1
Snow testete seinen Lungenautomaten, überprüfte die beiden Flaschenventile und ließ die Hände über das Neopren seines Taucheranzugs gleiten. Alles war in Ordnung, genau wie vor sechzig Sekunden, als er seine Ausrüstung das letztemal durchgecheckt hatte.
»Gleich sind wir da«, meinte der Sergeant und drosselte die Geschwindigkeit des Bootes.
»Super«, ließ sich die sarkastische Stimme von Fernandez durch das Röhren der starken Dieselmotoren vernehmen. »Ich kann's kaum erwarten.«
Nach Fernandez sagte niemand mehr ein Wort. Snow fiel auf, daß die Unterhaltung immer spärlicher wurde, je näher das Team dem Ziel seines Einsatzes kam.
Er warf einen Blick über die Schulter und sah, wie die Schraube des Bootes eine keilförmige Schaumspur im bräunlichen Wasser des Harlem River hinterließ, der an diesem warmen, dunstigen Augustmorgen breit und träge dahinfloß. Snow drehte den Kopf in Richtung Ufer und verzog das Gesicht, als ihn dabei das Gummimaterial seiner Kapuze am Hals kniff. Er sah hoch aufragende Wohngebäude ohne Fensterscheiben, geisterhafte Gerippe von Lagerhäusern und Fabriken und einen verlassenen Spielplatz. Nein, so ganz verlassen wohl doch nicht.
Ein einsames Kind schwang auf einer rostigen Schaukel hin und her.
»He, Herr Tauchlehrer«, wandte sich Fernandez an Snow.
»Hast du dir auch deine Traininigswindeln angezogen?«.
Snow zupfte an den Fingern seiner Handschuhe herum und würdigte Fernandez keiner Antwort.
»Das letztemal, als wir einen Frischling mit auf so einen Einsatz genommen haben, hat er sich vor lauter Angst in den Anzug geschissen«, fuhr Fernandez fort. »Mein Gott, war das eine Sauerei! Er mußte die ganze Heimfahrt über am Heck sitzen, so sehr hat er gestunken. Und das war vor Liberty Island, wo das Wasser im Vergleich mit der Kloake praktisch ein Kinderplanschbecken ist.«
»Das reicht, Fernandez«, wies ihn der Sergeant ohne viel Strenge zurecht.
Snow wandte den Blick nicht vom Ufer. Kurz nachdem er vom normalen Streifendienst bei der New Yorker Polizei zur Taucherabteilung versetzt worden war, hatte er einen Fehler gemacht und seinen neuen Kollegen erzählt, daß er in der Karibik in einer Schule für Sporttaucher als Tauchlehrer gearbeitet hatte. Erst danach hatte er erfahren, daß die meisten seiner Kollegen vor ihrem Job bei der Polizei Berufstaucher gewesen waren und entweder Kabel verlegt oder Schweißarbeiten an Pipelines und Ölplattformen durchgeführt hatten.
Für sie waren Tauchlehrer wie er verwöhnte, schlecht ausgebildete Weichlinge, die durchdrehten, sobald das Wasser mal nicht ganz klar und der Gewässerboden nicht makellos sauber war. Besonders Fernandez ließ ihn das immer wieder spüren.
Das Boot neigte sich nach Steuerbord, als es der Sergeant in einer scharfen Kurve näher ans Ufer heranbrachte. Mit stark gedrosselter Maschine ließ er es auf eine Reihe von direkt ans Wasser gebauten Häusern zutuckern. Auf einmal kam zwischen den kahlen nackten Betonmauern eine schmale, aus Ziegeln gemauerte Durchfahrt in Sicht. Geschickt steuerte der Sergeant das Boot hindurch in das Zwielicht dahinter. Sofort fiel Snow der unbeschreibliche Gestank auf, der aus dem von der Bootsschraube aufgewühlte n Wasser stieg.
Seine Augen fingen an zu tränen, und er mußte einen starken Hustenreiz unterdrücken. Fernandez, der ihn nicht aus den Augen ließ, kicherte zufrieden vor sich hin. Unter Fernandez' noch nicht ganz geschlossenem Taucheranzug konnte Snow ein T-Shirt mit dem inoffiziellen Motto der New Yorker Polizeitaucher sehen: WIR WÜHLEN FÜR SIE IN DER SCHEISSE. Stimmt, dachte Snow, und diesmal lag in der Scheiße ein großes Paket Heroin, das ein Dealer in der Na cht zuvor nach einem Feuergefecht mit der Polizei von der Humboldt Eisenbahnbrücke geworfen hatte.
Langsam schob sich das Boot mit den Tauchern einen schmalen, an beiden Seiten von hohen Betonmauern begrenzten Kanal entlang. Im Schatten der Eisenbahnbrücke wartete bereits ein weiteres Polizeiboot, das mit ausgeschaltetem Motor sanft auf den Wellen schaukelte. An Bord des Bootes standen zwei Männer: der Bootsführer und ein Typ mit merklich gelichteten Haaren, der einen schlechtsitzenden Polyesteranzug trug und eine Zigarre im Mund hatte. Der Mann zog sich die Hose hoch, spuckte in weitem Bogen ins Wasser und hob eine Hand zum Gruß.
Der Sergeant nickte in Richtung auf das andere Boot. »Seht mal, wer da drüben ist.«
»Lieutenant D'Agosta«, erwiderte einer der Taucher am Bug.
»Dann muß es ziemlich übel sein.«
»Es ist immer übel, wenn ein Polizist erschossen wird«, meinte der Sergeant Er schaltete den Motor aus und brachte das Boot längs an das andere heran. Lieutenant D'Agosta kam an Bord, um den Tauchern genauere Instruktionen zu geben, und Snow bemerkte, wie das Boot unter dem Gewicht des Mannes tiefer in den Fluß gedrückt wurde. Auf dem Rumpf des anderen Fahrzeugs, das dafür ein paar Zentimeter höher stieg, hinterließ das Wasser einen ölig-grünen Film.
»Guten Morgen«, sagte D'Agosta. Im Dämmerdunkel unterhalb der Brücke sah selbst der sonst so rotgesichtige Lieutenant noch wie ein bleicher Höhlenbewohner aus. »Wer hat hier das Kommando?«
»Ich, Sir«, erwiderte der Sergeant und befestigte einen Tiefenmesser an seinem Handgelenk. »Worum geht's?«
»Die Festnahme gestern war ein Debakel«, informierte ihn D'Agosta. »Dabei war der Bursche wohl nichts weiter als ein Bote. Als er aber bemerkte, daß ihm die Jungs vom Drogendezernat auf den Fersen waren, da hat er das Heroin von der Brücke da oben ins Wasser geworfen und wie wild um sich geballert. Einen Polizisten hat er erschossen, bevor er selbst eine Kugel abbekam. Täter tot, Fall geklärt. Jetzt müssen wir nur noch das Rauschgift finden, dann können wir die ganze Scheiße zu den Akten legen.«
»Und für so was hetzt ihr uns in diese Brühe da?« seufzte der Sergeant.
D'Agosta schüttelte den Kopf. »Sollen wir etwa Heroin im Wert von sechshundert Riesen da unten herumliegen lassen?«
Snow sah sich um. Hinter den düsteren Brückenbogen konnte er ausgebrannte Häuser sehen, deren rußgeschwärzte Fenster wie leere Augenhöhlen herab auf den toten Fluß blickten. Zu dumm, daß der Drogenbote das Heroin ausgerechnet in den Humboldt Kill werfen mußte, dachte Snow. Nicht umsonst wurde das stinkende Gewässer in Anlehnung an das Entwässerungssystem im alten Rom auch die cloam maxima genannt Im Lauf der Jahrhunderte hatten sich hier tonnenweise Fäkalien, tote Tiere und Giftstoffe abgelagert. Hoch über den Tauchern rumpelte klappernd und kreischend eine U-Bahn über die Brücke. Das Boot unter Snows Füßen begann zu schwanken, und das dickflüssige Wasser waberte wie Gelatine, die gerade fest zu werden beginnt.
»Okay, Männer«, sagte der Sergeant »Dann wollen wir mal hinein ins kühle Naß.«
Snow zog den Reißverschluß seines Anzugs hoch und unterdrückte seine Angst. Er wußte, daß er ein erstklassiger Taucher war. Schon als Jugendlicher hatte er zu Hause in Portsmouth mehrere Ertrinkende aus dem Picataqua River gerettet, und später, in der Karibik, hatte er Jagd auf Haie gemacht und in Tiefen über siebzig Metern Unterwasserarbeiten verrichtet.
Trotzdem war ihm beim Gedanken an den bevorstehenden Tauchgang alles andere als wohl in seiner Haut.
Obwohl Snow noch nie im Humboldt Kill getaucht war, hatte er von seinen Kollegen schon viel darüber gehört. Von all den ekelhaften Gewässern, von denen es in New York wahrlich mehr als genug gab, war er das widerwärtigste. Der Humboldt Kill war übler als der Arthur Kill und das Hell Gate und sogar noch schlimmer als der Gowanus Canal. Früher einmal war der Humboldt Kill ein Nebenfluß des Hudson gewesen, der am Sugar Hill in Harlem vorbei und quer durch Manhattan geflossen war. Jetzt aber, nachdem er verbaut, vernachlässigt und als Abwasserkanal mißbraucht worden war, hatte sich der Humboldt Kill in ein stehendes, unglaublich verdrecktes Gewässer verwandelt, in das man im Laufe mehrerer Jahrhunderte alle nur erdenklichen Abfalle gekippt hatte.
Snow nahm seine Preßluftflaschen von dem Gestell aus rostfreiem Stahl in der Mitte des Bootes, ging damit ans Heck und schnallte sie sich auf den Rücken. Noch immer hatte er sich nicht so richtig an den schweren Trockentaucheranzug gewöhnt, dessen dickes Material seine Beweglichkeit empfindlich beeinträchtigte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie der Sergeant auf ihn zukam. »Alles in Ordnung?« fragte er mit seiner tiefen, ruhigen Stimme.
»Ich glaube schon, Sir«, antwortete Snow. »Aber eine Frage hätte ich doch noch an Sie: Warum tragen wir heute eigentlich keine Stirnlampen?«
Der Sergeant sah ihn nur an und sagte nichts.
»Bei all den Häusern ringsum fällt doch kein Sonnenstrahl hier herunter«, meinte Snow. »Wenn wir im Wasser was sehen wollen, brauchen wir doch Lampen, oder nicht?«
Der Sergeant grinste. »Die können wir uns sparen. Sehen Sie, das Wasser der cloaca ist etwa vier Meter tief, aber darunter befinden sich noch mal drei bis fünf Meter Schlick. Sobald man ihn mit den Flossen aufwirbelt, kann man die Hand nicht mehr vor den Augen sehen. Aber der Schlick ist nicht das schlimmste, denn darunter kommen noch einmal zehn Meter breiiger, zäher Schlamm. In dem muß irgendwo das Heroin liegen. Dort unten sieht man nicht mit den Augen, sondern mit den Händen.«
Der Sergeant musterte Snow mit einem prüfenden Blick und zögerte einen Augenblick. »Hören Sie, Snow«, sagte er dann, »das hier ist etwas ganz anderes als unser Tauchtraining im Hudson. Ich habe Sie auf diesen Einsatz nur mitgenommen, weil Cooney und Schultz noch immer im Krankenhaus liegen.«
Snow nickte. Die beiden Taucher hatten sich eine Infektion mit Blastomykose eingefangen, als sie vor einer Woche im North River eine von Kugeln durchsiebte Leiche aus einem versunke nen Auto geholt hatten. Diese Pilzerkrankung, von den Tauchern kurz »Blasto« genannt, konnte sich auf die Lunge und andere Organe schlagen und war nur eine der vielen bizarren Krankheiten, mit denen die New Yorker Polizeitaucher sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen immer wieder herumschlagen mußten.
»Wenn Sie also lieber hier oben im Boot bleiben wollen, ist das schon okay«, fuhr der Sergeant fort. »Sie könnten mir mit den Sicherungsleinen helfen.«
Snow blickte hinüber zu den anderen Tauchern, die sich gerade ihre Bleigürtel umschnallten, die Reißverschlüsse ihrer Trockentaucheranzüge zuzogen und die Sicherungsleinen über die Bordwand hängten, und dachte an die goldene Regel für alle Taucherteams: Alle tauchen gemeinsam. Fernandez, der gerade seine Leine an einer Klampe festmachte, grinste provozierend zu ihm herüber.
»Ich tauche, Sir«, sagte Snow.
Der Sergeant sah ihm noch eine Weile ins Gesicht »Wenn Sie da unten im Schlamm sind, denken Sie an die Taucherregel Nummer eins: Ruhe bewahrenl Viele Taucher halten in solchen Situationen die Luft an. Tun Sie das nicht, denn das ist die sicherste Methode, um eine Embolie zu bekommen. Und blasen Sie Ihren Anzug nicht zu sehr auf, sonst bekommen Sie zuviel Auftrieb. Am wichtigsten aber ist, daß Sie niemals die Leine loslassen. Im Schlamm verliert man schnell die Orientierung und weiß dann nicht mehr, wo oben und unten ist. Wenn Sie die Leine verlieren, sind Sie womöglich die nächste Leiche, die wir aus dem Wasser fischen müssen.«
Der Sergeant deutete auf die Sicherungsleine, die dem Heck des Bootes am nächsten war. »Das ist die Ihre.«
Snow blieb stehen und versuchte, möglichst gleichmäßig zu atmen, während einer seiner Kollegen ihm die Haube seines Trockentaucheranzugs über den Kopf zog. Nachdem er seine Taucherbrille aufgesetzt und auf korrekten Sitz überprüft hatte, öffnete er die Ventile der Preßluftflaschen und ließ sich über die Seite des Bootes in den Fluß gleiten.
Selbst durch das dicke Material des Trockentaucheranzugs fühlte sich das Wasser seltsam zäh und sirupartig an. Es gurgelte nicht um seine Ohren und glitt ihm nicht durch die Finger wie normales Wasser, sondern setzte jeder Bewegung einen Widerstand entgegen wie dickflüssiges Motorenöl.
Mit der Hand am Sicherungsseil ließ sich Snow ein, zwei Meter nach unten sinken. Schon nach wenigen Zentimetern konnte er den Kiel des Bootes nicht mehr erkennen. Rings um ihn schwebten Myriaden von winzigen Partikeln im Wasser und schluckten das düster grünliche Licht. Seine eigene Hand, die unmittelbar vor der Taucherbrille das Sicherungsseil fest umklammert hielt, konnte Snow gerade noch sehen, aber schon die andere, mit der er sich durch das trübe Wasser tastete, war nur noch schemenhaft auszumachen. Obwohl er unter sich nichts als Dunkelheit wahrnahm, wußte er, daß ihn in sieben Metern Tiefe eine gänzlich andere Welt erwartete: die Welt des dicke n, alles umschließenden Schlamms.
Zum erstenmal in seiner Taucherkarriere erkannte Snow, wie sehr sein Sicherheitsgefühl von klarem Wasser und Sonnenlicht abhängig war. In der Karibik war das Wasser selbst in fünfzig Metern Tiefe noch durchsichtig gewesen, so daß ihm das Licht seiner Taschenlampe dort das Gefühl eines offenen Raumes vermittelt hatte.
Hier aber war alles anders, hier fühlte er sich durch die mangelnde Sicht richtiggehend eingesperrt. Vorsichtig ließ sich Snow weiter hinunter in die Dunkelheit sinken, wobei er angestrengt durch die trübe Brühe spähte.
Auf einmal tauchte er in eine dickflüssige Masse ein, deren Oberfläche von der Strömung in wellenförmige Bewegungen versetzt wurde. Das muß die Schlickschicht sein, dachte Snow, während sich sein Magen zusammenkrampfte. Der Sergeant hatte ihm gesagt, daß Taucher in diesen trüben Gewässern, wo es schwer war, Wirklichkeit und Einbildung auseinanderzuhalten, oft die sonderbarsten Dinge zu sehen glaubten.
Während Snow in die seltsam wabernde Masse hineinglitt, stieg rings um ihn eine dichte Wolke von Schwebeteilchen auf, die ihn vollkommen einhüllte und ihm auch die letzte Sicht raubte.
Einen Augenblick lang machte sich Panik in ihm breit, und er klammerte sich noch kräftiger an der Sicherungsleine fest.
Dann dachte er an Fernandez und sein hämisches Grinsen und ließ sich wieder ein Stick nach unten gleiten.
Jede Bewegung schickte dicke schwarze Schlickwolken vor seine Taucherbrille.
Snow bemerkte, daß er instinktiv die Luft anhielt, und zwang sich, lange, ruhige Atemzüge zu machen. Bloß nicht auf dem ersten Einsatz schon durchdrehen, dachte er. Dann hielt er einen Moment inne, bis sein Atem wieder normal und regelmäßig ging.
Danach ließ er sich langsam weiter nach unten sinken und versuchte, sich dabei so weit wie möglich zu entspannen. Zu seinem eigenen Erstaunen bemerkte er, daß es inzwischen keinen Unterschied mehr machte, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt. Ständig mußte er an die dicke Schlammschicht denken, der er sich unaufhaltsam näherte und in der, wie Insekten im Bernstein, die absonderlichsten Dinge eingeschlossen waren ...
Plötzlich hatte er das Gefühl, als würden seine Füße den Grund des Flusses berühren, doch so einen Boden hatte Snow noch nie in seinem Leben gespürt. Die Masse gab seltsam gummiartig unter seinem Gewicht nach und umschloß nach und nach seine Knöchel, seine Knie und schließlich seine Hüften, so daß er glaubte, in nassem Treibsand zu versinken. Auch als der Schlamm sich über seinem Kopf geschlossen hatte, sank Snow noch nach unten, wenn auch nicht mehr so schnell wie am Anfang. Er spürte, wie sich der Morast gegen das Neopren seines Taucheranzugs drückte, und hörte, wie sich die Luftblasen aus seinem Lungenautomaten mühevoll den Weg nach oben bahnten. Das Geräusch, das sonst leicht und perlend klang, war jetzt eher ein schmatzendes Blubbern. Je tiefer Snow sank, desto mehr Widerstand schien ihm der Schlamm entgegenzubringen. Wie weit, so fragte er sich, sollte er sich eigentlich in diese Scheiße hineinbegeben?
So, wie er es in seiner Ausbildung gelernt hatte, schwang er prüfend seine freie Hand durch den Morast, und manchmal bekam er auch etwas zu fassen. Wegen der dicken Handschuhe war es oft nicht leicht, die Gegenstände durch Tasten zu erkennen. Von Ästen über weggeworfene Kurbelwellen bis hin zu heimtückischen Drahtbündeln, in denen man sich heillos verheddern konnte, hatte sich hier in diesem Schlammgrab der Unrat vieler Generationen angesammelt.
Drei Meter noch, sagte sich Snow, dann würde er wieder nach oben steigen. Und wehe, dieser Bastard Fernandez wagte es danach noch einmal, ihn so unverschämt anzugrinsen.
Als Snow gerade kehrtmachen wollte, berührte sein hin und her pendelnder Arm einen festen Gegenstand. Er zog daran, und das Ding kam ganz langsam auf ihn zugedriftet. Snow schloß daraus, daß es sich dabei um etwas Größeres und Schwereres als nur einen alten Ast handeln mußte. Er klemmte die Sicherungsleine in seinen rechten Ellenbogen und befühlte das Ding mit beiden Händen. Was immer es auch sein mochte, das Bündel Heroin war es nicht. Also stieß er den Gegenstand wieder von sich und schlug mit den Flossen, um wieder aufzutauchen.
Die Strömung, die dadurch in den sirupzähen Schlamm kam, versetzte das Ding in plötzliche Bewegung.
Snow erschrak fürchterlich, als es gegen die Taucherbrille schlug und ihm fast das Mundstück des Lungenautomaten aus dem Mund riß.
Nachdem er wieder ruhiger geworden war, griff er nach dem Ding, um es aber erneut von sich zu stoßen. Es fühlte sich an wie ein Geflecht aus Zweigen. Vielleicht war es ja doch ein vor langer Zeit ins Wasser gestürzter Baum. Aber dann spürte Snow glatte Stellen, rundliche Knoten und nachgiebige Klumpen einer weichen Masse, die nicht so recht zu einem Baum passen wollten. Erst nach längerem Herumtasten wurde Snow bewußt, daß er Knochen in der Hand hielt. Und zwar nicht nur einen, sondern mehrere, die offenbar noch immer von Bändern und Sehnen zusammengehalten wurden. Zuerst kam Snow der Gedanke, daß es sich mit die halb skelettierten Überreste eines größeren Tieres handeln könnte, möglicherweise eines Pferdes, aber je länger er tastete, desto deutlicher erkannte er, daß er es mit der Leiche eines Menschen zu tun hatte.
Snow hielt inne und versuchte, seinen rasenden Atem in Zaum zu halten und einen klaren Kopf zu bewahren.
Sein Training wie sein gesunder Menschenverstand sagten ihm gleichermaßen, daß er den Leichnam nicht einfach hier unten lassen durfte. Er mußte ihn irgendwie nach oben bringen.
So gut es in dem zähen Schlamm ging, wand Snow seine Sicherungsleine um das Becken und die Oberschenkelknochen des Skelettes und hoffte, daß noch genügend Gewebe daran war, um es beim Aufstieg nicht auseinanderfallen zu lassen. In der Dunkelheit einen Knoten zu machen war alles andere als einfach, zumal man ihm diese Fertigkeit während seiner Ausbildung zum Polizeitaucher nicht beigebracht hatte.
Snow hatte zwar nicht das Heroin gefunden, dennoch hatte er bei seinem ersten Tauchgang Glück gehabt: Leichen waren immer spektakuläre Funde, die häufig zur Aufklärung eines bislang ungelösten Mordfalls führten. Snow freute sich schon darauf, was der blöde Muskelprotz Fernandez wohl für ein entgeistertes Gesicht machen würde, wenn das Skelett erst einmal oben war. Und das würde hoffentlich bald der Fall sein, denn Snow wollte nun so rasch wie möglich diesen widerlichen Schlamm verlassen.
Sein Atem ging jetzt in raschen kurzen Stößen. Snow bemühte sich gar nicht mehr, ihn unter Kontrolle zu bekommen. In seinem Anzug war ihm auf einmal bitter kalt, aber er hatte jetzt keine Zeit, mehr isolierende Luft hineinzublasen. Er mußte jetzt unbedingt diesen Knoten binden, doch das glatte Seil rutschte ihm immer wieder aus den Händen. Je verzweifelter er sich abmühte, das Ende der Leine zu einer Schlaufe zu formen, desto mehr mußte er an den meterdicken Schlamm über seinem Kopf, den wirbelnden Schlick und das ölige Wasser darüber denken, das kein Sonnenstrahl zu durchdringen vermochte ...
Erst nach mehreren Fehlversuchen gelang es Snow schließlich, den Knoten zu schlingen und das Seil zu spannen. Gott sei Dank, das war geschafft. Nun mußte er sich nur noch vergewissern, ob der Knoten auch wirklich hielt, und dann dreimal an der Leine ziehen zum Zeichen, daß er etwas gefunden hatte.
Dann würde er an der Leine nach oben schwimmen und den grauenvollen schwanen Schlamm hinter sich lassen. Wenn er dann erst einmal wieder festen Boden unter den Füßen hatte, würde er eine halbe Stunde lang duschen, sich besaufen und darüber nachdenken, ob er nicht doch lieber wieder Tauchlehrer werden sollte.
In einem Monat begann in der Karibik die Hochsaison.
Snow überprüfte das Seil und schlang es noch einmal um die Kochen des Skeletts. Er führte es dabei durch die Rippen und um die Wirbelsäule, damit sich der Zug gleichmäßiger verteilte und das Knochengerüst beim Hochholen nicht auseinanderbrach. Vielleicht sollte er den Kopf ja noch besonders befestigen, denn der war wichtig, wenn man ein eventuelles Mordopfer identifizieren wollte. Snow tastete sich mit den Händen an den Halswirbeln entlang nach oben und griff mit einemmal ins Leere. Die Leiche hatte keinen Kopf! Instinktiv zog Snow seine Hand zurück und merkte einen Augenblick später mit einem Anflug von Panik, daß er dabei auch die Sicherungsleine losgelassen hatte. Mit beiden Armen ruderte er im Schlamm herum, bis er auf etwas Solides stieß: das Skelett. Vor lauter Erleichterung hätte er es am liebsten umarmt Als er aber an den Knochen entlang nach dem Seil tastete, konnte er es nicht finden.
Wo war es? Hatte es sich von selbst vom Skelett gelöst? Aber das war unmöglich. Er hatte es doch festgebunden, hatte einen Knoten gemacht und ihn zweimal überprüft Er drehte das Skelett herum und tastete auf der anderen Seite nach dem Seil, als sich sein Luftschlauch in etwas verfing. Snow drehte den Kopf zur Seite, wußte plötzlich nicht mehr, wo er war, und spürte, wie ihm langsam die Taucherbrille vom Gesicht gedrückt wurde und etwas Warmes, Feuchtes an sein Gesicht drang. Auf einmal verklebte ihm zäher Schlamm die Augen und die Nase, und dann wurde Snow schlagartig klar, daß er sich in einer makabren Umarmung mit einem zweiten Skelett befand. Was danach kam, war nichts als blinde, hirnlose, kreischende Panik.
An Bord des Polizeibootes beobachtete Lieutenant D'Agosta ohne allzu große Anteilnahme, wie der neue Taucher aus dem Wasser gezogen wurde. Der Mann schlug wild um sich, während ihm schwarzer Schlamm aus dem Mund quoll und seine Schreie zu einem unverständlichen Gurgeln verstümmelten. Teils ockerfarbene, teils dunkelbraune Brühe tropfte von seinem Taucheranzug. Vermutlich hatte der arme Kerl da unten das Seil verloren und war dann in Panik geraten.
Er konnte von Glück sagen, daß er es doch noch irgendwie an die Oberfläche geschafft hatte. D'Agosta wartete, bis man den Taucher an Bord gehievt, seinen Anzug mit einem Schlauch abgespritzt und den hysterischen Mann wenigstens halbwegs beruhigt hatte. Schließlich hockte er sich ans Heck und erbrach sich ins Wasser. Wenigstens nicht ins Boot, dachte D'Agosta anerke nnend. Nach dem, was er der wirren Erzählung des hysterischen Mannes entnehmen konnte, hatte der im Schlamm offenbar ein, nein, zwei Skelette gefunden. Das war zwar nicht gerade das, wofür man ihn da hinuntergeschickt hatte, aber trotzdem nicht schlecht für seinen ersten Taucheinsatz. D'Agosta beschloß, dem armen Kerl eine Empfehlung zu schreiben.
Wenn ihm nichts von dem Morast, der ihm an Mund und Nase geklebt hatte, in die Lunge gekommen war, dann würde er vermutlich in ein paar Stunden wieder okay sein. Und wenn nicht... nun, mit ein paar Antibiotika konnte man heutzutage wahre Wunder vollbringen.
Als das erste Skelett aus dem schäumenden Wasser auftauchte, war es noch völlig mit Schlamm bedeckt. Ein auf der Seite schwimmender Taucher zog es herüber zu D'Agostas Boot, schlang ein Netz darum und kletterte an Bord. Dann hievte er das Netz vorsichtig aus dem Wasser und legte das schlammtriefende Knochengebilde wie einen grausigen Fang auf eine zu D'Agostas Füßen ausgebreitete Plane.
»Großer Gott, ihr hättet es wirklich vorher abspritzen können«, knurrte D'Agosta, als ihm der scharfe Geruch von Ammoniak in die Nase stieg. Sobald das Skelett aus dem Wasser war, fiel es in seinen Zuständigkeitsbereich, doch insgeheim wünschte D'Agosta sehnlichst, es wäre unten im Schlamm geblieben. Daß es keinen Kopf mehr hatte, hatte er nämlich schon auf den ersten Blick bemerkt.
»Soll ich es abspritzen, Sir?« fragte der Taucher und griff nach dem Schlauch.
»Machen Sie lieber zuerst sich selber sauber«, sagte D'Agosta und rümpfte die Nase. Der Taucher, dem ein gebrauchtes Kondom links am Kopf klebte, sah ebenso unappetitlich wie lächerlich aus. Dann erschienen zwei weitere Taucher neben dem Boot und kletterten an Bord, wo sie langsam an einem Seil zu ziehen begannen, während ein dritter Froschmann das zweite Skelett vorsichtig in Richtung Bordwand bugsierte. Als es neben dem anderen auf der Plane lag und alle sahen, daß es ebenfalls keinen Kopf mehr hatte, machte sich auf den beiden Booten eine betretene Stille breit. Auch das Päckchen Heroin hatten die Taucher gefunden und, verpackt in einen Beweismittelbeutel aus Gummi, aufs Deck des Polizeibootes gelegt. D'Agosta jedoch interessierte das Rauschgift nur noch am Rande.
Der Lieutenant zog nachdenklich an seiner Zigarre und ließ den Blick über das schmutzige Wasser des Humboldt Kill schweifen, bis er auf der Öffnung eines großen Abwasserrohrs innehielt. Ein paar bräunlich-weiße Stalaktiten ragten wie Zähne von der Decke des Rohres, dem Ende des riesigen Entwässerungssystems der Upper West Side. Wann immer es in Manhattan stark regnete und das Klärwerk am Lower Hudson mit den Wassermassen nicht mehr fertig wurde, rauschten durch dieses Rohr Hunderttausende von Litern ungeklärten Abwassers in den Humboldt Kill.
Kein Wunder, daß dieses Gewässer cloaca genannt wird, dachte D'Agosta und warf den Stummel seiner Zigarre ins Wasser. »Ich schätze, ihr müßt noch mal da runter, Leute«, sagte er zu den Tauchern. »Ich brauche die beiden Schädel.«