.
»Seht ihr diesen entfesselten Mob, der alles zerstört, was uns lieb und teuer ist?« Ihre von den umstehenden Gebäuden zurückgeworfene Stimme hallte bis in den stillen dunklen Park jenseits der Straße.
Rings um sie wurden wütende Schreie laut. Smithback sah, wie die älteren Demonstranten – Mrs. Wishers ursprüngliche Anhänger also, die offenbar eine Konfrontation mit den Obdachlosen scheuten – in großer Zahl den Rückweg zur Fifth Avenue oder nach Central Park West antraten. Ihren Platz nahmen die kampfbereiten jüngeren Teilnehmer des Protestmarsches ein.
Einige von den Fernsehteams, die sich um Mrs. Wisher geschart hatten, richteten ihre Kameras jetzt auf die Obdachlosen, die sich aus Müllcontainern ihre Wurfgeschosse holten und wild schreiend ihr Zerstörungswerk fortsetzten.
Mrs. Wisher winkte mit beiden Armen, als wolle sie ihre Truppen um sich scharen. »Wollt ihr das etwa tatenlos mit ansehen?« rief sie in ihr Mikrophon, »Wollt ihr ausgerechnet heute einer Horde von Asozialen erlauben, mutwillig eure Stadt in Schutt und Asche zu legen?« Anklagend schallte ihre Stimme über die Köpfe der Demonstranten hinweg, und Smithback konnte direkt spüren, wie sich rings um ihn eine geladene Spannung aufbaute. Selbst die Obdachlosen hielten inne und lauschten den von einem Dutzend Lautsprechern verstärkten Worten.
»Das lassen wir nicht zu!« tönte eine nicht mehr ganz nüchterne Stimme aus den Reihen der jüngeren Demonstranten.
Mit gemischten Gefühlen beobachtete Smithback, wie Mrs. Wisher ganz langsam ihren manikürten Zeigefinger hob und auf die Obdachlosen deutete. »Das sind die Menschen, die unsere Stadt zerstören!« Ein leichter Unterton von Hysterie schwang in ihrer sonst so ruhigen Stimme mit.
»Seht euch nur diese verdammten Penner an!« schrie ein junger Mann und drängte sich an der Spitze einer Gruppe von Gleichgesinnten nach vorne, bis er drei Meter vor dem Obdachlosen mit dem Gummiknüppel war.
»Such dir lieber einen Job!«
Die Maulwürfe starrten den jungen Mann bedrohlich an.
»Meinst du, ich arbeite mir den Arsch ab, damit du auf unsere Kosten Sozialhilfe kassieren kannst?« provozierte der Börsianer.
Aus den Reihen der Obdachlosen war ein wütendes Murren zu hören.
»Warum tust du nicht mal was für dein Vaterland, anstatt ihm ständig auf der Tasche zu liegen?« fuhr der junge Mann fort und spuckte vor dem Anführer der Maulwürfe aus. »Du dreckiger, verlauster Penner!«
Einige der Demonstranten taten durch laute Rufe ihre Zustimmung kund.
Einer der Obdachlosen trat vor und hielt dem jungen Mann den Stummel seines linken Armes entgegen; er war oberhalb des Ellenbogens amputiert. »Da, schau dir an, was ich meinem Land gegeben habe, du Muttersöhnchen!« kreischte er mit sich überschlagender Stimme. »Schon mal was von Chu Zai gehört?« Mit einem bedrohlichen Gegrummel aus vielen Kehlen begannen die Maulwürfe, sich langsam den Demonstranten zu nähern.
Smithback blickte hinüber zu Mrs. Wisher, deren Gesicht ihm wie eine harte kalte Maske vorkam. Mit einemmal wurde ihm klar, daß diese Frau die Obdachlosen wirklich für ihre Feinde hielt.
»Spiel dich nicht so auf, du dreckiger Schmarotzer!« schrie eine angetrunkene Stimme.
»Ich werde dir gleich einen Schmarotzer geben«, kam die wütende Antwort des Einarmigen.
»Ihr Kapitalistenschweine habt meinen Bruder auf dem Gewissen!« brüllte ein anderer Maulwurf, ein großer, magerer Kerl in einer zerrissenen Baseballjacke. »Verreckt ist er für euer Scheißvaterland auf dem Hügel von Phon Mak am 2. August 1969.« Mit diesen Worten streckte er dem angetrunkenen Demonstranten den Stinkefinger entgegen. »Du kannst dir dein Vaterland sonstwo hinstecken, du besoffener Yuppie-Wichser!«
»Die Schlitzaugen hätten dich gleich mit erledigen sollen, Niggerarsch!« schrie der Betrunkene zurück.
»Dann hätten wir einen Scheißhaufen weniger in der Stadt!«
Aus den Reihen der Maulwürfe kam in hohem Bogen eine Flasche herangeflogen, die den jungen Mann mitten am Kopf traf. Er taumelte ein paar Schritte zurück und brach mit einer stark blutenden Platzwunde an der Stirn zusammen.
Auf einmal schien sich die angestaute Spannung rings um Smithback mit einem Schlag zu entladen. Laut brüllend und mit erhobenen Fäusten rannten die jungen Männer auf die Obdachlosen zu, während von den älteren Mitmarschierern weit und breit keiner mehr zu sehen war. Smithback, der von der Menge mitgerissen wurde, drehte sich nach Mrs. Wisher um, aber auch die war mitsamt ihren Begleitern von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Ohne es zu wollen, wurde Smithback immer näher an die Obdachlosen herangedrängt. Er hörte wilde Schreie, lautes Geheul und das Geräusch von auf menschliches Fleisch herniedersausenden Holzknüppeln und Eisenstangen. Direkt vor ihm schlug ein Jungbanker einem Obdachlosen die Faust ins Gesicht. Smithback hörte noch, wie der Maulwurf vor Schmerz aufbrüllte, dann bekam er selbst einen heftigen Schlag in den Rücken verpaßt und wurde zu Boden geschleudert. Er fiel auf die Knie und mußte hilflos zusehen, wie sein Diktiergerät, das ihm aus der Tasche gefallen war, von den Kämpfenden ringsum in Sekundenschnelle zertreten wurde. Kaum hatte Smithback sich wieder hochgerappelt, mußte er sich auch schon wieder flach auf den Bauch werfen, um einem direkt auf seinen Kopf gezielten Betonbrocken auszuweichen.
Der Broadway rings um ihn herum hatte sich in ein wildes, brüllendes Chaos verwandelt.
Auch wenn Smithback nicht wußte, wer oder was die Obdachlosen in so großer Zahl an die Oberfläche getrieben hatte, war ihm doch eines klar: Hier prallten zwei von Scharfmachern aufgehetzte soziale Schichten aufeinander, die im anderen die Verkörperung des Bösen schlechthin sahen.
Als der Journalist wieder auf den Beinen war und von der hin und her wogenden Menge herumgestoßen wurde, dachte er an den Artikel, den er über die Demonstration hatte schreiben wollen. Wenn diese Straßenschlacht wirklich so groß war, wie er glaubte, dann war das derAufmacher für den nächsten Tag, aber um das beurteilen zu können, mußte Smithback erst einmal aus diesem Getümmel heraus und sich einen besseren Überblick verschaffen. Er hob den Kopf und suchte über der prügelnden Menge nach einem erhöhten Punkt, den er schließlich in der bronzenen Shakespearestatue am Eingang zum Park auch fand. Zielsicher begann Smithback, sich darauf hinzuarbeiten, als einer der Maulwürfe mit wild flackernden Augen auf ihn zustürzte und mit einer leeren Bierflasche auf ihn eindreschen wollte. Kurz entschlossen verpaßte Smithback ihm einen Magenschwinger, und erst als sein Gegner einen lauten Schmerzensschrei ausstieß, erkannte der Reporter, daß er gerade eine Frau geschlagen hatte. »Entschuldigung, Madam«, murmelte er und drängte weiter durch die Menge.
Er schlängelte sich an einer Gruppe laut brüllender junger Männer in zerfetzten Maßanzügen vorbei, rammte einem von ihnen den Ellenbogen in die Rippen und erreichte den Gehsteig von Central Park South, wo zerbrochenes Schaufensterglas unter seinen Füßen knirschte. Hier, am Rand des Getümmels, ging es nicht mehr ganz so brutal zu. Als Smithback die Statue erreichte, stieg er auf den Sockel und zog sich an Shakespeares bronzenen Beinen nach oben. Den ätzenden Taubendreck vermied er, so gut es ging. Dann kletterte er auf die breiten Schultern des großen Dichters.
Der Blick, der sich ihm von hier aus bot, war atemberaubend und beklemmend zugleich: Der Tumult hatte sich über mehrere Blocks vom Broadway und Central Park South ausgebreitet. Immer noch krabbelten neue Maulwürfe aus allen möglichen Notausstiegen des U-Bahnhofs Columbus Circle. Smithback hatte noch nie so viele Obdachlose auf einem Haufen gesehen, ganz zu schweigen von alkoholisierten Jungbankern.
Von seinem Beobachtungsposten aus konnte er jetzt auch die älteren Demonstrationsteilnehmer entdecken, die den eigentlichen Kern der Aktion »Säubert New York« ausmachten. Sie hatten sich geordnet in Richtung auf die Amsterdam Avenue abgesetzt, wo sie verzweifelt versuchten, Taxis zu finden, um dem Kampfgetümmel zu entfliehen. Die jüngeren Demonstranten und die Obdachlosen aber gingen noch immer mit Fäusten, Knüppeln, Eisenrohren und Wurfgeschossen aufeinander los. Überall hatten sich laut schreiende, ineinander verkeilte Gruppen gebildet, und immer wieder sah Smithback Leute am Boden liegen, die bewußtlos und möglicherweise sogar tot waren. Blut hatte sich mit Glasscherben und Müll gemischt.
Von außen bahnten sich jetzt vereinzelte Polizisten einen Weg durch das Getümmel, aber es waren bei weitem nicht genug, um die Kämpfenden voneinander zu trennen. Zudem verlagerten sich die Auseinandersetzungen langsam immer weiter in den Park hinein, wo sie in der Dunkelheit praktisch nicht mehr unter Kontrolle zu bringen waren. Wo steckt denn bloß die ganze Polizei? fragte sich Smithback verwundert. Einerseits war er entsetzt darüber, wie rasch die Situation eskaliert war, andererseits spürte er, wie eine merkwürdige Hochstimmung in ihm aufkeimte. Was würde das für eine gute Geschichte abgeben?
Von seinem Beobachtungsposten aus ließ er seinen Blick überall umherschweifen, um so viele Eindrücke wie nur irgend möglich aufzunehmen. Sein Kopf begann bereits, sich die Grundzüge eines Artikels zurechtzulegen.
Irgendwie kam es ihm so vor, als würden die Obdachlosen, trotz ihrer sehr viel schlechteren körperlichen Verfassung, bei dem Kampf langsam die Oberhand gewinnen. Unter wildem, wütendem Geschrei drängten sie immer mehr Demonstranten in den dunklen Central Park.
Weil in dem Kampfgetümmel bereits mehrere Kameras zu Bruch gegangen waren, hatten sich die Fernsehteams zu einer schützenden Phalanx zusammengerottet, aus der heraus sie im Licht mitgebrachter Videolampen ihre Aufnahmen machten.
Andere wiederum hatten sich mit langen Teleobjektiven auf den Dächern umliegender Häuser eingerichtet, um das Geschehen aus sicherer Entfernung zu dokumentieren.
Auf einmal sah Smithback mitten im Getümmel eine Abteilung uniformierter Polizisten, die zwei Männern in Zivil einen Weg durch die Menge bahnten. Einen von ihnen erkannte er als Captain Waxie, neben dem ein kleiner, verängstigt wirkender Mann mit einem Schnurrbart ging.
Was wollen die denn hier? fragte sich Smithback, während die Polizisten sich mit ihren Schlagstöcken eine Schneise durch die Kämpfenden freischlugen. Sein journalistischer Instinkt sagte ihm, daß hier etwas Merkwürdiges vorging. Die Polizisten taten nichts, um die Kämpfenden zu trennen, sondern strebten ganz eindeutig einem bestimmten Ziel zu. Als sie am Eingang zum Park freie Bahn hatten, schlugen sie eine so schnelle Gangart ein, daß der fette Waxie Mühe hatte, überhaupt mit ihnen mitzuhalten. Wo immer sie hinwollten, sie hatten es verdammt eilig.
Smithback überlegte sich, was es für die Polizei jetzt wohl Wichtigeres geben konnte, als die zu seinen Füßen tobende Staßenschlacht zu beenden.
Er blieb noch einen Augenblick auf Shakespeares kühlen Schultern sitzen und wußte nicht, was er tun sollte.
Dann aber fällte er eine Entscheidung. Er kletterte, so rasch er konnte, von der Statue herunter und rannte hinter den Polizisten her in den nächtlich dunklen Park.